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Ein Verges­se­ner: Karl Liebknecht

vorgängevorgänge 2601/1977Seite 111-113

aus: vorgänge Nr.26 (Heft 2/1977), S. 111-113

Karl Liebknecht: Gedanke und Tat. Schriften, Reden, Briefe zur Theorie und Praxis der Politik. Herausgegeben und eingeleitet von Ossip K. Flechtheim. Verlag Ullstein, Frankfurt/M Berlin Wien 1976, 260 S, 9,80 DM.

Um Karl Liebknecht ist es schlecht bestellt. Er ist bei uns ein Vergessener, Opfer vorallem von Verdrängung und Verleumdung. „Nicht gedacht soll seiner werden”: Heines Vers drückt ziemlich genau bundesdeutsches Verhalten aus. Allmählich läßt man auch schon einige Sozialdemokraten gelten, aber nicht Karl Liebknecht, nicht Rosa Luxemburg. Die Ermordeten sind als bolschewistische Unholde abqualifiziert. Das rasche Urteil der Blut-Offiziere hat Geschichte gemacht; wie fadenscheinig es auch war, so hält man sich doch bis heute daran.
In der DDR ist Liebknechts Andenken scheinbar besser aufgehoben. Dort beruft man sich auf ihn als einen Vorkämpfer des „ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates”, man ehrt ihn und veröffentlicht sogar eine neunbändige Ausgabe seiner Reden und Schriften. Aber da und dort greift die Zensur zu, denn Liebknecht war ein Nonkonformist par excellence, der sogar Marx zu kritisieren wagte, den Historischen Materialismus ablehnte und als Pazifist handelte. Kurzum, als frommes SED-Mitglied ist er unvorstellbar.
Man sieht nicht, daß Liebknecht in der DDR einen Platz haben könnte: er, der für die „Freiheit der Wissenschaft” stritt und die preußischen Universitäten „Drillanstalten für Funktionäre der gegenwärtigen Staatsgewalt” nannte. 1910 hatte er im preußischen Abgeordnetenhaus für „absolute Lehrfreiheit” plädiert; die Universitäten sollten „zu Selbstverwaltungskörpern gemacht werden, die sich wirklich als freie Republiken der Geister in ihren Angelegenheiten selbst regulieren können”. Weiter hieß es: „. .. der beste Schutz gegen alles Cliquenwesen ist eine freie Demokratie, die wirklich urteilsfähige öffentliche Meinung eines hochgebildeten und an der Wissenschaft interessierten freien, selbstbewußten Volkes.” Solche Auffassung paßt schlecht zu den Grundsätzen der DDR, auch ihr kommt der tote Liebknecht gelegener als der lebende. Radikaler Sozialist, war er ein ebenso radikaler Demokrat. Beides ist bei ihm untrennbar, und beides macht ihn anstößig hüben und drüben. Hier stört der Sozialist, dort der Demokrat. Liebknechts Vergessenheit dokumentiert so die Fehlentwicklungen deutscher Geschichte. .
Die von Ossip K. Flechtheim herausgegebene Sammlung ist ein vorzüglicher Ansatz, um Versäumtes nachzuholen, dem organisierten Vergessenen entgegenzuwirken, Vorgestellt wird der Mensch, der Politiker, schließlich der Theoretiker. Flechtheims Einleitung zeugt von Bewunderung für das seltene Beispiel eines Revolutionärs, der „selber human” blieb. Unterstrichen wird: „Der Radikale und Revolutionär war zugleich Reformer und Nonkonformist im besten Sinne des Wortes, wie auch der konsequente Klassenkämpfer alles andere als ein blinder Bewunderer von Gewalt und Terror war.“ Liebknecht war Pazifist, wenn auch kein grundsätzlicher Gegner von Gewaltanwendung. An der Ostfront 1915 erklärte er, „daß ich nicht schießen werde, und wenn es mir befohlen würde. Dann möge man mich erschießen”.
Aber Flechtheim äußert auch Kritik, die sich heute aufdrängt. Gerügt wird der Glaube an die Unausweichlichkeit des Sozialismus (den alle Fraktionen der Sozialdemokratie teilten), an die vor der Tür stehende Revolution, schließlich an die Übernahme der bolschewistischen Illusionen. 1918/19 drängte Liebknecht ungestüm nach vorn, außeracht lassend, daß er nur eine kleine Minderheit der Arbeiter vertrat. Rosa Luxemburg war vorsichtiger, auch kritischer gegenüber Lenin, den sie dank ihrer polnischen Erfahrung besser kannte. Flechtheim meint, Liebknecht war „nicht weise und überlegen genug, um die politische Unreife des Volkes und die Ungunst der internationalen Lage kühl zu kalkulieren und realistisch in seine Rechnung einzubeziehen”. Verhängnisvoll war der Glaube an den „naturnotwendigen” Sieg des Sozialismus, den auch einige Niederlagen nicht aufhalten könnten. Flechtheim bemerkt dazu: eingedenk unserer Erfahrung, „daß die Geschichte Niederlagen kennt, die tödlich sind”. Daher sei es geboten, „nicht nur gegen rechts anzukämpfen, sondern immer wieder auch der Ungeduld, der Emotionalität, dem Putschismus auf der Linken zu widerstehen”.
Die sich ergebenden Lehren sind folglich höchst aktuell, und nichts ist dem kühnen Kritiker mehr angemessen, als ihm seinerseits kritisch zu begegnen. Gedankenlose Beweihräucherung widerspräche seinem Wesen.
In den Briefen Liebknechts an seine Frau Sophie und die Kinder bekundet sich ein Empfindsamer, ein Liebender, ein Kulturbegeisterter. „Die Politik frißt mich auf; jede Faser hat sie verschlungen”, vernimmt man als Stoßseufzer. Und dennoch war eine intensive Beschäftigung mit der Kultur nicht nur möglich, sie war unerläßlich und bildete die Basis des politischen Denkens. Plotin, Cusanus, Bruno, Spinoza, Leibniz, Goethe werden als „Sterne” zitiert – die Breite des geistigen Horizonts wird ersichtlich. Liebknecht liebte Menschen, Tiere, die Natur. Aus dem Gefängnis schrieb er: „Ich fühlte und sah und erlebte diesen Herbst wie in Jünglingszeiten … Mein Leben war bisher, trotz allem, glücklich . . .” Das erinnert an Briefe Rosa .Luxemburgs, die zur gleichen Zeit im Gefängnis geschrieben wurden. An der Front liest er Dante und ist glücklich, ohne Gewehr: „Da bin ich innerlich fast frei . . . „ Den Sohn mahnt er, Goethe und Schiller zu lesen, Bach zu hören. Die deutsche Kultur, intensiv für den Krieg mobilisiert, dient hier ganz dem Frieden, der kategorischen und fast jubelnd vorgetragenen Devise: „Ich werde nicht schießen!”
Am Jahrestag des 4. August 1914 wird der Zusammenbruch der Internationale konstatiert: „Ein Kartenhaus ist umgeblasen.” Aber um so energischer werden die Ziele der Internationale proklamiert. Liebknecht kritisiert den passiven Glauben an das Kommen des Sozialismus, stattdessen verweist er auf die Bedeutung von „individueller Kraft und Tat”. Solange die Massen nicht handeln, sei „freie, kühne Initiative des einzelnen” erforderlich, um „auf eigene Faust das Richtige und Nötige zu finden”. Auf Revolutionen dürfe man nicht warten, sie müßten „gemacht” werden, konzipiert freilich als „Massenprozeß”. Das war gewiß eine Antwort auf den Quietismus der Parteiführung, auf das jahrelange Anpassen, das geduldige Warten auf die Revolution. Stichhaltig war die Einsicht in die Gefahren eines kurzsichtigen Reformismus: „Was nützte es der Sozialdemokratie, wenn sie eine ganze Welt aller erdenklichen Reförmchen gewänne und nähme Schaden an ihrer Seele.” Über dem Alltag sollte das große Ideal nicht vergessen werden. Das war damals aktuell und ist es heute. Freilich bekundet sich immer stärker ein Voluntarismus, der „die Politik als Kunst des Unmöglichen” definiert. Die Gefahr droht, ins Abenteuer abzugleiten, Politik als Mittel radikaler, aber isolierter Minderheiten aufzufassen.
Liebknechts Wille hatte viel zustandegebracht, während des Kriegs hatte er entscheidend dazu beigetragen, die demoralisierte sozialistische Bewegung wiederaufzurichten. Doch die Revolution zum Siege zu führen, vermochte er nicht; dazu bedurfte es der Massen, deren Rolle unterschätzt wurde. Neigte die SPD-Führung dazu, objektive Schwierigkeiten zu übertreiben, um sich ihnen an-zupassen, so findet man bei Liebknecht eine unzureichende Bewertung objektiver Faktoren. Seine Haltung beruhte auf einer falschen Analyse der Kriegskatastrophe; sie wurde allein dem Verrat der sozialdemokratischen Führung angelastet, die Aktion der patriotisch aufgehetzten Arbeitermassen wurde ungenügend beachtet. Insgesamt war ihr Gewicht entscheidender als die Politik der Parteiführung. Grundfalsch war die Analyse in seinem letzten Artikel vom 15. Januar 1919, einige Stunden vor dem Mord verfaßt. „Die Geschlagenen von heute werden die Sieger von morgen sein“, hieß es zuversichtlich. Mit religiösem Pathos wurden die „Posaunen des Jüngsten Gerichts” angekündigt. Es kam alles anders. Darüber nachzudenken, bietet der Band wichtigstes Material.

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