Brokdorf - ein Beispiel für die Unfähigkeit Reform
Aus: vorgänge Nr.26, (Heft 2/2977), S.8-9
Was sich am 19. Februar 1977 in Schleswig-Holstein abspielte, war Ausdruck einer Krise unseres politischen Systems. Wenn die etablierten Mächte, Regierungen und Parteien, wichtige Erfordernisse nicht mehr bewältigen, entsteht eine Opposition außerhalb des Parlaments. Der wachsende Widerstand, der seit Jahren gegen Atomkraftwerke durch die Bundesrepublik geht und sich zwei Monate vorher in Brokdorf zum Aufstand steigerte, ist mehr als die magische Urangst einiger Bauern vor moderner Technik; ist mehr als intellektuelle Spinnerei, wie allerhöchsten Orts in Bonn gesagt wird, ist mehr als eine zufällige Gelegenheit für die sogenannten K-Gruppen, Revolution zu üben.
Am Anfang aller Bürgerinitiativen stehen Enttäuschung und Mißtrauen. Enttäuschung über die arrogante Gedankenlosigkeit von Technokratie und Industrie, Mißtrauen gegen Regierungen und Parteien, die vorwiegend in Kosten und Zuwachsraten denken und die Folgen für Umwelt und Nachwelt erst ernstlich ins Auge fassen, wenn sie dazu gezwungen werden. Daher der Versuch zu erzwingen, was zu erwägen Pflicht der Regie-renden war.
Deren Reaktion zeigt, daß sie seit 1968, seit der Studentenrevolte, nicht viel hinzugelernt haben. Politiker wie Publizisten trennen zwischen Bürgern, die sich Sorgen machen, und Chaoten, die Sorgen schaffen wollen. Diese Unterscheidung ist auch richtig, viele Bürgergruppen distanzieren sich selbst mit Macht von den K-Gruppen. Trotzdem – dieses Muster ist zu bequem und zu oberflächlich. Zu bequem, weil es der Regierung erlaubt, sich gleichzeitig liberal und hart zu gebärden: Verständnis für die braven Kritiker und die gepanzerte Macht der gesamten Bundesrepublik gegen die Staatsfeinde. Zu oberflächlich ist dieses Schaustück wehrhafter Demokratie, weil es die Hauptfragen vergessen macht. Es sind alte Fragen, die von 1968.
Die erste Frage lautet: Wie kommt es denn, daß so viele Chaoten eine Gelegenheit bekamen, hier mitzumischen? Muß es nicht ein großer, ein allgemein erfaßbarer Mißstand sein, der Demokraten und Revolutionäre zu einer Aktion zusammenführte? Der sie soweit vermischte, daß es nur teilweise noch möglich ist, sie zu unterscheiden. Ich glaube, wir müssen festhalten: Den Beginn und die Ursache bildete der Mißstand, und den haben die Politiker zu verantworten.
Eine zweite Frage lautet: Wäre die atomare Sicherheit zu einem der herrschenden Themen der letzten Monate geworden, wenn nicht im November 1976 eine Schlacht in Brokdorf stattgefunden hätte und am 19. Februar eine zweite Schlacht drohte? Wen hätte es in Kiel oder Bonn oder sonst wo schon gekümmert, wenn nur ein paar tausend friedliche Demonstranten in Itzehoe vor nuklearen Gefahren hätten warnen wollen? Demonstriert wird viel – gegen § 218, gegen zu volle Schulklassen, gegen den Numerus clausus. Polizisten begleiten und beschützen solche Demonstrationen sogar, und nachher machen die Regierungen weiter wie vorher. Um Mißverständnisse zu vermeiden: Ich spreche hier nicht für die Gewalt. Im Gegenteil: Gewalt droht zu zerstören, was vernünftige Kritik aufbaut. Ich spreche aber gegen die anmaßende Gleichgültigkeit vieler Amtsinhaber, die überhaupt erst hinhören, wenn die Scheiben klirren.
Unser Problem liegt in der Unfähigkeit aller großen Parteien zur Reform. Brokdorf ist dafür nur ein Symptom. Strukturelle Arbeitslosigkeit, Gesundheitswesen, Bildungsmisere sind auch nur Beispiele für eine Krise, die keine Partei bewältigen kann, weil keine sich getraut, das System zu reformieren und die Ideologie vom ewigen Wachstum zu revidieren.
Wir geraten damit, in der Bundesrepublik, und noch mehr im übrigen Westeuropa, in einen ähnlichen Zustand wie der östliche Teil des Kontinents. Auch dort befindet sich das System in der Krise, auch dort scheitern Reformen an einer ldeologie, die kein Verantwortlicher zu revidieren wagt.
Die neueste Form des Protests im Osten gleicht in gewissem Maße sogar der des Westens: Engagierte Bürger schließen sich zusammen und schaffen ihren Forderungen interna-tionale Publizität.
Diese Entwicklung vollzieht sich stellenweise seit Jahren, sie weitete sich in den letzten Monaten auf fast alle Länder des Warschauer Pakts aus, sie steigerte sich in jüngster Zeit von einem Ostproblem zu einer Ost-West-Kontroverse, die in dieser Woche einen Höhepunkt erreichte.
Neu erscheint zunächst, daß sich drei kommunistische Staatsführungen äußerten, die sich bisher heraushielten: Die rumänische, deren Außenpolitik betont national, deren Innenpolitik aber nicht gerade liberal ist; ferner das Parteiorgan Ungarns, dessen Innenpolitik besonders liberal ist; schließlich Jugoslawien, das gar nicht zum Ostblock gehört und wo Bürgerrechtsfragen nur eine geringe Rolle spielen. Drei Staaten also, die sich dem Moskauer Standpunkt näherten, obwohl sie das gern vermieden hätten.
Am wichtigsten ist dabei Jugoslawien, das sich besonders deshalb der östlichen Kritik am Westen anschließt, weil es um das Zustandekommen der Belgrader Konferenz, also der KSZE-Nachfolge-Konferenz von Helsinki, fürchtet. Diese Sorge zeigt sich auch im sowjetisch bestimmten Osteuropa. Die Entspannungskräfte liegen dort vielerorts im harten Kampf mit den Konservativen, die Helsinki schon immer für eine Gefahr hielten und die sich nun durch die überall wuchernden Menschen- und Bürgerrechtsbewegungen bestätigt sehen. Bei diesen parteiinternen Auseinandersetzungen geht es um die Entspan-nung, und zwar in zweierlei Hinsicht: Einmal um die Entspannung im Inneren, im Umgang mit der Bevölkerung, mit kritischen Intellektuellen, mit Auswanderungswilligen; zum anderen um die Entspannung im Verhältnis zum Westen.
Beides hängt in gewissem Maße miteinander zusammen. Die Proteste im Osten werden erst durch Westmedien im Osten weit verbreitet, sie werden von der öffentlichen Meinung im Westen unter-stützt. Den zweiten Zusammenhang schaffen die Dogmatiker nach dem Uralt-Schema: Wenn im Sozialismus etwas nicht klappt, ist der Imperialismus schuld. Daß sich immer mehr Parteiführungen dieser Krücke bedienen, zeigt ihre Hilflosigkeit und gerade deshalb müssen wir es ernst nehmen.
Die wirtschaftlichen, politischen und auch militärischen Gründe, aus denen alle Ost-Staaten, mehr oder minder, die Entspannung brauchen, haben sich nicht geändert. Doch wenn es um die innere Sicherheit geht oder auch nur zu gehen scheint, verlieren diese Gründe an Gewicht. Die Lage in Osteuropa und die Gefahr für die Entspannung ist sehr viel ernster, als es nach außen hin den Eindruck hat.
Umso problematischer wird, was Präsident Carter tut. War ihm die kritische Situation im politischen Osten völlig bewußt, als er dem führenden sowjetischen Bürgerrechtler Sacharow einen persönlichen Brief schrieb und ihn seiner Unterstützung für die Menschenrechte versicherte?
Man muß Carters Beweggründe berücksichtigen.
1. Die Verhaftung von Ginsburg und Orlow, zwei bekannten Bürgerrechtlern, mußte auf den Moralisten Carter provozierend wirken.
2. Carters moralische Motive sind glaubwürdig, und mehr Moral täte der westlichen Politik wahrhaftig gut; Stichworte: Vietnam, Watergate, Chile, Griechenland usw.
3. Die Betonung der Menschenrechte gegenüber dem Kommunismus erlaubt dem Präsi-denten innenpolitisch, die Menschenrechte auch gegenüber rechten und rassistischen Diktaturen zur Geltung zu bringen Beispiele Südamerika und Südafrika.
4. Carter wendet die Moral auch auf sein eigenes Land an: Er versucht, die Reste des kalten Kriegs in Amerika zu beseitigen und räumt SALT 2, also der Begrenzung der Atomkriegsgefahr, absoluten Vorrang in seiner Ost-Politik ein.
Daß all dies genügt, die östlichen Ängste zu beheben, kann man derzeit nur hoffen. Sicher erscheint aber: Was Washington sich leisten kann, können wir uns nicht leisten. Die Rolle der Westeuropäer, besonders Bonns, ist vielmehr, die Lage im Osten zu verstehen, und das heißt nicht rechtfertigen, sondern verständlich machen. Man stelle sich das Ganze nur spiegelverkehrt vor: Die Demonstration in Itzehoe hätte nicht nur einige DKP-Mitläufer, sondern hätte ihre geistige Grundlage und offenen politischen Rückhalt bei Honeckers SED – die Ängste hier wären ebenso hysterisch wie drüben; und unsere Parteien sprächen nicht von Entspannung, sondern von Abgrenzung.