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Das Reservat der Utopie und der Rückkehr zur Heimat

aus: vorgänge Nr.26 (Heft 2/1977), S. 49-57

Die Sehnsucht nach einem verlorenen Paradies, der Traum von einem Reich der Freiheit und Gerech­tig­keit ist dem Bewußtsein der gepeinigten Menschheit unterlegt um ihres Überlebens willen. Der Kampf gegen die Entmensch­li­chung des Menschen lebt von dieser Utopie; sie gibt seiner Geschichte Sinn und Richtung. Von dieser „Insel des Sinns” in einer nicht-­mensch­li­chen Welt handelt in dem folgenden Aufsatz der Münchener Geschichts­phi­lo­soph Johann Ludwig Döderlein.

Die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies

Seit Jahrtausenden müht sich die gepeinigte Menschheit um die Bewältigung einer ebenso trostlosen wie trivialen Aufgabe. Sie besteht darin, in Sicherheit und Frieden essen und wohnen, arbeiten und leben zu können. Seit Jahrtausenden sehnen die Menschen sich danach, in eine als Paradies empfundene wirkliche Heimat zurückzukehren, aus der sie einmal vertrieben worden sind. Wovon Mythen und Märchen erzählen, was die Stifter von Religionen gewollt, was Philosophen ergrübelt, Dichter erträumt, Gelehrte erforscht, Staatsmänner und Revolutionäre erstrebt haben und wodurch Menschen in Bewegung gebracht wurden – all dies dreht sich um diesen Pol des Menschseins und der Menschlichkeit. Im tiefsten Grunde ist es aber nur die Notwendigkeit, den Fortbestand des menschlichen Lebens auf dieser Erde im Guten oder im Bösen zu sichern, die das Sinnen und Trachten, das Denken und Tun der Menschen in unablässiger Bewegung hält. Das Ziel, das man erreichen wollte, blieb ein Ideal und wurde immer wieder aufs neue als eine Utopie, als ein niemals auszuführender Plan menschheitlicher Ordnung verkündet.

Die materiellen Voraus­set­zungen

Die einfache Tatsache, daß der utopische Menschheitstraum ohne bestimmte materielle Voraussetzungen niemals zu verwirklichen sei, regte immer wieder dazu an, den Nachweis zu führen, daß diese materiellen Voraussetzungen im Laufe der Zeit fortschreitend dazu heranreifen, die Menschheit eines fernen Tages doch einmal in einen von Nöten und Sorgen freien Zustand zu versetzen. Diese Wünschbarkeit und Zukünftigkeit des Noch-Nicht-Seins einer befriedeten Menschheit wird also als Utopie von wissenschaftlich geführten Nachweisen begleitet, daß die fortschreitenden Veränderungen der Lebensbedingungen den Menschen zwangsläufig vor Aufgaben stellt, die er um des Weiterlebens oder des Überlebens willen lösen muß.

„Sozi­a­lismus oder Barbarei”

Für Marx gipfelt diese wissenschaftlich gestützte Utopie in der Alternative: Sozialismus oder Barbarei. Wenn die Umwandlung der kapitalistischen Produktionsweise in die sozialistische nicht gelänge, das heißt wenn die Produktionsmittel aus privater nicht in gesellschaftliche Verfügungsgewalt übergingen, dann sei die Barbarei keine abstrakte Drohung, sondern die konkrete Erwartung des Untergangs der ganzen Menschengesellschaft. Weltkriege, wie die beiden in unserem Jahrhundert stattgefundenen und ein möglicher dritter sind dem Marxismus zufolge ein integraler Bestandteil des kapitalistischen Systems und ebenso unvermeidlich, wie die immer engere Verflechtung der Staatsgewalt mit der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, die begleitet sei vom Wiederaufleben der direkten Sklaverei und dem Anwachsen der sogenannten parasitären Schichten. Kriege und Bürgerkriege gehörten dann zur Existenzgewohnheit der bürgerlichen Gesellschaft; Interventionen ausländischen Mächte, die mit wirtschaftlichen Repressalien vorbereitet würden, seien an der Tagesordnung; nationale Minderheiten würden, wenn nicht vernichtet, so doch vertrieben oder unterdrückt; ein beständig zunehmender Prozentsatz des Sozialprodukts entfalle auf die Herstellung von Zerstörungsmitteln, sowie auf den Unterhalt der mit Zerstörungsaufgaben betrauten Dienste und Einrichtungen, während die öffentliche Bettelei für alle möglichen lindernden und ablenkenden Zwecke zunehme.

Ein neues Utopie-­Be­wußt­sein ist notwendig

Für einen Marxisten sind nun derartige Voraussagen, wie man sie seit mehreren Jahrzehnten mit einer durch Hinweise auf Realitäten nicht zu mindernden Wiederholungsfreude immer wieder von neuem vernehmen kann, nicht zu erschüttern, obwohl die Erfahrungen der letzten dreißig Jahre uns hinlänglich belehrt haben, daß es nicht mehr darauf ankommen kann, den Gang der geschichtlichen Entwicklung vorauszubestimmen. Vielmehr: Ein neues Bewußtsein von der Realisierbarkeit der alten, auf die Vernunft und das Naturrecht gegründeten Utopien ist notwendig und muß sich im Dickicht unserer von den zivilisatorischen Tendenzen des Jahrhunderts gestellten Daseinsprobleme Bahn brechen. Die alten Gesellschaftsordnungen der Antike und des Mittelalters mit ihren Eigentumsverhältnissen und Klassenbildungen haben viele Jahrhunderte gebraucht, bis sie sich im Fortschritt des Bewußtseins der Freiheit erledigten und schließlich von der bürgerlichen Gesellschaft abgelöst wurden. Diese ist nur nach langen Kämpfen und mit Hilfe blutiger Revolutionen aus dem Schoß der Zeit geboren worden. Es ist ein Wahn, wenn man versuchen will, die bürgerliche Gesellschaftsordnung mit ihren Eigentumsverhältnissen und ihrer Klassenstruktur zu verewigen.

Ernst Blochs Prinzip Hoffnung

Mit diesen auf die Lehre von Marx gegründeten und von den Marxisten in Ernst Blochs unserem Jahrhundert propagierten Erkenntnissen hat die Weltbewegung des Kommunismus vom Prinzip Hoffnung her zu deuten versucht. Das Prinzip Hoffnung muß sich in den Raum der politischen Verwirklichung hinein öffnen, wo das ideologische Hinterland gleichsam nur den Nachschub bereithält für die Front, an der das Novum, das heißt, die neue Gesellschaft und das neue Menschentum erkämpft und der Umsturz vollzogen wird. Am Ende von Blochs Riesenwerk steht nicht der eschatologische Ausblick auf das tausendjährige Reich, das irgendwann einmal anbrechen soll, sondern der humane Aspekt des Marxismus, der die Entmenschlichung des Menschen aufheben und eine noch niemals im Großen und Allgemeinen bewährte Menschlichkeit verwirklichen will.

Ziel der Hoffnung:  Freiheit

Das Ziel, auf das die Hoffnung gerichtet ist, wird mit dem viel gebrauchten und mißbrauchten Begriff „Freiheit” bezeichnet; es ist die Freiheit im Sinne der Befreiung des Menschen von überständig gewordenen Einengungen und Zwängen wie von Strebungen und Vorstellungen, die sich in unserer Zeit als illusorisch erweisen müssen. Es sind freilich die Freiheiten, die schon vom Liberalismus des 19. Jahrhunderts verkündet wurden und die in unserem Jahrhundert noch einen bürgerlichen Demokraten wie Franklin Delano Roosevelt dazu inspiriert haben, eine neue Weltordnung zu verkünden und erste Blicke auf das gelobte Land einer befriedeten Menschheit zu werfen. Es ist die Freiheit von Not und die Freiheit von Furcht, die Freiheit der Entfaltung menschlicher Anlagen und die Freiheit der nicht zu vereitelnden Solidarität unter den Menschen; aber diese Freiheiten liegen nicht in einem fernen Reich, sondern sollen schon in unserer Epoche, die den Kommunismus hervorbringen wird, ihr Licht verbreiten, indem sie in gradueller, allmählicher Annäherung realisierbar werden. Diese mögliche Realisierung der Freiheiten soll den Menschen in eine Heimat führen oder zurückbringen, aus der er vertrieben wurde oder deutlicher gesagt: aus der er sich selbst herausgetrieben hat. Dadurch hat er sich von sich selbst und von seinen Mitmenschen entfremdet.

Entfremdung

Entfremdung ist der Zustand seines Lebensgefühls geworden, weil in der Gesamtsituation, in die er geraten ist, die Beziehungen zwischen den Menschen als Verhältnisse zwischen Sachen und Dingen erscheinen und weil die durch die Tätigkeit der Menschen hervorgebrachten Produkte wie, auch die Verhältnisse, in denen er lebt und produziert, ihm als fremde, ihn beherrschende Mächte gegenübertreten. Im Kapitalismus hat diese auf politisch-ökonomischem, auf kulturellem und auf religiösem Gebiet erfahrbare Entfremdung einen allumfassenden Charakter angenommen.

Hegel und Feuerbach

Hegel hatte den Prozeß der Entfremdung als Selbstentfremdung durch die Vergegenständlichung menschlicher Wesenskräfte im Arbeitsprozeß gedeutet und die Äußerung der Entfremdung unabhängig von den Bedingungen der Produktion und der Art der Aneignung ihrer Ergebnisse als einen rein geistigen Vorgang erklärt. Ludwig Feuerbach hatte dann die Selbstentfremdung des menschlichen Wesens als die verlorengegangene Einheit des Menschen mit dem Menschen, als den fühlbar gewordenen Gegensatz von Ich und Du, von Individuum und Gattung gedeutet. Zur Selbstentfremdung gehöre dann auch der Zwang, die Welt gleichsam zu verdoppeln und in einem Jenseits das zu suchen, was im Diesseits verloren gegangen ist: eine Heimat. In diesem Sinne seien die Religionen dann nichts anderes als illusionäre, phantastische Reflexe menschlicher Erfahrungen, in denen er sich nicht mit seinem Entfremdungszustand abfinden will. Aber diese geistigen und religiösen Schöpfungen des Menschen, die Imaginationen einer zweiten, jenseitigen Welt, können die verlorene Heimat nicht ersetzen oder wiederkehren lassen. In diesen religiösen Schöpfungen treten dem Menschen wieder objektive, ihn ihrer Willkür ausliefernde Mächte entgegen, ohne daß er sich der neuen Entfremdung bewußt wird, mit der er sich seinen eigenen Gedankenschöpfungen unterwirft.

Entfrem­dungs­er­fah­rung in der Arbeit

Immerhin ist dieser Entfremdungsvorgang vergleichbar mit der Entfremdungserfahrung, die der Mensch in seiner Arbeit erlebt: Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, also das Produkt, tritt ihm als ein fremdes Wesen, als eine vom Produzenten unabhängige Macht gegenüber. In der Bestimmung, daß der Arbeiter sich zum Produkt seiner Arbeit wie zu einem fremden Gegenstand verhält, sind nun die Tatsachen begründet, daß er sich in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, daß er sich unglücklich fühlt und keine freie physische und geistige Energie entwickeln kann. Von hier aus sind dann alle dem Kapitalismus eigenen verhängnisvollen gesellschaftlichen und menschlichen Konsequenzen abzuleiten und all die Entfremdungsphänomene zu erklären, die in den Widersprüchen zwischen dem Volk und dem Staat, zwischen persönlichen und gesellschaftlichen Interessen und zwischen dem nicht bewußt gewordenen Zwang und der bewußt gewordenen Freiheit im Verhalten und im Handeln zutage treten.
„Aber als ein letzthin freies Leben wurde stets ein Leben jenseits der Arbeit und der damit aufgeworfenen gesellschaftlichen Probleme gemeint. Was aber damit erstrebt wurde, erschien nur als Traum an den geschichtlichen Rändern: Rückwärts im Zeitalter, das deshalb ein Goldenes genannt wird und vorwärts im Reich der Freiheit. Das Recht auf ein solches Leben in einer wahren Heimat klingt daher utopisch, und so wurde auch Naturrechtliches als Rechtsutopie bezeichnet.” Soweit Bloch.

Naturrecht – der „strenge Vetter der Utopie”

Es sind einmal Sozialutopien als Erzeugnisse einer vorausschweifenden  Phantasie, die von den Tatsachen der Entfremdung aus ins Reich des Möglichen dringt, zum andern ist es das Naturrecht, der strenge Vetter der Utopie, wie es im „Prinzip Hoffnung” heißt, das die Bedingungen der Möglichkeit eines unverminderten Menschseins in der Gesellschaft und damit der Aufhebung der Entfremdung bereithält. Das der natürlichen menschlichen Vernunft entspringende und von ihr geforderte Recht hat darum einen utopischen Charakter, weil es als das ewig gleiche Recht dem historischen Wandel nicht ausgesetzt ist und sich den historischen, politisch motivierten Rechtssatzungen einzelner Staaten und Völker, also dem positiven Recht nicht anpassen muß. Im Gegenteil: Die wandelbaren geschichtlichen Rechtssatzungen müssen sich, wenn sie an den ewig geltenden moralischen Normen gemessen werden, vor den Forderungen des Naturrechts legitimieren.

Naturrecht und Sozia­l­u­to­pien: Abschaffung des Elends – Abschaffung der Ernied­ri­gung

Wer das Naturrecht als ein Korrektiv für eine durch den Fortschritt der Zivilisation entfremdete Menschheit gebrauchen will, muß fragen, wie es einen Zusammenhang zwischen dem Naturrecht und den Sozialutopien geben kann. Die Blüte des Naturrechts fällt in das 17. und 18. Jahrhundert, die Sozialutopien haben im frühen 19. Jahrhundert ihre klassisch zu nennende Ausprägung gefunden. Sie sind im Zeichen der industriellen Revolution entworfen und verkündet worden. Sie gehen, wie Bloch sagt, überwiegend auf Glück, mindestens aber auf Abschaffung der Not und der Zustände, die diese erhalten oder produzieren und damit das Heimatrecht der Menschen auf dieser Erde in Abrede stellen. Die Naturrechtstheorien gehen überwiegend auf Würde, auf Menschenrechte, auf juristische Garantien der menschlichen Sicherheit und Freiheit als Kategorien des humanen Stolzes. Demgemäß richtet sich die Sozialutopie vor allem auf Abschaffung des menschlichen Elends, das Naturrecht vor allem auf Abschaffung der menschlichen Erniedrigung. So ist das humanistische Element in Sozialutopien und Naturrechtslehren weitgehend verschieden. Um diesen Unterschied auf sinnfällige Weise deutlich zu machen, kann man sagen: Bei den Sozialutopien geben die Phäaken, beim Naturrecht gibt Brutus ein Modell.

Historische Verschrän­kungen

Doch beide Manifestationen der Humanität haben eine lange Geschichte, und diese beweist, daß es da zwischen beiden Gedankenrichtungen, die auf eine Wiederherstellung menschlicher Zustände und auf eine Rückkehr in die eigentliche menschliche Heimat zielen, Verschränkungen gibt. .
Platon, die Stoa und Augustin entwarfen Idealstaaten, Thomas Morus, Campanella und Bacon schrieben ihre Utopien mit naturrechtlichen Seitenblicken. Die Stoa hat ihre Naturrechtslehre im engen Zusammenhang mit ihrer Weltstaatsutopie entwickelt. Aber auch das eigentliche klassische Naturrecht, das des 17. und 18. Jahrhunderts, ist mit den Sozialutopien durch einen Generalnenner verbunden: Durch die gleiche Art gutmachenwollender und wiederherstellender Projektion, wie Bloch sagt, und dies nicht nur in einem positiv konstruierenden, sondern auch in einem negativ ignorierenden Sinn.
Hier wie dort wird eine aus den Erfahrungen, das heißt aus gegebenen schlechten Umständen herrührende Durchkreuzung fortgelassen; hier wie dort wird in reibungsloser Weise von der Natur des Menschen her und zur Natur des Menschen hin eine Zweckbeziehung mit besseren Mitteln als bisher ausgeformt. Der Unnatur der jeweils gegenwärtigen Verhältnisse wird immer eine Art von sozialistischer Natur entgegen-gestellt. So hatten zu Beginn des 19. Jahrhunderts Samt Simon, Owen und Fourier verfahren.

Marx‘ Durchbruch zur Konkretheit

Marx aber sprengte die Abstraktheit und angebliche Ewigkeit der so ausgedachten vernünftigen Theorien. Er nimmt, wie Bloch sagt, die Maße und vor allem die Wege des Sozialismus aus der dialektisch konkreten Geschichte statt aus der Privatheit des Besserwissenwollens und der von außen herangebrachten unhistorischen Idee einer unveränderlichen Menschlichkeit. Übrig blieben, wie Friedrich Engels von den Sozialutopien sagt, „die genialen Gedankenkeime und Gedanken, die unter der phantastischen Hülle überall und immer wieder hervorbrechen und für die die Philister blind sind”.

Das Naturrecht als Regulativ des Sozialismus

Das Naturrecht blieb trotz seiner von Marx angeführten politisch-historischen Schwäche für den Sozialismus ein Regulativ, das heißt eine Zielvorstellung, von der aus unsere Erfahrungen und unsere Absichten auf ihre humane und moralische Bedeutsamkeit hin beurteilt werden. Der im Sozialismus enthaltene proletarische Humanismus ist nur durch die Überlieferung des Naturrechts denkbar. Marx selbst nimmt die vernichtete Würde des Menschen in der Klasse mit radikalen Ketten als Argument, um auf eine Sphäre hinzuweisen, eine Sphäre der Inhumanität, welche kein besonderes Recht in Anspruch nimmt, weil kein besonderes Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin in ihr verübt wird. Ein Unrecht schlechthin kann aber als solches weder bezeichnet, noch gemessen, noch gutgemacht werden, wenn kein Recht schlechthin und keine naturrechtliche Rechtsutopie anerkannt werden.
Die von Marx und Engels als das zu erreichende Ziel verkündete Emanzipation des Menschen oder besser gesagt: zum Menschen hat zur Voraussetzung weniger den philanthropischen Affekt der Sozialutopien als das auf Vernunft und Gewissen gegründete Pathos des Naturrechts. Utopisch und naturrechtlich motiviert lautet die Maxime des Sozialismus: Keine menschliche Würde ohne Ende der Not und kein den Menschen gemäßes Glück ohne das Ende alter und neuer Zwänge, die den Menschen von sich und seinesgleichen in der Welt entfremden.

„Wesen des Menschen”?

Wer auf diese Weise die Menschlichkeit des Menschen in einem utopischen Bewußtsein festzuhalten und durch naturrechtliche Forderungen zu sichern versucht, muß in die Gefahr geraten, den bis auf den heutigen Tag abgelaufenen und von Epoche zu Epoche auf immer neue, wechselnde Tendenzen gerichteten geschichtlichen Prozeß nur von den negativen Entfremdungsmomenten her zu erfassen. Es hat seine Bedenken, vom Menschen und der Menschlichkeit überhaupt zu sprechen. Man schreibt dann dem Menschen ein Wesen oder eine Struktur zu, die einerseits intakt bleiben und andererseits gestört werden kann. Diese Rede vom Menschen ist, wie Hans Freyer sagt, für immer diskreditiert und sogar objektiv verdorben worden – durch die abstrakte Philosophie und vor allem durch die Politik, wobei die erstere für die Einbrüche der letzteren. erst die . Möglichkeit geschaffen hat. Dies ist dadurch zu erklären, daß für ein historisch verantwortliches politisches Handeln fernliegende utopische Ziele gesetzt sind und eine nicht praktikable Verfahrens- und Handlungsmethode durch naturrechtliche Vorschriften befolgt werden soll.

Leeres Schema

Nichts ist leichter, als das Wesen des Menschen schematisch festzulegen und alle konkreten Erfüllungen nur als historische Varianten, als zufällig und situationsbedingt abzutun. In der Leere des Schemas ist ja alles schon untergebracht, was man später vielleicht noch brauchen kann, um eine vorgegebene, mit Axiomen und Maximen ausgestattete Theorie zusätzlich zu stützen. So verfahren alle politischen Systeme, wenn sie die naturrechtliche Denkweise und einen zweckmäßig zusammengestellten Katalog der Menschenrechte zur Legitimierung ihrer Machtordnung und ihrer politischen Praktiken benutzen wollen. Die klassischen Grundrechte der liberalen Demokratie sind unter dem Zeichen der Humanität oder des Humanismus in der gleichen Weise in einem Katalog zusammengefaßt worden, wie die Rechtsnormen und Rechtsforderungen für eine sozialistische Gesellschaftsordnung unter dem Zeichen eines realen Humanismus, wie ihn Marx und Engels verstanden, und auf den sich Lenin, Stalin und Mao tse tung immer wieder berufen haben.

Kommu­nis­ti­scher  Humanismus

Auf jeden Fall ist einer Verwechslung des europäisch-amerikanischen Humanismus oder Humanitarismus mit dem Humanismus der kommunistischen Mächte vorzubeugen, wenn auch nur am Rande utopische Gedanken von der Wiederherstellung einer verloren gegangenen Menschlichkeit und der Rückkehr in die eigentliche menschliche Heimat zur Rede stehen. „Im Sozialismus”, heißt es in einem als programmatisch anzusehenden sowjetischen Essay, „ist echte Menschenliebe nicht mit abstraktem, sei es religiösem, sei es ethischem Humanismus und abstrakt aufgefaßten Werten zu vereinbaren. Sie bildet eine organische Einheit mit der Unversöhnlichkeit gegenüber den Feinden des Kommunismus, und das heißt der Menschlichkeit und der natürlichen Menschenrechte.”

Mao: Allgemeine Menschen­liebe erst jenseits der Klassen­ge­sell­schaft

In einem ähnlichen Sinn hat sich Mao tse tung in den Reden an die Schriftsteller und Künstler im neuen China geäußert. „Manche Genossen sagen”, heißt es da, „daß alles aus Liebe hervorgehen muß. Nehmen wir diese sogenannte Liebe als Beispiel – da müssen wir doch erkennen, daß es in der Klassengesellschaft nur die klassenbedingte Liebe gibt. Diese Genossen fordern eine über den Klassen stehende allgemeine Menschenliebe, eine abstrakte Liebe, wie sie auch eine abstrakte Freiheit, eine abstrakte Wahrheit und eine abstrakte menschliche Natur fordern. Eine sogenannte Liebe zur Menschlichkeit hat es seit der Spaltung der Menschheit in Klassen nicht mehr gegeben. Die herrschenden Klassen haben sich wohl dafür eingesetzt, Konfuzius und Tolstoi haben sie gefordert, aber sie ist ja nie verwirklicht worden. Die wahre Liebe zur Menschheit wird sicher einmal kommen, aber erst nach der Beseitigung der Klassen auf der Welt.”
Die in der Zukunft in einem noch fernliegenden Reich beheimatete wahre Humanität setzt also das System der Entfremdung oder der Entfremdungen voraus, in dem die menschlichen Reserven bereits vorhanden sind, aus denen in der Auseinandersetzung mit den Beharrungsmächten der Zeit, für den Marxisten also im Klassenkampf, die Hoffnung auf die Erfüllung des ältesten Traums der Menschheit geschöpft wird.

Welche Reserven hat die Menschheit noch für eine bessere Zukunft?

Wer die in der Gegenwart zu allgemeiner Erfahrung gewordene reduzierte Menschlichkeit von der Erwartung einer besseren Zukunft her mit Sinn erfüllen will, ist vor drei wichtige Fragen gestellt: Sind die Kräfte oder die Reserven noch so intakt, daß sie die Hoffnung auf die bessere Zukunft rechtfertigen? Können sie ohne Verfälschung mobilisiert werden? Und: Besitzen sie genügend Elastizität oder Wandlungsfähigkeit, um in den noch zu bestehenden Entfremdungssituationen Hoffnungen auf eine Lösung der Rätsel unseres Daseins beleben zu können? Ein Denker wie Theodor W. Adorno hat auf diese drei Fragen mit Nein geantwortet. Die Dialektik des Weltlaufs im Prozeß der Geschichte kann nur einen negativen Sinn zur Erkenntnis bringen. Die Natur läßt sich mit der Zivilisation nicht versöhnen, und die Geschichte der Menschheit wird niemals in ein Paradies einmünden.

Adornos Negative Dialektik

Für Hegel und für Marx lag der Sinn der Dialektik in der Negation der Negation, was einen Umschlag ins Positive und zugleich die Gewißheit des Positiven bedeuten mußte; denn dadurch kam das Denken und der die Negativitäten immer wieder herausstellende Prozeß der Geschichte ja zu einem Ende, und die Identität von Vernunft und Wirklichkeit war erreicht. Die Negativitäten sind aber weder im Begriff noch in der Hoffnung auf ein mögliches Reich allgemeiner Menschenliebe auflösbar und mit dieser unserer Welt und Wirklichkeit nicht identifizierbar. In einer negativen Dialektik – so heißt der Titel von Adornos Hauptwerk – ist Dialektik nur der Abdruck eines allgemeinen Verblendungszusammenhangs, der weder durch Harmonisierungen noch durch Utopien beseitigt werden kann. Denn das Weltsystem ist und bleibt das allerbedingteste derer, die darüber verfügen und nicht einmal wissen, wie sehr es ihr eigenes ist. „Der materielle gesellschaftliche Produktionsvorgang als das bestimmende Moment der Geschichte ist ein Unauf gelöstes, Unversöhntes und ein Unauflösbares und Unversöhnbares.” Dies die Worte Adornos.

Sorel: Rational aufgeputzte Mythen

Will man aus der Geschichte eine Anweisung auf eine Lösung der Menschheitsprobleme finden, so wird man, wie Georges Sorel das ausgedrückt hat, nur rational aufgeputzten Mythen begegnen, von denen die Menschen in Bewegung gehalten wurden. Und es sind dann nur primitive Triebe aus dunklen Schichten des Menschentums, die unter dem Motto von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit emporschießen und in einer bürokratisch verwalteten technisch industriellen Umwelt die Chancen für eine zivilisierte Barbarei wittern und auch zu ergreifen versuchen.

Mensch­lich­keit: Forderung und stets bedrohte Position

Dies ist also ein Aspekt der Zukunft, in dem die Entfremdungen gleichsam verewigt sind. Aber in der Geschichte sind ja auch diejenigen Situationen zu erkennen, aus denen realisierte Begriffe des Menschen und der Menschlichkeit abgelesen werden können. Die Menschheit hat ihre Menschlichkeit erworben und gewahrt, indem sie von Epoche zu Epoche diese Menschlichkeit in bestimmten Situationen zur Geltung brachte, und eine verlorene Menschlichkeit wurde wiedergewonnen, indem sie durch Wandlungen ihrer selbst noch immer einer entfremdeten Umwelt Herr wurde, in die sie sich verirrt oder in die sie sich gewagt hatte. Das Naturrecht hatte richtig erkannt, daß Menschlichkeit eine Forderung ist und zugleich eine Position, die immer bedroht bleibt. ,

Eine Insel des Sinns

In jedem einzelnen Fall ist die Menschlichkeit in der Geschichte eine Insel gewesen, eine Insel des Sinns in einer zwar nicht sinnlosen aber nicht-menschlichen Welt, eine Insel, die, sei es in glückhafter Fahrt, sei es im Abenteuer, sei es im Schiffbruch erreicht worden ist und die nun auch in Zukunft gehalten werden muß. Von dieser Insel aus sind die gegen unser Jahrhundert gerichteten Tendenzen zu erkennen, die den mit dem Fortschritt der technisch industriellen Zivilisation herbeigeführten Entfremdungen ein Paroli bieten und die Möglichkeit der Rückkehr in eine Heimat im Blick behalten, in der der mit Vernunft begabte Mensch dem Menschen ein Helfer sein wird.

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