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Der Vater der Futurologie

vorgängevorgänge 2601/1977Seite 113-114

aus: vorgänge Nr.26 (Heft2/1977), S.113-114

Blaise Pascal, der geniale religiöse Denker des 17. Jahrhunderts, der schon von den Vorboten der Aufklärung bewegt wurde, hat einmal gesagt: „Die Vergangenheit und Gegenwart sind unsere Mittel. Die Zukunft allein ist unser Zweck.” Das Wort könnte über dem Lebenswerk Ossip K. Flechtheims stehen, einem späten Sohn der Aufklärung, der 1974 sein 65. Lebensjahr vollendet und sich seither durch Emeritierung dem akademischen Tagesbetrieb entzogen hat. Schüler, Freunde und Weggenossen haben ihm nun eine Festschrift gewidmet, die unter dem Titel Systemwandel und Demokratisierung in der Europäischen Verlagsanstaltin Frankfurt (DM 19,80) erschienen ist.
Festschriften sind hierzulande alter akademischer Brauch. Es gelingt daher nur wenigen das Durchschnittsmaß überragenden Gelehrten, sich dieser besonderen, häufig aber auch besonders fragwürdigen Form der Ehrung zu entziehen, sofern sie das dafür vorgesehene Lebensalter erreichen. Wir wissen nicht, ob Flechtheim, der so garnicht der deutschen Normalvorstellung von einem akademischen Lehrer entspricht, sich eine Festschrift gewünscht hat oder ob er nun, da sie vorliegt, Freude daran haben wird. Der nicht unmittelbar betroffene Leser begegnet diesem Opus von mehr als 450 Seiten mit etwas gemischten Gefühlen.
Er empfindet zwei Dinge als Ärgernis, die den Herausgebern Christian Fenner und Bernhard Blanke und vielleicht auch dem Verlag anzulasten sind. Einmal wäre es, da keiner der Beiträge detaillierte Auskunft über Flechtheims Lebensweg gibt, unbedingt nötig gewesen, den Leser darüber auf einer Zeittafel zu unterrichten. Zum andern sind die Herausgeber eines Sammelbandes, der ja nicht nur für den engsten Kreis der Fachkollegen bestimmt ist, dem Leser Auskunft über die wichtigsten Personalien der 24 Autoren schuldig, die zu dieser Festschrift beigetragen haben.
Es ist nur natürlich, daß bei einer solchen Vielzahl von Beiträgen die Aufsätze von unterschiedlicher Qualität und ungleichem Gewicht sind. Lesenswert sind sie jedoch durchweg, mag auch in einigen Fällen der wissenschaftliche Jargon manchem Leser das Verständnis erschweren. Als Bei-träge zum Verständnis der politischen Situation in der Bundesrepublik erscheinen dem Rezensenten zwei Aufsätze besonderes Gewicht zu haben. Einmal die Studie über „Die zivile Linke zwischen Konterreform und Stadtguerilla” von Theodor Ebert; mit ihrem eindeutigen Bekenntnis zu gewaltloser Veränderung unserer gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse erweist sich diese Arbeit als Geist vom Geiste Ossip Flechtheims, der zu den wenigen konsequenten Anhängern der Gewaltlosigkeit in Deutschland gehört und einmal gesagt hat: „Die Rettung des homo humanus erfordert einen massiven Einsatz aller humanen Mittel – der politischen und ökonomischen, der sozialen und kulturellen, der psychologischen und persönlichen.” Nicht weniger bemerkenswert ist Iring Fetscliers Untersuchung der beiden Fragen „Wie ist d e m o k r a t i s c h e r Sozialismus möglich? Warum ist demokratischer S o z i a l i s m u s nötig?” Fetscher beantwortet beide Fragen ganz im Sinne Flechtheims und bekennt sich mit ihm zu der These, daß nur auf dem Wege über einen demokratischen Sozialismus die Zukunft gesichert werden kann. Und im Geiste Flechtheims schließt Fetscher seine Untersuchung mit dem Satz: „Aber es gibt in der Geschichte keine Garantie dafür, daß die rationalen und humanen Lösungen sich durchsetzen.”
Das ist gleichsam die Summe von Flechtheims Lebenserfahrung. Der eingangs zitierte Satz von Pascal hätte diesem Buch als Motto wohl angestanden. Ossip Flechtheim, wegen seiner Abstammung u n d seiner politischen Ansichten aus Deutschland vertrieben, hätte, da er sich in Amerika eine akademische Stellung von Rang geschaffen hatte, wohl Grund gehabt, seinem Vaterland fernzubleiben. Das hätte freilich seiner Art nicht entsprochen, sondern er sah seine Aufgabe nach dem Sturz der faschistischen Gewaltherrschaft in Deutschland gerade wieder in seiner geistigen Heimat Berlin. Hans Joachim Heydorn schreibt dazu in seiner die Festschrift einleitenden Laudatio: „Menschlichkeit müssen wir selber erzeugen … der Prozeß ihrer Hervorbringung ist der schwerste Prozeß ihres Werdens. Mehr als alles andere ist Flechtheim Moralist, ein heute diskreditiertes Wort, obgleich gerade auch die Linke Moralisten dieser Art dringend nötig hätte, die den Fortschritt messen am wirklichen Glück des Menschen und nicht an der Apparatur eines Begriffsystems.“ Aus dieser Position des Moralisten heraus ist Ossip Flechtheim zum Vater der Futurologie geworden. Er hat den Namen dieser neuen Wissenschaft geprägt, die noch in ihren Anfängen steckt. Es geht ihm dabei nach seinen eigenen Worten „um die Aufdeckung der menschlicheren Zukunft im Vorhandenen”. Er verschließt sich nicht den Schwierigkeiten, auf die jede radikale Utopie stoßen muß, und er weiß: „Wir haben nicht mehr allzuviel Zeit, um unser Haus – d.h. den Planeten Erde – in Ordnung zu bringen.” Er ist skeptisch, ob wir diese Zeit nutzen werden, aber er verzweifelt nicht.
Position, Rang und Verdienst Flechtheims kann man nicht besser umschreiben als mit den Worten des Lehrers, Freundes und Weggenossen Erich Fromm, der seinen eigenen Standort in einem kurzen, englisch geschriebenen Beitrag zu dieser Festschrift folgendermaßen darstellt:
„Mein Standpunkt ist der eines rationalen Glaubens an die Fähigkeit des Menschen, sich aus dem tödlichen Netz der Umstände zu befreien, das er selbst geschaffen hat. Es ist der Standpunkt derer, die weder ,Optimisten` noch ,Pessimisten` sind, sondern Radikale, die den rationalen Glauben haben an die Fähigkeit des Menschen, die äußerste Katastrophe zu vermeiden. Dieser humanistische Radikalismus geht an die Wurzeln und damit an die Ursachen; er versucht den Menschen aus den Ketten seiner Illusionen zu befreien; er fordert, daß grundlegende Änderungen nötig sind – nicht nur in unserer wirtschaftlichen und politischen Struktur, sondern auch in unsern Werten, in unsern Vorstellungen von den Zielen des Menschen und in unserm persönlichen Verhalten … Die Lage der Menschheit ist heute zu ernst, als daß wir uns gestatten könnten, auf die Demagogen zu hören – schon garnicht auf die Demagogen, die von der Vernichtung angelockt werden; oder auch nur auf Führer, welche allein ihren Verstand benutzen und deren Herzen verhärtet sind. Kritisches und radikales Denken wird nur dann Früchte tragen, wenn es sich mit der kostbarsten Eigenschaft verbindet, die dem Menschen gegeben ist: mit der Liebe zum Leben.”
Im Sinne dieser Sätze von Erich Fromm war der nunmehr Privatmann gewordene Ossip Flechtheim ein Radikaler im öffentlichen Dienst. Es stände besser um unser Land, wenn es deren mehr gäbe.

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