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Über deutsche Tradition

vorgängevorgänge 2601/1977Seite 110-111

aus: vorgänge Nr.26 (Heft 2/1977), S. 110-111

Fritz Croner: Die deutsche Tradition. Westdeutscher Verlag, Köln 1976. 266 S, 28 DM.

Fritz Croner, geboren in Deutschland im Anfang des Jahrhunderts, Sozialdemokrat, Gewerkschafter, Wissenschaftler, nach Schweden ausgewandert, hat ein skeptisches und kluges Buch über die Demokratie in der Bundesrepublik geschrieben. Mit Bedacht heißt der Untertitel: „Über die Schwierigkeiten, Demokratie zu leben”.
Um mit dem Schluß zu beginnen: Croner entdeckt in der Bundesrepublik sehr wenig Demokratie, dagegen sehr viele traditionelle Einstellungen. Das gilt auch für die heutige Jugend. Er stützt sich bei seinem Urteil auf Ergebnisse von Meinungsbefragungen, die selbst bei zurückhaltendem Urteil über die Methoden noch seinen Standpunkt bestätigen.
Croner ist davon überzeugt, daß man Demokratie „tun” muß. Sie ist ein Ziel, das nur – in etwa – erreicht werden kann, wenn mehr und immer mehr Menschen sich demokratisch verhalten, d.h. selbständig kritisch an politischen Entwicklungen teilnehmen. Croner unterscheidet zwischen elitärer (repräsentativer) Demokratie und „direkter” Demokratie. Letztere lehnt er schroff ab, verlangt aber mehr partizipatorische Demokratie.
In der Bundesrepublik, so sagt Croner, „ist Demokratie zunächst ein Fremdwort. Sie ist, wie wir wissen, ja auch hier nicht erfunden worden … Es zeigt sich deutlich, daß die Lebensform der Demokratie als reine Herrschaftsform angesehen wird, und sich darin nicht wesentlich von der Herrschaftsform der Diktatur unterscheidet. Demokratie wird immer als ein System von Regeln verstanden, nie als eine Herausforderung und Möglichkeit praktizierter Lebensgestaltung.” Hierzu: Von einer Diktatur unterscheiden sich die Staaten „elitärer” Demokratie ganz wesentlich. Aber die Übertreibung in diesem Satz nimmt den übrigen Bemerkungen nichts an Wirklichkeitssinn.
Der Verfasser, der in Schweden die Jahrzehnte sozialdemokratischer Reformpolitik aktiv miterlebt hat, ist sehr angetan von den „schwedischen Experimenten in Demokratie”. Es ist vorallem die Praxis der „Beratungsgruppen”, die Croner beispielhaft findet. Durch die Sozialdemokratische Partei Schwedens und auch durch die Gewerkschaften aufgefordert, bilden sich im Land Tausende von Gruppen von durchschnittlich zehn bis zwölf Personen, die sich mit bestimmten Fragen beschäftigen, die von einzelnen Ministern gestellt werden und Dinge betreffen, die in den Ministerien bearbeitet und später vom Parlament behandelt werden. Leicht verständliches Informationsmaterial wird allen Teilnehmern geliefert. Die Antworten der Beratungsgruppen werden gesammelt und das, wofür sich eine große Mehrheit ausgesprochen hat, bildet die Grundlage entsprechender Gesetzesentwürfe. Auch Personen, die weder der Sozialdemokratischen Partei noch den Gewerkschaften angehören, können Beratungsgruppen bilden oder ihnen angehören.
Erreicht wird damit, große Teile der Bevölkerung politisch zu aktivieren, so daß sie direkten Einfluß ausüben können und daß ein starkes gegenseitiges Informationsbedürfnis in Form eines Dialoges zwischen Ministern und Bevölkerung befriedigt wird. Allerdings setzt eine solche erfolgreiche Partizipation von Massen eine gewisse Einheitlichkeit der Anschauungen voraus. In Schweden haben an einzelnen Befragungsaktionen mehr als 70000 Bürger teilgenommen, was etwa 600 000 Personen in der Bundesrepublik entsprechen würde. Parteitätigkeit wird in Schweden nicht vonvornherein abgewertet und als Parteiegoismus beschimpft.
Man stelle sich jedoch vor, welches Echo entsprechende Aktionen der SPD und der Gewerkschaften in der Bundesrepublik hervorrufen würde. Gewerkschaftsstaat, Filzokratie und Manipulation würde es landauf landab heißen. Und wenn die
Unionsparteien ebenfalls ihre Mitglieder mobilisieren würden – das steht der Opposition in Schweden natürlich frei -, dann gäbe es nicht mehr einen offenen Dialog zwischen Regierung und Bevölkerung, sondern das Ganze würde in parteitaktischem Gezänk untergehen.
Damit kommt man zur „deutschen Tradition”. Croners historische Ausführungen beginnen mit der Rolle der Romantik und stellen dar, wie es zu einer Mischung zwischen der „Maßlosigkeit” der Romantik und „der ,inneren` Disziplin, dem Gehorchen-Dürfen und der Organisationstüchtigkeit” kommt. 
Croner: „In der gegenseitigen Verschlingung von preußischem Militarismus und deutsch-romantischer Wirklichkeitsverkennung und Wirklichkeitsverfälschung haben beide einander wirkungsvoll ergänzt. Programm und Aktivität einerseits, Ideologie und Dichtung andererseits; man konnte immer auswählen, was gerade paßte, und tat es auch!”
Man kann kritische und ergänzende Fragezeichen an den Text schreiben. Man kann die Wurzeln der deutschen Tradition viel weiter zurückverfolgen als bis zur Romantik, man kann meinen, die Bedeutung z.B. Hans Zehrers sei weit überschätzt – dennoch bleibt Croners Darstellung eine fesselnde und überzeugende Kurzgeschichte deutscher Entwicklungen vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zu Willy Brandt. Wichtig ist auch, daß Grüner die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Faktoren nie aus den Augen verliert. Eindrucksvolle Statistiken und Zahlen ergänzen seine Ausführungen.

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