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Geschichte und Geschichts­un­ter­richt

vorgängevorgänge 2601/1977Seite 33-41

Der Kampf um die Erinnerung

aus: vorgänge Nr.26 (Heft2/1977), S.33-41

Für einen Geschichts­un­ter­richt, der, statt einsinnige historische Kontinuität erscheinen zu lassen und sich damit gegen die Zukunft zu sperren, der Idee des Forts­chritts in der Tradition der Aufklärung verpflichtet ist, plädiert der Gießener Geschichts­di­dak­tiker Klaus Bergmann. Den Kampf um die Erinnerung zu gewinnen, muß die bekannte Geschichte gleichsam immer neu gegen den Strich gebürstet werden.

Kants Prinzip der Erziehungskunst

I.

Vor nunmehr genau zweihundert Jahren forderte Immanuel Kant als „Prinzip der Erziehungskunst”: „Kinder sollen nicht nur dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglichen besseren Zustande des menschlichen Geschlechts, das ist: der Idee der Menschheit und deren ganzen Bestimmung angemessen erzogen werden.” Er bemerkte zugleich zwei Hindernisse, die Eltern und die Fürsten: „1. Die Eltern nämlich sorgen gemeiniglich nur dafür, daß ihre Kinder gut in der Weltfortkommen, und 2. die Fürsten betrachten ihre Untertanen nur wie ihre Instrumente zu ihren Absichten.”

Die „Rahmen­richt­li­nien”: Geist der Aufklärung

Kant ahnte noch nichts von privaten Elternvereinen, wirtschaftlichen Interessengruppen und politischen Parteien, die sich derzeit als sprach-und medienmächtige Organisationen daran interessiert zeigen, die Aufklärung vergessen zu machen, zu beenden oder für abgeschlossen zu erklären, die zu ihrer eigenen Geschichte gehört. Die Kampagne gegen die Rahmenrichtlinien war ein Lehrstück. Wohl erstmalig in der Erziehungsgeschichte hatte eine Regierung – gewählter Nachfahre ungewählter Fürsten – den bemerkenswerten, ja unerhörten Versuch unternommen, den Unterricht so zu konzipieren, daß „ein zukünftiger besserer Zustand dadurch hervorgebracht werde” (Kant). Im Rückgriff auf die Aufklärung setzte sie Selbst- und Mitbestimmung, Emanzipation – unerledigte Versprechen des frühen Bürgertums – als Ziele der Erziehung ein. Auch der Geschichtsunterricht sollte nicht mehr den bestehenden Zuständen seine Weihen geben; er sollte sich vielmehr als wirklich historischer Unterricht ausweisen, über die Gegenwart hinausgreifend, Zukunft in der Vergangenheit entdeckend – die Ermutigungen des Bürgerpräsidenten Gustav Heinemann, Geschichte auch anders zu denken, aufgreifend.

Gegenreform

Eine sprachgewaltige Gegenreform setzte alle, aber auch alle Mittel ein, um die Verwirklichung einer aufklärerischen Erziehungskunst zu verhindern und die Erinnerung an bessere Einsichten zu tilgen. In dieser Atmosphäre von Feindseligkeit, Angst und Demagogie hat sich ein eigentümliches Geschichtsbewußtsein offenbart. Es hat seinen Ausdruck gefunden in dem Spruch „Trau keinem über 130”, der vor der Bundestagswahl 1972 in der Anzeige einer socit anonyme über ein Porträt von Karl Marx gesetzt worden ist, aber auch auf Kant und andere „Ideologen” oder „linke Systemveränderer” der Vergangenheit beziehbar ist. Er sollte ernstgenommen werden. Der Sinn von Unternehmern für Scherz, Satire, Ironie ist beschränkt auf die tiefere Bedeutung, die allemal sehr ernst ist. Geschichte kann demnach vergessen werden; Geschichte soll vergessen werden, sofern sie bestandsgefährdend sein könnte. Historisches Nachdenken ist unerwünscht: es könnte Geschichte als das schlechte Gewissen des Bürgertums freilegen.

Entgeschichtlichung

„Die listigste Rache an besseren Zielen ist die, daß man sie als erreicht ausgibt” (Bloch): Das Bürgertum, das die politische Macht errungen hat, vergißt und verdrängt seine ursprünglichen, humanitär und humanistisch angelegten Intentionen der Weltveränderung, oder: gibt sie als erreicht aus. Geschichtliches Denken schrumpft seinen Denkbereich auf die Vor-Geschichte einer Gegenwart ein, die als elementar entwicklungslos vorgestellt und unterstellt wird. Entgeschichtlichung, wie sie sich hier als Phänomen der späten bürgerlichen Gesellschaft ausdrückt, ist von Bertolt Brecht mit der lapidaren Kurzformel erklärt worden: „Der Angelangte vergißt viel”: das Bürgertum, das – ebenfalls nach Brecht – einen langen Weg hinter sich hat, aber keinen langen Weg mehr vor sich sieht, allenfalls den oder jenen Ausweg, verdrängt seine und jede zukunftsträchtige Vergangenheit, vor allem auch gewichtige Teile seiner eigenen Vergangenheit, in der mehr beabsichtigt und versprochen war als die Verwirklichung bloßer Teilinteressen. Es traut keinem über 130. Denn wer das überdenkt, was in Geschichte – vor allem in historischen Denkansätzen und Realisierungsansätzen – antizipiert und aufgeschatzt ist, erfährt Geschichte auch als bestandskritisches und bestandsgefährdendes Denken und Wissen. Die Bewältigung der als alternativelos gedachten Gegenwart bedarf aber nicht der weitgespannten Erinnerung an Anderes, an Gegenvorstellungen der ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Organisation, an die zugesagte Teilhabe aller an historischen Erarbeitungen; sie tendiert vielmehr zur Aussperrung der Geschichte aus dem Bewußtsein. Das Denken ist einer Gegenwart verhaftet, die zur Zukunft wie zur Vergangenheit hin gleichermaßen perspektivelos ist. Prägnant nach Marx: „Somit hat es eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine mehr.” Die Geschichte verendet in der Gegenwart.

Unhis­to­ri­sche Gegenwart und Abschaffung der Zukunft

II.

Die im Streit um den Geschichtsunterricht kenntlich gewordene „interessierte Blockade einer historischen Reflexion” (Heydorn/Koneffke) beruht auf der Vorstellung einer Geschichte, die als die einzig mögliche Geschichte ausgegeben wird. Es ist eine Geschichte, deren Bezugspunkt die gedanklich stillgestellte, unhistorische Gegenwart ist. Sie ist die Vor-Geschichte der Gegenwart, als habe die Vergangenheit ihren aparten Zweck in der Gegenwart. Geschichte wird damit zu einem einsinnigen Prozeß zurechtgestutzt; der Bürge für ihre Wahrheit ist der historische Erfolg. Was historisch nur gedacht und gefordert wurde, nur versucht wurde und scheiterte, ist dann durch den realhistorischen Prozeß in seinem Rechtsanspruch und in seinem Wahrheitsanspruch dementiert worden. Man kann es, da es die historische Prüfung nicht bestanden hat, links liegenlassen. Wenn der historische Erfolg zum Maßstab des Bedeutsamen erhoben wird, verfällt das Ungelungene, nur Versuchte, nur Gedachte dem Verdikt. Es kann scheinbar mit Fug und Recht auf den Kehrichthaufen der Geschichte gefegt werden. Auf dem „blankgefegten Fundament einer verdrängten Geschichte” (Habermas) erhebt sich die Gegenwart als die hoffnungslos naturalisierte „Tagesunordnung”. Das Interesse an Geschichte schrumpft zum Interesse an einer Geschichte, die den historischen Erfolg protokolliert und die Gegenwart still stellt. Geschichte wird benutzt, um die Gegenwart als das Ergebnis des historischen Prozesses zu rechtfertigen. Der Welt des historisch Gewordenen wird unter Berufung auf den historischen Prozeß der Anschein verliehen, die Welt des einzig Möglichen, des einzig Vernünftigen und gar des Zukünftigen zu sein. Die Gegenwart wird mit scheinbar historischen Argumenten entgeschichtlicht, die Zukunft wird abgeschafft. Zurück bleibt eine verwaltete Geschichte, in der die Vor-Geschichte eindeutig unzweideutig verbucht und inventarisiert ist. Es ist eine erkaltete Geschichte, mitleidlos und unempfindlich gegenüber den Opfern des historischen Prozesses.

Geschichts­un­ter­richt als Mittel sozialer Kontrolle

III.

Es ist schwer auszumachen, in welchem Maße der Geschichtsunterricht an den Schulen solchen theoretisch kruden Vorstellungen einer verängstigten und interessierten Öffentlichkeit entspricht; weniger schwer ist festzustellen, daß er solchen Vorstellungen entsprechen soll. Die interessierten Hersteller und Verwalter eines einheitlichen und verpflichtenden Geschichtsbildes haben sich in den letztjährigen Kontroversen um den Geschichtsunterricht bis zur Kenntlichkeit verändert. Ihnen geht es nicht darum, Schüler an Geschichte und geschichtlichem Denken als historisch erarbeiteten Denkformen teilhaben zu lassen; ihnen liegt daran, ihre Vorstellungen über Geschichte und Geschichtsunterricht als ein Mittel sozialer Kontrolle durchzusetzen oder auch zu erhalten.
Es kann nicht bestritten werden, daß man Geschichte so eingeschränkt erzählen kann; nur: es ist nicht „die” Geschichte, die da vorgestellt wird und verbindlich gemacht werden soll. Sie ist lediglich eine Geschichte, und diese Geschichte ist unschwer als das historische Selbstverständnis nur eines Teils der Gesellschaft anszumachen, der sich in der Welt des Gegebenen zufrieden eingerichtet hat, weil er sie nach seinen Bedürfnissen und seinem Bedarf gestaltet hat. Qualitative Veränderung und die historische Einsicht der Veränderlichkeit sind dann unerwünscht.

Einsinnige Geschichts­-­Bilder

Denen, die so über Geschichte – über Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit – denken, kann, darf und will niemand ihre historische Identität nehmen. Sie müssen aber – endlich – daran gehindert werden, ihre historische Identität anderen aufzuzwingen. Wer – ein Zerrbild für ein Abbild ausgebend und dabei Ranke beschwörend – sein Geschichts-Bild als objektives und einzig mögliches Geschichts-Bild vermitteln will, betreibt Indoktrination. Wer den traditionellen Geschichtsunterricht in der Form einer faktenreichen chronologischen Geschichtskunde, aus der eine einsinnige und parteiisch historische Kontinuität vorscheint, wider alle Einsichten der Geschichtstheorie und der Geschichtsdidaktik verteidigt, macht aus anspruchsberechtigten Schülern Instrumente seiner Absichten und richtet sie für seine Zwecke oder für die Zwecke der Zeit ab.

Verkürzung und Indok­tri­na­tion

IV.

Die Verkümmerung historischen Denkens, das aus Angst um geistigen und materiellen Besitz Geschichte auf Protokollnotizen historischen Erfolgs – allenfalls noch auf Bildungsgüter, die man sich schuldig zu sein glaubt – beschränkt und die Geschichtlichkeit der Gegenwart nicht denken kann, ermöglicht auch nur einen verkümmerten und – was wichtiger ist – einen massiv indoktrinierenden Geschichtsunterricht, der tendenziell folgende Züge tragen muß:

– seine Unterrichtsinhalte sind unter einem einseitigen Zugriff ausgewählt, da das historisch Erfolgreiche auch als das Bedeutsame unterstellt wird; das Ungelungene wird unterschlagen oder als belanglos abgetan; blind gegenüber dem Leid macht er sein Pensum;
– er mißversteht Geschichte als eine Ansammlung von Forschungsergebnissen, versteht Geschichte nicht als eine historisch erarbeitete Form des Denkens, die jeder einfachen Form der Erinnerung überlegen ist, die eben darum auch vermittlungswürdig ist;
– in seinem Bestreben, die Vor-Geschichte der Gegenwart einzufangen und eine einsinnige, einseitige, parteiliche Kontinuität zu vermitteln, verödet er Geschichtsunterricht auf das Erlernen von Fakten und chronologischen Ereignisreihungen;
– er maßt sich das Recht an, über die historische Identität von Schülern unterschiedlichster Herkunft verfügen und ihr lebensgeschichtlich erworbenes soziales Geschichtsbewußtsein ändern zu dürfen.

Geschichts­un­ter­richt als Büttel der Herrschenden

Solche Vorstellungen über Geschichtsunterricht sind nicht neu; sie durchziehen die Geschichte des Geschichtsunterrichts. Immer war der Geschichtsunterricht als staatliche Veranstaltung wesentlich darauf angelegt, das historische Selbstverständnis des Staates und der in ihm Herrschenden an Schüler unterschiedlichster sozialer Herkunft zu vermitteln und damit die Schüler auf die bestehende Gegenwart zu verpflichten. Immer war er anfällig für ideologische Vereinnahmungen durch die Herrschenden, die Sprachgewaltigen, die Hohenpriester und die Schriftgelehrten, die durch Herkunft, Bildungsgang und Beruf Privilegierten. Der Geschichtsunterricht darf nicht länger der Büttel des Staates, nicht der des vielfältig und vielseitig herrschenden Teils der Gesellschaft sein, der sich für das Ganze ausgibt. Er darf nicht länger wie in naiver Unschuld gegenwartsverhaftet sein. Denn die Gegenwart geht nicht auf in dem, was sie zu sein scheint und als was ihre Interessenten sie ausgeben. Sie ist nicht die Einlösung aller Versprechen, aller Hoffnungen und Vorgriffe der Vergangenheit; sie ist nicht das Ende aller Tage. Der Geschichtsunterricht kann und darf nicht zulassen, daß den Schülern durch die Einbildung einer einseitigen und einsinnigen Geschichte Erinnerungen versagt und vorenthalten werden und daß sie als Erinnerungslose der Übermächtigung durch die gegebene Gewalt der Dinge ausgeliefert werden.

Recht und Anspruch der Schüler auf Emanzi­pa­tion.

V.

Der Geschichtsunterricht wird um keinen Deut reicher, wenn er – süchtig nach Modernität – über curricularen Innovationsstrategien, Taxonomien, Evaluation, Operationalisierung, multiple-choice-tests oder Simulationsspielen die einfache Wahrheit vergißt, die so schwer zu verwirklichen ist: er ist dem Recht und dem Anspruch der Schüler auf Emanzipation verpflichtet. Er kann dieser Verpflichtung nur nachkommen, wenn er das ideologische Grundübel des Geschichtsunterrichts vermeidet, das derzeit wieder dem Kampf einer verängstigten und interessierten Öffentlichkeit um die Erinnerung zugrundeliegt.

Vorgriffe auf die Zukunft

Die Vorstellung einer einsinnigen Geschichte, die zudem noch als die Geschichte schlechthin ausgegeben wird, ist in einem klassischen Sinn ideologisch: sie wirkt sich nicht nur bestandserhaltend aus, sondern ist auch wissenschaftlich dubios. Denn ein geschichtliches Denken, das sich selber verbietet, die bestehende Wirklichkeit gedanklich zu historisieren und zu überschreiten, verstößt gegen elementare Grundlagen historischen Denkens und ist kein geschichtliches Denken mehr. Jedes geschichtliche Denken geht von Vorgriffen auf die Zukunft aus. Immer bereits enthält die Frage, die historisches Nachdenken und Erinnern auslöst, die Vorstellung einer erwünschten Zukunft – einer unechten oder einer echten Zukunft. Die gedanklich in die Zukunft verlängerte Gegenwart ist unechte Zukunft, die sich von der Gegenwart nicht abhebt. Sie gründet in der für gegenwärtiges, spätes bürgerliches Denken feststellbaren ungemein kurzen Zeitperspektive. Nur der, „der Gesellschaft als eine andere denken kann denn die existierende” (Adorno), verfügt über echte Zukunft und hält zugleich geschichtliches Denken über die Gegenwart hinaus durch.
Das Denken einer echten Zukunft versucht, der unhistorischen Übermächtigung durch eine gedanklich stillgestellte und entgeschichtlichte Gegenwart zu entrinnen – und damit geschichtliches Denken zu bleiben und bleibendere Ergebnisse zu ermitteln: „Geschichte enthüllt sich erst von dem her, was noch nicht ist” (Habermas). Nur echte Zukunft ist die historischem Denken entsprechende Zukunft. Dieser gedankliche Vorgriff ist kein „keckes Antizipieren von Weltplänen” (Jakob Burckhardt), ist keine spinnerte, schon gar keine ideologische oder doktrinäre Spekulation; er geht vielmehr aus der gedanklich disziplinierten Vermittlung von Wirklichkeit und Möglichkeit, von Existenz und Potenz einer geschichtlich erreichten Stufe hervor; er ist der bestehenden Wirklichkeit und Gesellschaft zwar historisch verbunden, aber nicht unhistorisch verhaftet.

Erinnerung an unabge­golten Vergangenes

Dieser Vorgriff auf die Zukunft entstammt selber der Erinnerung an unabgegolten Vergangenes und an unerledigte Forderungen der Vergangenheit. Er ist abgeleitet aus dem im historischen Prozeß immer wieder auffindbaren und immer weiter getriebenen Nachdenken über Möglichkeiten menschenwürdiger Existenz und der Beendigung einer Vor-Geschichte, die sich als Arbeits-, Gewalt- und Leidenszusammenhang enthüllt; immer wieder scheint im historischen Prozeß die in die geschichtliche Praxis einmündende, teilweise gelingende, oftmals scheiternde Hoffnung auf, das Leiden und die Ausbeutung, die Versagungen und die Vorenthaltungen könnten ein Ende nehmen oder auch nur nach Maßgabe des Möglichen verringert werden. Sie wird zum Ausgangspunkt des wissenschaftlichen, disziplinierten, methodisch-kritischen Denkens einer echten Zukunft; und sie wird zugleich zum Ausgangspunkt für die Aufarbeitung und die gedankliche Abarbeitung der Vergangenheit. Antizipation und Erinnerung gehen ein dialogisches und dialektisches Verhältnis ein.

Zukunfts­be­zo­gene Erinnerung

VI.

Nach allen Erfahrungen mit einem ahistorischen, gegenwartsverhafteten Geschichtsunterricht: die Aufgabe des Geschichtsunterrichts kann nur noch darin bestehen, Schüler zu zukunftsbezogener Erinnerung zu befähigen. Gegenüber einer Gegenwart, die dazu neigt, sich dem inhumanen Selbstlauf der Sachen und Waren zu ergeben und sich in diesem Selbstlauf der Frage des schieren Überlebens gegenübersieht, ist der Geschichtsunterricht eine Instanz, die die Erinnerung an Anderes, an andere, mögliche Formen menschenwürdiger Existenz ständig zu fordern und zu verwirklichen hat. Er hat das Vergessen und Verdrängen dessen zu verhindern, das einmal darauf gerichtet war, alle Menschen nach Maßgabe des objektiv Möglichen an historischen Erarbeitungen teilhaben zu lassen (Idee der allgemeinen Humanität und der sozialen Gesittung), und sie aus Bedingungen zu befreien, die ihre Rationalität beschränken (Idee der Emanzipation). Er hält dabei im Blick, daß das Erinnerte gilt und daß der Bereich des objektiv Möglichen ausgedehnt worden ist. Es ist wahr, daß „auf einem mühevollen und umwegreichen Pfad durch die bisherige Geschichte … eine noch immer vormenschliche Welt den materiellen Grund ihrer eigenen Vermenschlichung gelegt” hat (Werner Hofmann).
Aber diese Erkenntnis bleibt folgenlos, wenn die Erinnerung an gedachte und gelebte, antizipierte und gescheiterte Möglichkeiten menschlicher und menschenwürdiger Existenz abhanden kommt. Und sie kommt abhanden, wenn die rechten Verwalter einer einsinnigen Geschichte die Verdrängung ihres schlechten Gewissens durchsetzen und die linken Verächter der Geschichte auch weiterhin die Mühe scheuen, historisch denken zu lernen und mit besseren Argumenten in den Kampf um die Erinnerung einzugreifen.

Suche nach Zukunft in der Vergan­gen­heit

Ein Geschichtsunterricht, der auf die Suche nach Zukunft in der Vergangenheit geht und die Geschichte untersucht, um Zukunft zu entdecken, ist die einzige Form, in der historisch-politische Bildung noch möglich und zulässig ist. Andernfalls droht der Rückfall in die wissenschaftlich auf-geputzte Ideologie und Indoktrination eines Gesinnungsunterrichts. Die Suche nach Zukunft oder möglichen Zukünften in der Vergangenheit ist das Leitmotiv eines Geschichtsunterrichts, der den Fallstricken einer ahistorisch gegenwartsbezogenen, gegenwartsverhafteten Denkweise entgehen und entkommen will, weil er – durch die Geschichte des Geschichtsunterrichts gewarnt – ihre Konsequenzen kennt.

Geschichts­un­ter­richt für den Fortschritt der sozialen Gesittung

VII.

Diese – didaktischen – Überlegungen sind nicht gerade neu und wohl auch wenig „curricular”. Die Betonung des Leitmotivs Zukunft soll „nur” daran erinnern, daß Erinnerung als aufgreifende und aufhebende „Erinnerung” (Hegel) die Substanz eines Geschichtsunterrichts ausmacht, der die Vergewaltigung und Übermächtigung der Schüler durch eine kapitalistische Warenwelt und ihre technokratischen Macher und Ideologen als akute und historische Gefahr erkennt. Erinnert wird an die Idee des Fortschritts als die Idee, unter der das Bürgertum einst angetreten ist, die es aber nur noch in ihrer quantitativen Verkehrung annimmt. Indem Fortschritt in der Tradition der Aufklärung an seiner Menschlichkeit gemessen wird, nicht als sicher, sondern als möglich unterstellt wird, ist diese Erinnerung vor Mißverständnissen wie vor der ihr immanenten Gefahr der pogmatisierung geschützt. „Fortschritt ist auch ein Akt des Wollens” (Paul Weymar) – und der Geschichtsunterricht sollte den Fortschritt der sozialen Gesittung ebenso wollen wie ihre Verwirklichung.

Gedanken über Möglich­keiten eines zukunfts­be­zo­genen Geschichts­un­ter­richts

  • Das Bekenntnis zu absichtsvoll „uncurricularen” Aussagen schließt die Erlaubnis ein, den Möglichkeiten eines zukunftsbezogenen Geschichtsunterrichts in „uncurricularer” Sprache spekulativ nachzugehen.
    Er betrachtet Gegenwart nicht aus historischer Perspektive, sondern in historischer Perspektive. Indem er Zukunft und Zukünfte in der Vergangenheit aufzuspüren sucht, besteht er auf der Geschichtlichkeit und auf der Veränderlichkeit als Kategorien historischen Denkens, die er allen Versuchen entgegenstellt, die Gegenwart praktisch und gedanklich stillzustellen.
  • Er bewahrt sich die empfindsame Naivität, nach der Notwendigkeit scheinbarer historischer Selbstverständlichkeiten zu fragen: er fragt nach Herrschaft und Formen der Herrschaft, nach Knechtschaft und Formen der Knechtschaft, nach Kultur und ihren Anteilseignern, nach Zwangsarbeit und millionenfachen menschlichen Beschädigungen, nach Versagungen und Vorenthaltungen, indem er sie in Beziehung setzt zu historisch-gesellschaftlich erarbeiteten objektiven Möglichkeiten.
  • Er ermöglicht, indem er Wirklichkeit und Möglichkeit historisch in Frage stellt, jene Befreiung von Geschichte und unbegriffenen Momenten der Lebensgeschichte, von überständigen Verhältnissen und unangemessenen Bewußtseinsformen, die Nietzsche einer kritischen Historie als Aufgabe zuweisen wollte (- bislang mit eher magerem Erfolg).
  • Er stellt neben der Frage nach der Befreiung von einer Geschichte, die wie ein Alp auf den Gehirnen und dem Leben der Zeitgenossen lasten kann, die Frage nach historischem Erbe, indem er bewußt auf mögliche Zukunft in der Vergangenheit ausgeht.
  • Er verzeichnet Siege wie Niederlagen der einen und der anderen Seite auf dem verschlungenen, mühseligen und umwegreichen Pfad der Gattungsgeschichte und vergesellschaftet die vergangenen Erfahrungen als Ansatz für behutsame Radikalität. Er vermittelt historische Bildung als die Fähigkeit, „die politisch relevante Beziehung zwischen Antizipation und Bedingung herzustellen … Die objektive Notwendigkeit deckt jede subjektive Wünschbarkeit zu; der Mensch kriecht an seine Freiheit heran” (Hans-Joachim Heydorn).
  • Er ermöglicht, indem er Geschichte auch und nach Maßgabe des Möglichen gegen den Strich bürstet (Benjamin), Angehörigen von Gruppen, Schichten und Klassen, d.h. Schülern unterschiedlichster sozialer Herkunft, ihre historische Identität zu finden, die ihnen bislang durch eine einsinnige Geschichte enteignet war und wurde.
  • Er ermöglicht Schülern die Teilhabe an einer wesentlichen historischen Erarbeitung; an Erkenntnisweisen und Kategorien historischen Denkens, die systematisch eingeübt werden müssen – eines eingreifenden Denkens, das zu denkendem Eingreifen befähigt.
  • Er beweist seine Wissenschaftlichkeit, indem er dazu befähigt, über die bestehende Gesellschaft vernünftig hinauszudenken und sich von der bestehenden Gesellschaft nicht übermächtigen zu lassen. Er erweist sie aber auch darin, daß er die bestehenden gesellschaftliche Erarbeitungen kenntlich macht, um sie vor Regression zu verteidigen. Er macht deutlich: es gibt Zeiten, da schreitet fort, wer zurückgreift.

Geschichte gegen den Strich bürsten

VIII.

Der Kampf um die Erinnerung ist ein Kampf von Anfang an:

… immmer doch
Schreibt der Sieger die Geschichte des Besiegten
Dem Erschlagenen entstellt
Der Schläger die Züge
Aus der Welt geht der Schwächere und zurück bleibt
Die Lüge

Brecht

In diesen Kampf ist auch der Geschichtsunterricht verwickelt. Das Bewußtsein dieses Kampfes und das Bewußtsein der Verantwortung vor den Heranwachsenden verpflichtet Wissenschaftler und Lehrer: Sie müssen Geschichte mühselig gegen den Strich bürsten, um die Züge des Erschlagenen kenntlich, die Lüge erkennbar zu machen und den Mißbrauch der Geschichte zu verhindern.
Das Programm hat nur einen Nachteil: es benötigt zu seiner Verwirklichung Erben Kants und Verfechter einer Erziehungskunst im Sinn der Aufklärung, die gegenwärtig unter das Verdikt fallen; Radikale im öffentlichen Dienst zu sein.

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Fustel de Coulanges empfiehlt dem Historiker, wolle er eine Epoche nacherleben, so solle er alles, was er vom späteren Verlauf der Geschichte wisse, sich aus dem Kopf schlagen. Besser ist das Verfahren nicht zu kennzeichnen, mit dem der historische Materialismus gebrochen hat. Es ist ein Verfahren der Einfühlung. Sein Ursprung ist die Trägheit des Herzens, die acedia, welche daran verzagt, des echten historischen Bildes sich zu bemächtigen, das flüchtig aufblitzt. Sie galt bei den Theologen des Mittelalters als der Urgrund der Traurigkeit. (…) Die Natur dieser Traurigkeit wird deutlicher, wenn man die Frage aufwirft, in wen sich denn der Geschichtsschreiber des Historismus eigentlich einfühlt. Die Antwort lautet unweigerlich, in den Sieger. Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zu gut. Damit ist dem historischen Materialisten genug gesagt. Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahin führt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter. Sie werden im historischen Materialisten mit einem distanzierten Betrachter zu rechnen haben. Denn was er an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann. Es dankt sein Dasein nicht nur der Mühe der großen Genien, die es geschaffen haben, sondern auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen. Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den andern gefallen ist. Der historische Materialist rückt daher nach Maßgabe des Möglichen von ihr ab. Er betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.

Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen (VII),1940.

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