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Für Gleich­be­rech­ti­gung von Kindheit an

vorgängevorgänge 2601/1977Seite 107-110

aus: vorgänge Nr.26 (Heft 2/1977), S.107-110

Ekkehard v, Braunmühl, Heinrich Kupffer, Helmut Ostermeyer: Die Gleichberechtigung des Kindes, Fischer-Taschenbuch Nr. 580, Frankfurt 1976, 192 S, DM 5,80.

„Männer, Frauen und Kinder sind gleichberechtigt”, so soll nach Meinung der drei Autoren des Buches „Die Gleichberechtigung des Kindes” der Art 3 des Grundgesetzes in Zukunft lauten. Dabei geht es ihnen in diesem Buche nicht nur und nicht in erster Linie um Gesetzesänderungen, sondern um eine neue Einstellung zu den Kindern und Jugendlichen, eine entpädagogisierte Einstellung. Darum reisen die drei seit Erscheinen des Buches durch die Lande, um in Referaten und Diskussionen zur „Beendigung des Erziehungskrieges zwischen den Generationen” aufzufordern und die Erfüllung der Menschenrechte für Kinder und Jugendliche voranzutreiben.
„Dieses Buch müßte eigentlich überflüssig sein”, heißt es im Vorwort; bisher ist es keineswegs überflüssig, im Gegenteil, es ist notwendig, und die Ausführungen Ostermeyer über Ökologie und Zukunft, die j a Zukunft unserer Kinder ist, machen es überdeutlich drängend. Die Ideen selbst sind so neu garnicht, werden aber konsequent in ihren Zusammenhängen und Auswirkungen durchdacht. Nochmal: „Dieses Buch müßte eigentlich überflüssig sein. Wir leben ja in einem freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat.” Dieser Satz ist ironisch gemeint, zumindest was die Kinder anbelangt. Sie „leben irgendwo anders; jedenfalls n i c h t in einem freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat”. Zwar heißt es allenthalben, es werde „zur Demokratie”, „zur Mündigkeit” etc. erzogen; aber wie geschieht das? Durch Bevormundung, dauernde Beaufsichtigung, Sanktionen, Kontrollen, Manipulationen, Repressionen usw. Man sagt, Kinder seien „von Natur aus” unvernünftig, verantwortungslos, unfertig, erziehungsbedürftig. Wir Erwachsene sind dann wohl vernünftig, verantwortungsbewußt, fertig und vorallem erziehungsberechtigt? Wir dürfen, j a wir müssen mit den Kindern alles mögliche machen, sie zu etwas machen! Kupffer prangert gerade dieses „zu” an: Erziehung „zur” Demokratie, „zur” Mündigkeit, „zur” Emanzipation. Unser „Besserwissen” über das, was die Kinder werden sollen und wie sie werden sollen und wodurch sie so werden sollen, erlaubt es uns, sie unentwegt zu gängeln, zu kontrollieren, zu erziehen; läßt uns vergessen, daß sie schon etwas sind: Menschen mit Menschenrechten, z.B. mit dem verbrieften Recht auf „freie Entfaltung der Persönlichkeit”. Wir wollen die Kinder „zur Selbstbestimmung” erziehen, indem wir ihnen gerade diese Selbstbestimmung vorenthalten, auf später verschieben. Alles, woraufhin wir. erziehen, wird auf später, „auf die lange Bank der Erziehung” geschoben; Kupffer nennt das das „teleologische” Prinzip der Pädagogik. Doch das eigentliche Ziel, „die Demokratie”, „die Mündigkeit”, wird nicht erreicht, weder jetzt noch später, kann nicht erreicht werden, wie Braunmühl im Kapitel „Abschied vom pädagogischen Denken” deutlich macht: „Die demokratische Staatsform ist sicher die menschenwürdigste und gerechteste, aber solange die Würde und das Recht des Kindes von pädagogisch denkenden Erwachsenen mißachtet werden, solange Kinder aller Schichten systematisch gedemütigt, verdummt und ihren Gefühlen entfremdet werden, darf man sich nicht wundern, zu welchen Schandtaten und Dummheiten verschiedenster Größenordnungen Erwachsene später – aktiv wie passiv! – fähig sind …” Braunmühl spricht vom „pädagogischen Todestrieb”, der den Kindern „nicht erlaubt zu leben”. Die Pädagogik, die – um es auf eine Kurzformel zu bringen – geprägt ist durch Auf- und Absicht, muß überwunden werden.
Geht es Braunmühl mehr um den „unmittelbaren” Umgang mit Kindern und die allgemeinen Grundlagen von Pädagogik und Antipädagogik, so befaßt sich Kupffer intensiver mit der „öffentlichen” Erziehung, den pädagogischen Institutionen Kindergarten, Schule, Heim. Kindergarten und besonders Vorschule ist gekennzeichnet durch „die Reglementierung des Kindes durch die Ordnung der Institution und die Prägung des kindlichen Lernwillens durch vorgelegte gesellschaftliche Anforderungen”. Für viele Kinder bedeutet der Kindergarten in erster Linie eine „Vorbereitungsanstalt für Schule und Beruf”. „Aus der Lernchance wird die Lernpflicht, aus der Mobilisierung von Kraft die Reglementierung durch Norm. Das Bürgerrecht auf Bildung degeneriert zu einer Bürgerpflicht zur Selbstverleugnung und zum fremdbestimmten Erfolgsstreben.” Und so gehts konsequent und verstärkt weiter in der Schule: Hier zählt nur noch Leistung und Erfolg (als einziger „Wert” – entgegen allen schönklingenden Lernzielkatalogen – und auf kosten der anderen); Anpassung und Durchstehen heißt die Devise. Die „freie Entfaltung der Persönlichkeit” wird dem „Zensurenfetischismus” geopfert; das System obsiegt: – Die Forderung nach Gleichberechtigung wäre im derzeitigen Schulsystem geradezu absurd. Wem sollten die Schüler gleichgestellt werden, etwa den Lehrern? Die haben ja selbst kaum Rechte, sondern sind „weisungsgebundene Untergebene in einem unfreien System”. Noch totaler ist die Entrechtung der Jugendlichen in Heimen: Anstatt daß dort Ich-Stärke gefördert wird, muß sich der Jugendliche an ausschließlich fremdbestimmten Zielen orientieren, wird ständig beaufsichtigt und darf jederzeit gestört werden. Aber wehe, er stört selbst den reibungslosen Ablauf der hierarchischen „Ordnung”. Alle diese Institutionen aber berufen sich auf das „Recht”, das selbst wieder von der „pädagogischen Einstellung” geprägt ist. – Die Vorstellung von der Erziehungsbedürftigkeit des Kindes führt kopsequent zur Erziehungsberechtigung des Erwachsenen und damit zur Entrechtung des Kindes. Im Verhältnis Recht/Erziehung lautet die Fragestellung: „Kinder müssen erzogen werden – wie muß dementsprechend das Recht beschaffen sein?” statt umgekehrt: „Kinder haben Rechte – wie müssen wir dementsprechend mit ihnen umgehen?”
Kinder haben gesetzlich verankerte Rechte von Anfang an: „Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit der Vollendung der Geburt” (Bürgerliches Gesetzbuch). Der Grundrechtskatalog gilt auch für Kinder. Sie sind nicht ausgenommen; sie werden aber ausgenommen, ausgenommen von unseren Juristen mit ihren faulen Tricks wie der „Grundrechtsmündigkeit”, mit der sie den jungen Menschen bis zur Volljährigkeit ihre Grundrechte vorenthalten. Ostermeyer nennt das „Verrat am Grundgesetz” und folgert: „Wollen wir mit unserem Recht Ernst machen, so müssen wir es dem Juristen aus den Händen reißen.” Mit scharfen Worten greift er seine Kollegen an und zeigt den Teufelskreis, der sich in den Bereichen Pädagogik, Juristerei, Politik und Wirtschaft dreht, auf :„In der Monopolisierung des Rechts bei den Juristen vollzieht sich im Recht, was sich in anderen Bereichen der Gesellschaft als Bevormundung des Menschen durch Pädagogen, als seine Entmündigung durch Technokraten und Funktionäre, die sich gern Mandatsträger nennen, und schließlich als seine Unterwerfung unter die Machtzwänge politischer und industrieller Apparate abspielt.“ Und: „Durch Erziehung gebrochene und verbogene Menschen sind die Objekte, die ein autoritäres System braucht, um bestehen zu können.”
Aber die Pädagogik hat sich auch ins Grundgesetz eingeschlichen: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern …” Hierbei war wohl den Schöpfern des Grundgesetzes selbst nicht wohl in ihrer Haut, denn nur bei diesem Artikel ist als Begründung von einem „natürlichen” Recht die Rede. Sind damit die anderen Grundrechte „unnatürlich”? Ostermeyer: Der Begründungszwang entsteht, weil es nur eine unsinnige Begründung gibt. Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde brauchen nicht begründet zu werden: Sie begründen sich selbst, sie überzeugen ohne Begründung. Das Erziehungsrecht braucht eine Begründung, weil es nicht überzeugen kann. Leider sind viel zuviele vom Erziehungsrecht überzeugt; seine schlimmste Auswirkung dürfte das sogenannte Züchtigungsrecht sein, das nirgends verboten; aber auch nirgends ausdrücklich erlaubt ist. Dieses „Gewohnheits“ -Unrecht „charakterisiert unsere Rechtsordnung, daß sie dem stärkeren Teil Hilfe gewährt, dem Schwächeren aber nicht”. In diesem Zusammenhang weist Ostermeyer darauf hin, daß bei uns nachwievor Recht mit Ordnung verwechselt werde, „und diese Ordnung ist die Herrschaftsordnung der bestehenden Verhältnisse”. – Von den Pädagogen werden die Kinder als Objekte betrachtet, von den Juristen als Sachen zur freien Verfügung ihrer „Eigentümer”. Auch die geplanten Neuformulierungen – „elterliche Sorge” statt „elterliche Gewalt” – helfen wenig, solange eben diese Gewalt weiter ausgeübt werden darf, j a vorgeschrieben wird, wie z.B. im Jugendstrafrecht, das in manchen Punkten eine stärkere Entrechtung mit sich bringt als das Erwachsenenstrafrecht. Die Strafe als „der Pädagogik letzter Schluß” und als „ihre bitterste Konsequenz” trifft gerade die, die von früh auf am meisten entrechtet und pädagogisiert wurden. Das „Modell” der Bewährungshilfe allerdings möchte Ostermeyer beibehalten und konsequent ausbauen. Total abgelehnt wird von ihm dagegen das Jugendschutzgesetz, das die Jugendlichen bevormundet und bevorschriftet, das vom „Glauben an die Geschlechtslosigkeit” geprägt ist und von „pädagogischen Vorurteilen trieft”.
Die Autoren des Buches sind darangegangen, Veränderungsvorschläge zu den wichtigsten die Kinder betreffenden Artikeln und Paragraphen zu bringen. Manchmal gehen sie dabei allerdings zu gutgläubig und unkritisch an die Sache, so wenn sie § 832 („Aufsichtspflicht”) und § 1627 (,‚Die Eltern haben die elterliche Gewalt in eigener Verantwortung“) unangetastet lassen und ebenso auch Art 6,1 GG: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung”; das ist Ordnungsrecht! Geschützt werden sollten doch Menschen und nicht Institutionen, diese nur, solange sie dem Wohl der anderen dienen! – Sehr begrüße ich den Vorschlag, daß anstelle von Heimen Einrichtungen wie „Wohngemeinschaften und sozialtherapeutische Jugendzentren” geschaffen werden sollen (Änderungsvorschlag zu § 66 Jugendhilfegesetz). Nicht einverstanden bin ich allerdings mit dem Satz: „Unterbringung in einer Einrichtung ist nur dann zulässig, wenn die Unterbringung in einer Familie nicht möglich ist” (§ 64). Man sollte mit der Erziehungsideologie auch die mit ihr zusammenhängende Familienideologie angreifen.
Die Änderung von Gesetzestexten allein bewirkt garnichts; das wissen die Autoren sehr genau. Ja Ostermeyer befürchtet, daß es „garkeinen Zweck (habe), Gesetze zu ändern, die Juristen sagen hinterher doch, es sei alles beim alten geblieben, wenn ihnen die Änderung nicht paßt”. Trotzdem handelt es sich um einen der „vielen möglichen Hebel” (Kupffer), an denen anzusetzen ist. Der wichtigere Hebel ist (und da dient die Änderung von Gesetzen als Rückendeckung), die Einstellung zu Kindern zu ändern, einen entpädagogisierten Umgangston zu finden, die Kinder „ohne Bedingung und Gegenleistung” zu akzeptieren. Braunmühl fordert ein (im Sinn der Demokratie) „politisches Familienleben”: die Bedürfnisse des Kindes werden zu einer „gemeinsamen Angelegenheit des Erwachsenen und des Kindes”; Ostermeyer ergänzt: „Der Wille des Kindes hat grundsätzlich gleichen Rang mit dem der Eltern, Gleichen Rang hat er nur, wenn er bei den eigenen Angelegenheiten des Kindes Vorrang hat. Denn selbstverständlich hat der Wille der Eltern Vorrang bei den Elternangelegenheiten. Gleichberechtigung bedeutet, daß der Wille jedes Familienmitglieds ausschlaggebend ist für seine Angelegenheiten.” – Braunmühl setzt an die Stelle von Absicht, Zielvorstellung, Pädagogik das „Prinzip”, daß die Betreuungspersonen „alle ihre Tätigkeiten als Vorschläge und Angebote verstehen”. Ihre Aufgabe bestehe zunächst darin, die Bedürfnisse der Kinder zu sehen. Das ist oft garnicht so einfach, und es bedarf eines „bestimmten Maßes an Vorwissen”, um den beiden Gefahren zu entgehen, „in ein Kind ein angebliches Bedürfnis hineinzusehen“ und „ein wirkliches Bedürfnis zu übersehen”. Und Kupffer faßt seine Forderungen, die pädagogischen Institutionen betreffend, zusammen: „Für die Vorschule geht es besonders darum, daß die soziale Schwäche des Kindes nicht für barbarischen Leistungsdruck ausgenutzt wird. Die Schule muß sich darauf besinnen, daß Freiheit und Entscheidung nicht von ‚sachlich‘ notwendigen Zwecken unterlaufen werden dürfen. In der Heimerziehung steht eine neue Form des Umgangs zwischen Menschen im Zentrum. In allen drei Institutionen kommt es darauf an, das Verhältnis zu Kindern zu entpädagogisieren.”
Ich wüßte niemand, dem ich dieses Buch nicht empfehlen könnte. Möge es bald überflüssig werden.

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