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Geschichte — keine Geschicht­chen

vorgängevorgänge 2601/1977Seite 92-97

Erfahrungen am Historischen Museum Frankfurt a. M.

aus: vorgänge Nr.26 (Heft 2/1977), S.92-97

Man weiß, mit welchem Nutzen die Nationen ihre Geschichte aufzeichnen. Den gleichen Nutzen hat auch der einzelne Mensch von der Aufzeichnung seiner Geschichte. Me-ti sagte: Jeder möge sein eigener Geschichtsschreiber sein, dann wird er sorgfältiger und anspruchsvoller leben(1).

In den siebziger Jahren unseres Jahrhunderts feiern viele deutsche Museen ihren hundertsten Geburtstag. Sie weisen sich damit als Gründung des Bürgertums aus, dessen wirtschaftliche Macht nach der Errichtung des Deutschen Reichs im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 größer geworden war. Neben den Museen für „Kunst und Industrie” bzw. ;,Kunst und Gewerbe“ stammen auch die Historischen Museen aus dieser Zeit. Während die Kunstgewerbemuseen damals vor allem die Aufgabe hatten, deutsche handwerkliche Produkte auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu machen, wurden die Geschichtsmuseen vor allem mit der Absicht gegründet, der Bürgerschaft eines Ortes ihre ruhmreiche Vergangenheit erfaßbar zu machen. Die Ausstellungsstücke veranschaulichen deswegen auch das breite Spektrum bürgerlicher Kulturproduktion. Das Historische Museum Frankfurt, das seine Bestände 1878 den Besuchern zugänglich machte, sammelte und zeigte deswegen auch Gegenstände, die heute dem Bereich der Kunstgeschichte, der Vor- und Frühgeschichte, der Völkerkunde und dem Kunstgewerbe zugeordnet werden. Viele dieser Objekte wurden später Spezialmuseen zur Verwaltung übergeben.

Die Kontroverse um die Neukon­zep­tion des Frankfurter Museums

Im Zweiten Weltkrieg wurden alle Gebäude des Historischen Museums zerstört. Die zum Teil ausgelagerten Bestände haben den Krieg im großen und ganzen überstanden. Nachdem das Museum seit 1954 seine Arbeit in verschiedenen provisorischen Unterkünften aufgenommen hatte, begann 1969 die Planung eines Neubaus. Am 13. Oktober 1972 wurden die ersten Abteilungen, die die Zeit von 800 bis 1500 und das 20. Jahrhundert dokumentieren, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. 1974 folgten weitere Abteilungen. Mit der Eröffnung der Dokumentation der Ausgrabungen im Altstadtbereich im März 1977 wird der letzte Planungsabschnitt der Bürgerschaft übergeben.
Seit Oktober 1972 ist das Historische Museum Gegenstand einer kontroversen öffentlichen Diskussion. Die ablehnende Kritik wurde am einprägsamsten von dem Kunsthistoriker Niels von Holst im Tagesspiegel, Berlin, am 28.1.1973 formuliert: „Die Frankfurter Neugründung ist ein Posaunenstoß; er signalisiert die tödliche Gefährdung der in Jahrhunderten gereiften europäischen Museumsidee, welche das Kunstwerk und den Menschen abseits aller Politik zusammenführt.”
In einem nicht abgedruckten Leserbrief vom 1. 2. 1973 machen Klaus Herding und Lutz Heusinger die Zusammenhänge deutlich, in denen Einschätzungen wie die von Holsts stehen: „Die ,in Jahrhunderten gereifte europäische Museumsidee` bestand keineswegs darin, ,das Kunstwerk und den Menschen abseits aller Politik` zusammenzuführen. v. Holst gibt vor, das Museum zu verteidigen, setzt aber in Wirklichkeit nur seine rechtsextreme Politik fort: 1934 feierte er den Beginn des von ihm sogenannten ,nachliberalistischen Zeitalters`. Weitere Aktivitäten führten dazu, daß er mit dem Ende des nationalsozialistischen Regimes den Museumsdienst quittieren mußte.”
Unter der Überschrift „Geschichte für alle!” begrüßte Karl Korn in der FAZ das neue Historische Museum. Er schreibt: „Dieses Museum ist nicht mehr nur eine Schatzkammer angesammelter Kostbarkeiten. Seine innere Ordnung durch Objekte; freie Stellwände, Tafeln, Beleuchtung ist variabel. Der Raum ist nicht zerhackt, sondern ein gleichsam im Fluß gehaltenes ganzes. Das Museum prunkt nicht, es zeigt. Aber es zeigt auf moderne, beinahe fröhliche Weise. Man kann sich in seinen angenehmen weiten Räumen ergehen und die aus Modellen, Diaprojektionen, Bildtafeln mit Texten und Originalen, seien sie Plastiken, Bauelemente, Gemälde, Kunsthandwerk, Gerät je etwa zur Hälfte gemischte Schau in aller Ruhe studieren. Man wird durch Filme, Dias und Schautafeln nach Farbfotos in so durchdachter Weise informiert, daß der Museumsbesuch zum ersten Mal frei sein wird von dem bekannten lähmenden Gefühl der Überforderung durch die Massierung von Sachwerten.” Was war geschehen, damit ein Museum so unterschiedlich beurteilt werden konnte?
Im Historischen Museum war konsequent das entwickelt worden, was eine „Lernausstellung” genannt wird. In der Konzeption hatten alle Beteiligten erklärt, sie wollten die Ausstellungsstücke nicht mehr „wohlsortiert und in gefälliger Form” darbieten. Vielmehr sei es ihr Ziel, dem Museumsbesucher „Einsicht in historische und gesellschaftliche Zusammenhänge” zu vermitteln. Dies entspricht dem bildungspolitischen Diskussionsstand der späten 60er Jahre. Durch Veröffentlichungen von Georg Picht und anderen war nachgewiesen worden, daß die Bundesrepublik vor einer „Bildungskatastrophe” stehe. Dies zu verhindern, war die Absicht der Kultur- und Bildungspolitiker aller gesellschaftlichen Gruppen. Die Motive waren jedoch unterschiedlicher Art. Während die einen nur um höhere Gewinne zu erzielen an besser ausgebildeten Arbeitskräften interessiert waren, sahen die anderen eine bessere Ausbildung als eine Voraussetzung für die Emanzipation der arbeitenden Bevölkerung an. Letztere fordern deswegen nicht nur Modernisierung und Effektierung, sondern auch Demokratisierung des Bildungssystems. Diese bildungspolitischen Überlegungen auf das Museum angewendet zu haben, ist der Verdienst des Arbeitsstabes des Direktors Dr. Stubenvoll. Damit tat er jedoch etwas für Kulturhistorische Museen durchaus Unübliches: der Arbeitsstab definierte schon 1970 das Museum als Bestandteil eines modernen Bildungssystems. Für den theoriefernen, meist kulturpessimistisch empfindenden
Museumswissenschaftler stellte diese Definition eine Provokation dar, von der man sich noch auf der Tagung des Deutschen Museumsbundes in Frankfurt 1974 nicht erholt hatte(2).

Das Problem der Vermittlung von Geschichte durch Ausstel­lungs­stücke

Karl Korn hat das Museum gut geschildert: Die Ausstellungsgegenstände sind chronologisch geordnet. Der Rundgang beginnt mit der ersten Erwähnung Frankfurts, also der Zeit um 800, und endet 1945. Doch die ausgestellten Gegenstände: Gemälde, Skulpturen, Waffen, Werkzeuge, Möbel, Geschirr und vieles andere, sprechen nicht für sich selbst. Um zu verstehen, aus welchen historischen Zusammenhängen sie stammen, muß man etwas wissen; Informationen haben. Diese Informationen werden durch das beschriebene System gegeben. Heute, wenige Jahre nach der Eröffnung, wird überall der Ausstellung von Objekten ein Informationssystem beigegeben. Auf dieser technischen Ebene hat sich die Konzeption des Historischen Museums Frankfurt durchgesetzt. Nur noch Leute, die das entsprechende Faktenwissen durch ein Studium erworben haben, behaupten, man könne auf Text/Bild-Tafeln verzichten, brauche keine Modelle oder Reproduktionen, die Fachsprache eines Kataloges informiere ausreichend.
Doch die Schwierigkeit liegt nicht in der Frage, ob Zusatzinformationen nötig sind, sie liegt in der Frage, welche Informationen gegeben werden, denn von dem großen Fundus an Fakten kann immer nur ein Teil vermittelt werden. Im Historischen Museum Frankfurt wird deswegen versucht, die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu veranschaulichen, denen die Ausstellungsstücke entstammen. In seinen „Geschichtsphilosophischen Thesen” hat Walter Benjamin darauf hingewiesen, daß ein Kulturgut „niemals ein Dokument der Kultur (sei), ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein“(3). Erst wenn man versucht, diese doppelte Aussagekraft der Objekte zu vermitteln, erschließt man den historischen Zusammenhang, aus dem ein Gegenstand hervorgegangen ist. Ein Gegenstand, der durch seine Pracht zu verleugnen scheint, wie vieler Not er seine Entstehung verdankt, kann auch darauf befragt werden, woher denn all die Pracht komme. Auf die gesellschaftlichen Konflikte, die direkt und indirekt das Aussehen eines Gegenstandes geprägt haben, wird im Historischen Museum in Frankfurt hingewiesen. Es ist deswegen symptomatisch, daß sich 1972 viele Gemüter deswegen erhitzt haben, weil der Begriff „Klasse” verwendet wurde. Besonders ein Zitat aus Otto Rühles „illustrierter Kultur-und Sittengeschichte des Proletariats” von 1930, wurde oft als Stein des Anstoßes zitiert. In den Wochen nach der Eröffnung war es immer wieder auf dem Bildschirm zu sehen, wurde immer wieder in Zeitungen abgedruckt. Rühle, der als Lehrer in Arbeiterbildungsvereinen tätig war, hätte seine Freude daran gehabt.
„Die Signatur des Mittelalters” – so beginnt das Zitat -„ist das Feudalsystem.” Die Kritik stellte oft fest, daß das Mittelalter so nur einseitig beschrieben sei, alles sei viel komplizierter. Rühle charakterisierte mit modernen Begriffen wie „Privateigentum, Privatwirtschaft, Klassenherrschaft und Autorität” eine Zeit, die diese Begriffe nicht gekannt habe. „Privateigentum” in unserem neuzeitlichen Sinne, kannte man im Mittelalter nicht. Rühle, der immerhin jahrelange Unterrichtserfahrungen in Arbeiterbildungsvereinen hatte, wußte, daß eine Begrifflichkeit, die sich gegen den Lernenden abschließt, das Begreifen behindert. Wer Geschichte deswegen studiert, weil er weiß oder ahnt, daß sie teils identisch mit seiner eigenen Geschichte ist, teils seine eigene Geschichte nach rückwärts verlängert, der erfährt die Kontinuität, in der er steht, auch durch einen Begriffsapparat, dessen Nützlichkeit er mit seinen gesellschaftlichen Erfahrungen konkret überprüfen konnte. Aber natürlich: zwischen Rühle und den Kritikern von 1972 besteht auch darüber eine unterschiedliche Auffassung, ob die von ihm gewählten Begriffe, die Gegenwart plausibel er-klären. So wurde dem Historischen Museum dann auch vorgeworfen, es betreibe „Klassenkampf”. Rühle hat jedoch in seinem. Text unausgesprochen eine Auffassung angegriffen, der niemals „Klassenkampf” vorgeworfen wurde: Friedrich Schlegels „Die Signatur des Zeitalters”, erschienen 1820 in der Zeitschrift „Concordia”. Zur Lösung der damaligen Probleme schlägt Schlegel ein System vor, das durch Begriffe wie „Stand”, „Gilde”, „Kirche”, „Schule” und „christlicher Staat” gekennzeichnet ist. Und tatsächlich: genau diese Begriffe wurden dem Historischen Museum als Ersatz für den „Rühletext” empfohlen. An diesem Beispiel wird deutlich, daß eine Diskussion über Geschichte auch eine Diskussion über die Gegenwart ist.

Bis heute finden konservative Kritiker eine merkwürdige Befriedigung dabei, ihre Beschimpfungen in dem Vorwurf des „Marxismus” gipfeln zu lassen. Der hessische CDU-Vorsitzende Dregger beweist seine Kreativität durch immer neue Wortverbindungen, die er um die Vokabel „Marxismus” rankt. Doch nicht, um mit Dregger zu argumentieren (Kann man das?), sondern um den Standpunkt abzuklären, will ich auf diesen Vorwurf eingehen. Würde man versuchen, die Zielsetzung aller im Hause Arbeitenden anzudeuten, so würden wohl Worte wie „kritisch” oder besser „aufklärerisch” vielleicht sogar „radikal-demokratisch” (im Sinne des 19. Jahrhunderts oder Gustav Heinemanns), den größtmöglichen gemeinsamen Nenner beschrieben. Es gibt Kollegen, die parteipolitisch gebunden sind, für andere trifft dies nicht zu. Einige sind Historiker, andere Kunsthistoriker, wieder andere Archäologen.

Damit verhalten sie sich zu unterschiedlichen fachwissenschaftlichen Diskussionsständen. Kennt man andere Institute, andere Museen in Westdeutschland, dann weiß man, daß der „gemeinsame Nenner” des Historischen Museums Frankfurt nicht eben häufig zu finden ist. Doch erlaubt dieser „gemeinsame Nenner” eben auch recht unterschiedliche Ansätze, und dies wird in der Ausstellung auch sichtbar. Zu recht stellt deswegen Frank Pietzcker in seiner Rezension eines Buches über das Historische Museum („Geschichte als Öffentliches Ärgernis“) fest, daß „eine einheitliche Geschichtstheorie” fehle(4). Sie wäre ein Maximalkonsens, der nur schwer zu erreichen ist. Natürlich könnte man in einer Diskussion, an der alle Kollegen beteiligt sind, für die man extra eine Woche in Klausur gehen sollte, eine gemeinsame theoretische Position formulieren. Aber diese Theorie wird noch lange nicht die Praxis prägen, sie ginge nicht gleichermaßen in die Bearbeitung von Maschinen, Möbeln, Münzen und Porzellan ein, sie prägte nicht die Ankaufsstrategie für solche Gegenstände. Wenn die „gemeinsame Theorie” – die durchaus ein Desiderat ist – auch als „gemeinsame Praxis” für die Besucher erfahrbar werden soll, dann braucht das viel Zeit, denn ein logischer Schluß ist schnell gemacht, eine Entwicklung kann lange dauern. Doch auch die „gemeinsame Theorie” müßte offen bleiben für neue Erfahrungen, für Akzentverschiebungen in den Wertigkeiten. Ich kann mir kein lebendiges Museum vorstellen, das nicht immer wieder ernsthaft bereit wäre, sich selbst – und das heißt seine gesellschaftliche Theorie und Praxis – in Frage zu stellen. Die Festlegung etwa auf „die explizite Wertung bestimmter Ereignisse aus der Sicht einer Klasse” – wie dies in einer Rezension von Hermann Kopp gefordert wurde(5) – birgt schon das Problem der Orthodoxie (Was ist denn die Sicht der Klasse?) in sich. Statt sich jedoch diesem Problem zu stellen – konkret -, argwöhnt Kopp, die Museumsleute arbeiteten lediglich deswegen nicht so, wie er sich das wünscht, weil sie sonst „den Konflikt mit ihren – sozialdemokratischen Auftrag- und Arbeitgebern —” riskierten. Konflikte hat das Historische Museum Frankfurt genug „riskiert”.

Von der Notwen­dig­keit, die Ausstellung gegen die Tendenz der Sammlung zu machen

Wer ein Buch schreibt, hat – über das Medium der Fotografie – eine Unzahl Gegenstände zur Verfügung. Er kann sie abbilden, wie es der Gang dessen, was er entwickeln möchte, erfordert. Wer die ständige Ausstellung eines Museums plant, kann dies nicht. Er muß die Gegenstände, die ihm zur Verfügung stehen, verwenden. Sie sind die erste Probe auf die Richtigkeit seines Ansatzes. Doch die Sammlung, die dem am Museum Arbeitenden zur Verfügung steht, ist Produkt (aber auch Teil) eines historischen Prozesses. So lautet eine Beschriftung im Historischen Museum: „Viele Gegenstände geben uns Informationen, wie Menschen in der damaligen Zeit gelebt haben. Die ausführlichsten Informationen erhalten wir über die Klassen, die die Gegenstände gestiftet haben: Adel und Bürgertum. Es ist deswegen nicht erstaunlich, daß wir über die armen Leute weniger wissen. – Als Kultur gilt weithin, was die herrschenden Familien herstellen ließen. In den meisten Museen finden sich Gegenstände aus dem Besitz der jeweils herrschenden Klasse. Diese Tatsache ist bei dem Betrachten der Gegenstände zu berücksichtigen“(6).
Die kritische Museumswissenschaftlerin und der kritische Museumswissenschaftler müssen sich oft gegen die Intentionen ihrer historisch gewordenen Sammlung verhalten. „In jeder Epoche” – schreibt Walter Benjamin – „muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.” Und etwas später: „Auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört“(3). Die Abteilung zur Geschichte der Arbeiterbewegung ist ein deutliches Beispiel dafür: Es fehlen Ausstellungsgegenstände. Wäre man der Eigengesetzlichkeit der Sammlung gefolgt, dann hätte die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ohne Arbeiterbewegung stattgefunden. Während von Kaiser Wilhelm II viele Fotos, Grafiken und anderes in den Schubladen lagen, fehlte August Bebel völlig, von Rosa Luxemburg oder auch Ferdinand Lassalle ganz zu schweigen, obwohl doch beide in Frankfurt waren. So entstand eine Abteilung mit vielen Texten, wenigen Fotos und keinen Gegenständen. Das Problem wird mit folgendem Text vermittelt:
„… Das Historische Museum sammelte so, wie die Herrschenden Geschichte schrieben. Die folgende Abteilung ist eine Ausstellung ohne Ausstellungsstücke. Sie stellt den Versuch dar, mit Fotos nach Objekten aus fremdem Besitz und wenigen Leingaben ein notwendiges Kapitel zu dokumentieren. Damit verbindet sich die Hoffnung, daß mancher Besucher, der dies liest, dem Museum Objekte aus seinem Familienbesitz verkauft oder schenkt.”
Tatsächlich hat sich inzwischen eine Arbeitsgruppe von Frauen und Männern in Frankfurt gebildet, die inzwischen das Rentenalter erreicht haben. Sie sammeln Material zur Geschichte der Arbeiterjugendbewegung. Diese Geschichte ist auch ein Stück Biografie jedes einzelnen. Die Arbeit dieser Gruppe soll im nächsten Jahr in eine Ausstellung einmünden.
Ein zweites Beispiel dafür, wie sehr sich die Tendenz der Sammlung von der der Ausstellung unterscheiden kann, ja, muß: Von Anfang August 1914 bis Oktober 1918 wurden – wie in vielen anderen Museen und Instituten – Dokumente zum Ersten Weltkrieg gesammelt. Die Tendenz dieser Sammlung ist eindeutig chauvinistisch. Dokumente über den Widerstand der Arbeiterschaft fehlen. Plakate, die während der Novemberrevolution 1918 gedruckt wurden, fehlen ebenfalls in der Sammlung, obwohl die gleiche Druckerei während des Krieges von jeder Postkarte, jedem Schmuckblatt, jedem Plakat ein Belegexemplar an das Museum abgeliefert hat. Für die Ausstellung der Weltkriegssammlung, die unter dem Titel: „Ein Krieg wird ausgestellt”, vom November 1976 bis zum 13. März 1977 lief, mußten diese Frankfurter Plakate aus Hamburg entliehen werden. Die Tendenz dieser Ausstellung, die Tendenz auch des Kataloges, konnte nicht chauvinistisch, sie mußte pazifistisch sein. Von der Kritik ist dies akzeptiert worden, immerhin auch von Krämer-Badvni in der Welt. Damit ist erfreulicherweise Einverständnis darüber erreicht, daß es eine Ausstellung ohne Tendenz nicht gibt.

Anhand dieser Weltkriegsausstellung wird jedoch ein Problem beschreibbar, das bisher nicht gelöst werden konnte, nicht nur nicht in Frankfurt: Die Vermittlung des aktuellen Bezuges. Daß schon moderne Begriffe abgelehnt werden, habe ich oben beschrieben. In der Weltkriegsausstellung war für einen Monat eine Zusatzausstellung gezeigt worden, die versuchte, die Kontinuitäten seit 1918 zu vermitteln: Der Spanische Bürgerkrieg, der Zweite Weltkrieg, der Vietnamkrieg und der Militärputsch in Chile wurden mit Fotos und Texten dokumentiert, um die Polarisierung des politischen Spektrums in den zwanziger und dreißiger Jahren zu zeigen (Spanischer Bürgerkrieg), den Versuch Deutschlands, den Versailler Vertrag zu revidieren (der in den Zweiten Weltkrieg mündete) und, um darauf hinzuweisen, daß seit dem Ersten Weltkrieg weltpolitische Gegensätze auch in den Kolonien beziehungsweise den Ländern der Dritten Welt ausgetragen werden (Beispiel: Vietnam). Mit dem Beispiel Chile sollte angedeutet werden, daß kriegerische Gewalt sich mehr und mehr der Kenntnisnahme der Weltöffentlichkeit entzieht, daß Menschen unter dem Schutz von Geheimhaltung ermordet werden. – Die CDU hat gegen diese Ausstellung protestiert, etwa: in Vietnam seien die Amerikaner nicht die Angreifer gewesen. Dreggey holte seine Keule „Marxismus” wieder aus dem Sack, und die Leserbriefspalten der Frankfurter Zeitungen waren wieder gefüllt. In einem offenen Brief an die CDU-Fraktion machte der Direktor des Museums, Stubenvoll, darauf aufmerksam, welche Geister gerufen worden waren: Männer in Schaftstiefeln beschimpften einen Aufseher als „Roter Bandit” und versicherten ihm, lediglich sein Alter schütze ihn davor, „Dresche zu beziehen”. Die aktuellen Bezüge berühren den Besucher mehr als die Vergangenheit, zu ihnen hat er seine Meinung. Das Klima in unserem Lande ist jedoch so, daß Diskussionen über gegenwärtige oder vergangene Probleme nicht mehr frei von Angst geführt werden können. Immer häufiger versichern Besucher die Museumsleute lediglich hinter vorgehaltener Hand ihrer Sympathie. Besonders Lehrer, die immer wieder versichern, wie wichtig ein didaktisch konzipiertes Museum für ihre Arbeit ist, engagieren sich nicht mehr: sie haben Angst vor Sanktionen, Angst vor dem Berufsverbot.
Das mag resignativ stimmen, es bleibt jedoch das kritische, nicht-öffentliche Gespräch unter Freunden und Kollegen, in dem man sich selbst auch noch in Frage stellen kann, ohne daß jemand flugs daraus eine Niederlage konstruiert.

Erfahrungen und Ausblicke

Versucht man, abschließend einige Erfahrungen und Ausblicke zu formulieren, so würde mir folgendes als wichtig erscheinen:
1. Die Gestaltung einer ständigen Ausstellung muß unabhängiger vom Designer erstellt werden, als dies in Frankfurt geschehen ist. Designer haben oft die Tendenz, ihre ästhetische Konzeption, oder schlichter: ihren Geschmack absolut zu setzen. Das Informationssystem erhält so einen Eigenwert, der den Absichten der Museumsleute hinderlich sein kann.
2. Das Historische Museum Frankfurt hat ein Informationssystem, das – besonders in den 1972 eröffneten Abteilungen – kalt und steril wirkt. Die Wechselausstellung „Frankfurt um 1600” hat erwiesen, daß von dem Gestalter verlangt werden kann, zur Vermittlung mehr als nur Text/Bild-Tafeln zu entwickeln. In dieser Ausstellung wurden aus zeitgenössischen Holzschnitten eine Töpferwerkstatt, ein Schusterladen und manches andere mehr rekonstruiert und aufgebaut. Die Wirklichkeit, die in der Ausstellung vermittelt werden sollte, wurde so erfahrbarer als etwa nur durch einen Text. Die Besucher haben diese Form begrüßt. Natürlich ist ein Text eine eindeutigere, risikolosere Form der Vermittlung, er wendet sich aber auch an weniger Besucher.
3. In der Ausstellung „Ein Krieg wird ausgestellt” wurde diese Erfahrung zugrundegelegt. Zu den einzelnen Kapiteln, unter denen die ausgestellten Materialien zusammengefaßt waren, wurden Puppen geordnet: Ein Mann, der die Mobilmachung auf einer Plakatsäule liest; ein Verwundeter; ein Invalide, der eine Frau tröstet, deren Mann auf dem Schlachtfeld getötet wurde; ein Demonstrant während der Novemberrevolution. Um die Aussage zu klären, wurde also zum Mittel der theatralischen Inszenierung gegriffen.
4. Durch die Diskussion um das Historische Museum Frankfurt ist deutlich geworden, wie notwendig es ist, Probleme der Ausstellungsästhetik wissenschaftlich zu erforschen. Dafür wird jedoch kein Geld zur Verfügung gestellt. Während Millionen für Museumsneubauten ausgegeben werden, gibt es keinen Pfennig für eine Wirkungsanalyse dieser Projekte.
5. Kein noch so ausgeklügeltes Informationssystem macht die didaktische Arbeit des Museumswissenschaftlers überflüssig. Im Gegenteil: In dem Maße, in dem die Information vermehrt wird, vermehren sich auch die Fragen.

Nachbe­mer­kung zur Forderung nach einem „genuß­vollen Museum­s­er­lebnis”

Über reine Kunst
Me-ti sagte: Neulich fragte mich der Dichter Kin-jeh, ob er in diesen Zeitläuften Gedichte über Naturstimmungen schreiben dürfe. Ich antwortete ihm: Ja. Als ich ihn wieder traf, fragte ich ihn, ob er Gedichte über Naturstimmungen geschrieben habe. Er antwortete: Nein. Warum, fragte ich. Er sagte: Ich stellte mir die Aufgabe, das Geräusch fallender Regentropfen zu einem genußvollen Erlebnis des Lesers zu machen. Darüber nachdenkend und hie und da eine Zeile skizzierend, erkannte ich es als nötig, dieses Geräusch fallender Regentropfen für alle Menschen, also auch für solche Menschen zu einem genußvollen Erlebnis zu machen, die kein Obdach besitzen und denen die Tropfen zwischen Kragen und Hals fallen, während sie zu schlafen versuchen. Vor dieser Aufgabe schreckte ich zurück.
Die Kunst rechnet nicht nur mit dem heutigen Tag, sagte ich versucherisch. Da es immer solche Regentropfen geben wird, könnte ein Gedicht dieser Art lange dauern. Ja, sagte er traurig, wenn es keine solchen Menschen mehr geben wird, denen sie zwischen Kragen und Hals fallen, kann es geschrieben werden.

Bertolt Brecht (1)

Verweise

1 Bertolt Brecht: Me-ti / Buch der Wendungen (Gesammelte Werke 12), Frankfurt 1967, S 511 bzw 509.
2 Sowohl die Konzeption des wie die Auseinandersetzungen um das Historische Museum Frankfurt sind dokumentiert in: Detlef Hoffmann/Almut Junker/Peter Schirmbeck (Hrg): Geschichte als öffentliches Ärgernis, Steinbach 1974.
3 Walter Benjamin: Geschichtsphilosophische Thesen, in: Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt 1965, S 78-94.
4 In: Frankfurter Hefte 5, 1976, S 66-68.
S In: Tendenzen Nr 110, 1976, S 12-16.
6 Die Texte sind in vier Loseblatt-Sammlungen zusammengefaßt, die über das Museum zu beziehen sind,
7 Ein Katalog ist dazu erschienen.

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