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Geschichte und Vergan­gen­heit

vorgängevorgänge 2601/1977Seite 42-48

aus: vorgänge Nr.26 (Heft 2/1977), S.42-48

„Vergan­gen­heit ist nicht objektiv da, sie lebt vom Gedächtnis der Leute. Nur was die Gegenwart von ihr weiß, ist vorhanden.” Von dieser These ausgehend zeigt die Histo­ri­kerin und Publizistin Christa Dericum, wie sehr Geschichte die Bemühung ist, die Gegenwart und gänzlich ungewisse Zukunft dadurch zu bewältigen, daß sie darunter ein Netz aus nützlichem und für gewiß gehaltenem Vergangenen knüpft. Vergan­gen­heit dient den einen zur Legiti­ma­tion ihrer Macht, den anderen zur Legiti­ma­tion ihres Kampfes um Befreiung.

„Nach Canossa gehen wir nicht“

I

Auf dem Höhepunkt des Kulturkampfes, im Mai 1872, knapp ein Jahr nach der Gründung des zweiten Kaiserreiches, sagte Otto von Bismarck vor dem Reichstag mit kräftigem Pathos: „Seien Sie außer Sorge: Nach Canossa gehen wir nicht, weder körperlich, noch geistig.”
Bismarck kannte die Wirkung solcher Rückgriffe in die Geschichte. Die begeisterte Zustimmung der Zuhörer und des deutschen Bürgertums, das sie vertraten, blieb nicht aus. Niemand wollte nach Canossa gehen. Die Empörung über die Ansprüche der römischen Kurie auf Unfehlbarkeit in Glaubenssachen wuchs mit der Erinnerung an die Auseinandersetzung zwischen Papsttum und Kaisertum über die Laieninvestitur im hohen Mittelalter. Damals hatte sich der Kaiser nach langem Widerstreben der Autorität des Papstes unterworfen. Für sein Imperium lehnte Bismarck dergleichen ab. Ein zweites Canossa sollte es nicht geben.

Ein falscher Vergleich

Bismarcks Geschichtsverständnis reichte nicht weiter als das der meisten seiner Zeitgenossen. Der Vergleich mit der Demütigung, die Kaiser Heinrich IV im Winter des Jahres 1077 auf sich genommen hatte, war falsch. Aber er lag nahe. Niemand hielt Bismarck entgegen, daß weder der Papst noch die deutschen Fürsten im Jahr 1872 vom Kaiser und seinem Kanzler einen Bußgang mit leiblicher Unterwerfung verlangten.
Das Unfehlbarkeitsdekret des Papstes war eine erfindungsreiche Waffe im Kampf um die Macht; doch längst schon hatte die Theorie von den zwei Schwertern, dem geistlichen und dem – von diesem abhängigen – weltlichen, keine Wirklichkeit mehr. Hieß es während des mittelalterlichen Investiturstreits von Papst Gregor VII, daß er überall mit dem geistlichen Schwert herumblitze, so konnte man von Pius IX nichts vergleichbar Kraftvolles sagen. Er hatte den Kirchenstaat verloren, weil er die Impulse der italienischen Einigungsbewegung verkannt hatte. Von Rom war ihm die Peterskirche mit dem Vatikan- und Lateranpalast geblieben. Seine Versuche, den Verlust der weltlichen Macht durch Erklärungen geistlicher Autorität auszugleichen, mußten kläglich erscheinen gemessen an den Aufklärungs- und Freiheitsidealen der Epoche.
Papst Pius IX brauchte das Unfehlbarkeitsdekret, um die vorher erlassene Enzyklika „Quante cura”, die sich gegen die freien Anschauungen über die Religion richtete, und den sogenannten „Syllabus errorum” – das Verzeichnis aller Irrlehren, mit der Forderung der unbedingten Unterordnung des Staates und der wissenschaftlichen Forschung unter die Autorität der katholischen Kirche – durchsetzen zu können. Das Unfehlbarkeitsdekret war ein äußerstes Aufgebot. Die Ohnmacht des Papsttums gegenüber den neuen staatlichen Gewalten dokumentierte sich.

Papst und Kaiser im Mittelalter

Niemals wäre es Gregor VII und den Päpsten des Mittelalters in den Sinn Papst und Kaiser gekommen, sich als Stellvertreter Christi auf Erden in Glaubenssachen eine Garantie gegen den Vorwurf der Fehlbarkeit zu geben. Gab es zuweilen zwei oder gar drei Päpste, die sich ihre Macht gegenseitig streitig machten, so hatte das vorwiegend politische Gründe. Bei Canossa, im 11. Jahrhundert, stand päpstliche Autorität als von Gott gegeben noch hoch im Kurs: der Kaiser wurde vom Papst gekrönt und bestätigt, das Christentum bestimmte mit seiner hierarchischen Ordnung auch das gesellschaftliche Gefüge des Abendlandes.
Wohl hatte der weltliche Machtanspruch der Päpste seit Karl dem Großen die Könige und Kaiser zu Gegenansprüchen gereizt. Die vielgepriesene Einheit des christlichen Abendlandes war in Wirklichkeit ein ständiges Gegeneinander im Miteinander. Sie bestand aus Spannungen und ungleichen Kräfteverhältnissen. Im Glauben aber war man sich einig: Papst, Kaiser, die Fürsten, das Volk. Daran änderten auch vorreformatorische Strömungen nichts.
Deshalb mußte Heinrich IV im Büßergewand vor Canossa erscheinen, nachdem er im Kampf um die weltliche Macht sich zu der für damalige Begriffe unerhörten Anmaßung hatte hinreißen lassen, den Papst für abgesetzt zu erklären. Wegen dieser Tat wurde er gebannt. Kein Kaiser des Mittelalters konnte es sich leisten, im Bann der Kirche Christi, die zu verteidigen er geschworen hatte, weiter zu regieren.

Bismarck und das päpstliche Unfehl­bar­keits­de­kret

Im Jahr 1872 sah die Situation für das protestantische Preußen, für das Deutsche Kaiserreich, für Bismarck und das deutsche Bürgertum gänzlich anders aus. Was von Bismarck und seinen Zuhörern an dem päpstlichen Unfehlbarkeitsdekret als Ungeheuerlichkeit empfunden wurde, war das Mißverhältnis zwischen dem historischen Anspruch und dem neuen nationalen Selbstbewußtsein mit Souveränitätsanspruch in allen Bereichen. Den Papst hätte Bismarcks Vergleich mit Canossa zutiefst befriedigen müssen, wäre er selbst in der Lage gewesen, den tiefsitzenden Komplex, die Unsicherheit zu beurteilen, die hinter Bismarcks Pathos stand. „Canossa” als Reaktion war mehr als das äußerste, das auch ein weniger abgewirtschaftetes Papsttum in dieser Lage hätte erwarten können.
Die scheinbare Wiederkehr einer historischen Konstellation, der Situation von Canossa, beeinträchtigte das omnipotente Hochgefühl des preußisch-deutschen Kaiserreiches offensichtlich ganz entscheidend. Natürlich war die Gleichzeitigkeit von Reichsgründung und Unfehlbarkeitserklärung nicht zufällig, wie der ganze darum entbrannte Streit sehr deutlich zeigt. Aber Bismarck verkannte mit seiner vehementen Abweisung einer Canossa-Unterwerfung die eigene Wirklichkeit genau so wie die Lage, in der Kaiser und Papst sich acht Jahrhunderte früher befunden hatten.
Woher kam das?

Geschichte als Stütze der Gegenwart

II

Wie so oft in der Politik spielte die Historie bei Bismarck dann eine Rolle, wenn vergleichbare Verhältnisse zu fortschrittlichen Erwägungen Anlaß boten. Die Idee, aus der Geschichte zu lernen, war schon vor dem 19. Jahrhundert tief eingewurzelt, lange bevor Jakob Burckhardt sie eindrücklich formulierte: „Wir wollen durch Erfahrung nicht sowohl klug (für ein andermal) als weise (für immer) werden.” Das „weise für immer” des Philosophen kam der historisierenden Epoche entgegen. Das 19. Jahrhundert hatte die Geschichte als Stütze der Gegenwart nicht entdeckt, aber es machte entschiedener davon Gebrauch als frühere Epochen.
Der englische Historiker J. P. Plumb hat neuerdings nachgewiesen, daß zu allen Zeiten und in allen Kulturen Vergangenheit jeweils manipuliert worden ist. Vergangenheit dient den Interessen der Gegenwart, lautet seine These. Das ist durchaus nicht negativ zu beurteilen, sondern als notwendige Folge der Hilflosigkeit des Menschen seinem Dasein gegenüber, das er in seinen Bedingungen, in die er hineingeboren wurde; weder ganz erfassen, noch seinen wünschen entsprechend formen kann. Das einzig Sichere im Leben der Menschen ist das, was sie aus der abgeschlossenen Vergangenheit als Wissen, als Vorbild, als „Lebensideal”, wie Johan Huizinga sagt, mitnehmen können. Die gänzlich ungewisse Zukunft erhält eine einigermaßen gewisse Vorstrukturierung nur durch Rückgriffe auf etwas, was in der Vergangenheit als gut, nützlich, gewiß, gegenwartsstiftend galt. Oder auf etwas, das so abstoßend war, daß es in Gegenwart und Zukunft nicht wieder vorkommen soll.
Vergangenheit ist die Summe all dessen, was geschehen, gemacht und gedacht worden ist. Aber sie ist nicht in toto gegenwärtig. Vieles ist verloren, zerstört, vergessen. Nur Spuren der Vergangenheit sind da, Reste, die interpretiert werden müssen, um verstanden zu werden. Vergangenheit ist nicht objektiv da, sie lebt im Gedächtnis der Leute. Nur was die Gegenwart von ihr weiß, ist vorhanden.

Geschichte als Inter­pre­ta­tion von Vergan­gen­heit

Vergangenheit ist nicht identisch mit Geschichte. Geschichte ist Bewußtwerdung von Vergangenheit. Johan Huizinga nannte es „die geistige Form, in der eine Kultur sich Rechenschaft über ihre Vergangenheit gibt”. Man könnte Geschichte auch als ins Gedächtnis zurückgerufene Vergangenheit bezeichnen. Da hat dann jeder seine eigene Geschichte, und was an Gemeinsamkeiten auftaucht, gelangte durch Interpretationen in die Köpfe. Und Interpretationen der Vergangenheit bestimmen die Gegenwart.
Während die Geschichtswissenschaft nach immer präziseren Methoden zur Erforschung der Vergangenheit suchte, machte sich schon im 19. Jahrhundert eine pragmatische Geschichtsauffassung breit. An der Idee des Fortschritts orientiert, wurde die Geschichte in Anspruch genommen, um an ihr das Besserwissen der Gegenwart, ihr Weisersein zu demonstrieren. Noch 1916 schrieb der ehemalige Reichskanzler Bülow eine „Deutsche Politik”, in der die Geschichte als Lehre für das politische Verhalten erscheint. Dabei wurde die historische Wirklichkeit im Sinne der jeweiligen Gegenwart gedeutet und eine zukunftsbeflissene Geschichte, statt einer vergangenheitsbezogenen Gegenwart, konstruiert.

Geschichte lebt vom Vergleich

Freilich ist, wie Edmund Burke angesichts der Französischen Revolution immer wieder darlegte, das Bedürfnis des Menschen, sich nach Vorbildern, ähnlichen Erscheinungen oder abschreckenden Beispielen in der Vergangenheit umzusehen, ein Grundmotiv menschlichen Verhaltens. Geschichte lebt vom Vergleich, und in der Unsicherheit seines Daseins ist der Mensch empfänglich für Vergleichbares. Bismarcks Canossa-Argument zeigt dies. Auch Fragen wie: Ist Bonn Weimar? War Hitler Karl dem Großen vergleich-bar? Ähnelte die Französische Revolution der protestantischen Reformation, der Mensch um 1900 dem des alten Rom? Glich die Konferenz von Helsinki dem Wiener Kongreß von 1814/15?
Solche Vergleiche sind üblich. Sie beruhen auf einer mehr oder weniger deutlichen Vorstellung zumindest eines der beiden Sachverhalte oder Menschen, einer der beiden Epochen. Sie etikettieren das jeweils andere mit der Assoziation vom einen. Alle Tradition beruht auf Vergleich. Unsere Erziehung ist geprägt davon. Da ist von „großen Deutschen” die Rede, von historischen Figuren, Helden, mythischen Taten. Aber auch von dem Onkel Egon, dem Verschwender, der dem heranwachsenden Knaben mahnend vorgehalten wird, er trete in dessen Fußstapfen. Oder von einer Ideologie des 19. Jahrhunderts, die vergleichsweise geschichtsträchtig für unsere Gegenwart wurde.

Geschichte als Legiti­ma­tion der Macht

J. H. Plumb beschreibt in seinem Buch Die Zukunft der Vergangenheit die Auffassung der Chinesen, die bis heute ihre Vergangenheit nicht historisch-distanziert betrachten, sondern nach ihrer sozialen Effektivität. Die Vergangenheit wird genutzt für die Gegenwart. Gesetze, Sittenvorschriften, die Legitimität der Herrschaft, Erziehungsprinzipien, Glaubenssätze wurden und werden aus der Vergangenheit abgeleitet. Das Gewicht früheren Daseins verleiht solchen Zeugnissen zwingende Autorität. Plumb schließt seine Beobachtung dieses Phänomens an verschiedenen Kulturen mit der Behauptung, Geschichte sei immer eine aufgestellte Ideologie mit einer Absicht, die darauf hinziele, das Individuum zu kontrollieren, Gesellschaften zu motivieren oder Klassen zu inspirieren. Konzepte von Vergangenheitsinterpretation ändern sich je nach den Bedürfnissen der Gegenwart.
Macht bedarf der Legitimation. Erfahrungsgemäß suchen sie die jeweils Herrschenden in drei Bereichen: in der Religion oder Ideologie, die auf Vergangenheit gründen; in der
P h i 1 o s o p h i e, die ihre Weisheit aus Erfahrungen der Vergangenheit zieht; in der
G e s c h i c h t e, mit deren Hilfe gegenwärtige Ansprüche aus der Vergangenheit abgeleitet werden. Gemeinsam ist allen diesen Anstrengungen die Auffassung, die schon von den meisten Völkern der alten Welt überliefert ist, daß die Vergangenheit der einzige Beweis für das Fortleben in der Zukunft ist. Ob die Geschichte als fortschreitender Prozeß oder als kreis-, ellipsen- oder andersförmige Bewegung aufgefaßt wird, ändert daran nichts. Solange Menschen leben, wird sie in Bewegung sein.

Geschichte – stets auf Gegenwart bezogen

III

„Geschichte” heißt die Summe der Bemühungen, Vergangenes zu verstehen. Oder, wie Waldemar Besson konzis sagt:

„Geschichte, verstanden als die ihr geschichtliches Gewordensein reflektierende Gegenwart, ist – notwendig relativ zu dieser – stets auf sie bezogen. Der Versuch, Maximen für das konkrete Handeln in dieser Gegenwart aus der Geschichte zu gewinnen, fällt daher in sich zusammen. Der Gegenstand der Geschichtswissenschaft ist nicht als ein unabhängig vom Betrachter existierendes ,Gegenüber` objektivierbar, sondern unterliegt der Verwandlung … Der Satz, daß die Geschichte immer wieder umgeschrieben werden müsse, bezeichnet den Sachverhalt, daß sich unser Verhältnis zur Vergangenheit in dem Maße ändert, wie sich die gegenwärtige Wirklichkeit und mit ihr unsere Interessen, Leidenschaften, Denkweisen und sozialen Verhaltensformen selber umformen.”

Waldemar Besson, der früh verstorbene Historiker der Neuzeit, war ungewöhnlich sensibel seinem eigenen Metier gegenüber. Die Gegenwart vermißt ihn, denn von ihm hätte sie eine brauchbare Geschichtstheorie er-warten können, die die Hegelsche „List der Vernunft” zwischen Ideologie, angeblicher Objektivität und angeblicher geschichtlicher Wahrheit aufspürt. Die Relativität des Denkens als Grundbedingung für Geschichte schien Besson unabweisbar.
Die verschiedenen neueren Ansätze der Geschichtswissenschaft reflektieren dies auch. So die Auffassung, daß die Geschichtswissenschaft niemals das Leben einer Epoche ganz reproduzieren könne. Immer gibt Geschichte Ausschnitte aus der Fülle vergangener Wirklichkeiten, das heißt, sie bewahrt nur das vor dem Vergessenwerden, was in irgendeiner Weise der Gegenwart als wissenswert erscheint. „Geschichte ist daher die sich ihres Werdens bewußtwerdende Gegenwart.”

Kein „wertfreies“ histo­ri­sches Urteil

Es gibt keine objektive Geschichte, die der Historiker bloß auf zuarbei- Kein „wertfreies” ten habe. Geschichte ist jeweils relatives Wissen, ist Interpretation. Auch bei peinlich genauer Quellenkritik und Beachtung aller bekannten Faktoren läßt sich kein authentisches Bild der Vergangenheit herstellen. Niemals kann der Historiker „wertfrei” urteilen, niemals feststellen „wie es gewesen ist”, wie Leopold von Ranke im 19. Jahrhundert noch glaubte. Kein Mensch kann von seinen gegenwärtigen Bedingungen, von seinen gegenwärtigen Interessen und damit von seinen jeweiligen Interpretationsmöglichkeiten abstrahieren. Das Subjekt, als handelndes Subjekt der Gegenwart, verleibt sich das geschichtliche Objekt ein und verwandelt es, ob es will oder nicht.
Die Auseinandersetzungen über den Bismarckschen Machtstaat bestätigen dies. Historiker vor allem waren es, die aus der Geschichte das monarchische Prinzip, den Caesarismus und die preußische Hegemonie ableiteten, Die Ideen von 1848 ließen sich mit Hilfe des historischen Reichsbegriffes abwerten. Vergleiche mit früheren plebiszitären Bewegungen führten die Gefahren der Bürgerkriege und Unruhen vor Augen. Die mit akribischem Eifer verbreiteten Vergleiche mit Zeiten der Einheit, mit Königs- und Kaiserherrschaft über alles, was „deutsch” schien, standen gegen Partikularismus, Förderalismus und demokratische Ansätze.
Immer schon war der geschichtliche Vergleich ein Element der Politik. Er wird eingesetzt, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen, um das allgemeine Denken auf logische Schlüsse hinzuführen, die ohne diesen Vergleich nicht möglich gewesen wären. Die Allgemeinheit kann die Beweisführung des Historikers nicht nachprüfen, sie wird die Analogie als richtig akzeptieren. Deshalb nehmen totalitäre Staaten ihre Historiker an die dogmatische Leine. Deshalb haben Historiker zu allen Zeiten eine so wichtige Rolle in den Staaten gespielt.

Gefährliche Mysti­fi­zie­rung der Vergan­gen­heit

IV

Der konservative Rebell Friedrich Nietzsche sprach von den „geschichtlichen Effekten an sich” und von Zeiten, die zwischen einer monumentalischen Vergangenheit und einer mythischen Fiktion gar nicht zu unterscheiden vermögen, weil aus der einen Welt genau dieselben Antriebe entnommen werden können wie aus der anderen. Hitlers historische Analogien hatten verheerende Wirkung. Die Nachkriegszeit ist voll von Monumentalisierungen, wie die hochaufgelegte Naziliteratur, Heldengeschichtsschreibung, Kriegsmemoiren und Erscheinungen wie die des Obersten Rudel zeigen. Das Bedürfnis der Gegenwart nach einer bestimmten Art von Vergangenheit scheint groß zu sein. Daß diese Vergangenheit schon selbst eine Mystifizierung von Vergangenheit brauchte, erschwert die Geschichte.
Auch die linke Bewegung lebt vom historischen Vergleich. Die Philosophie des dialektischen Materialismus ist eine historische Philosophie, entstanden im 19.Jahrhundert, das dem Historismus mehr als alle anderen auch aus politischen Gründen zugeneigt war. Hegels Auffassung von der „Wahrheit, die in der Macht liegt“, begründete die spätere deutsche Staatsrechtslehre und beeinflußt sie bis heute. Marx und Engels analysierten die Geschichte als die Geschichte von Klassenkämpfen. Klassenkampf ist heute zu einem politischen Programm geworden, losgelöst von seiner historischen Bedingheit.

Der historische Vergleich wird zur Ideologie

Wie auch immer angewandt, wird der historische Vergleich zu Ideologie.
Die Ideologie ist, wie der Vergleich selber, weder beweisbar, noch widerlegbar. Der Vergleich hält, wie Bismarck wohl wußte, das Denken in einem bestimmten Rahmen fest. Was herausfällt, gehört nicht zum Bild. Die Analogie, ursprünglich ein logisches Hilfsmittel zur Erhellung von Sachverhalten, gerinnt zur Metapher. Es entsteht Eindeutigkeit durch Etikettierung anstelle von erklärender Umschreibung des jeweiligen Zustanedes. Das Vorgehen erkannte schon der römishce Rethoriker Qintilan: „Zweifelhaftes auf etwas Ähnliches, das nicht in Frage steht, zu beziehen, um Ungewisses durch Gewisses zu beweisen.“
Verabsolutierung der Geschichte führt allemal dazu, Gewisses erzwingen zu wollen. Die Trennung von Vergangenheit und Geschichte mindert den Anspruch.Sie hält die Fraglichkeit offen. Historische Denkmäler sind keine Beweise.

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Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen, und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möcht wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seine Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.

Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen (IX), 1940.

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