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Editorial: Die vergessene Geschichte

vorgängevorgänge 2601/1977Seite 23-24

aus: vorgänge Nr.26 (Heft 2/1977), S.23-24

Gustav Heinemann hatte während seiner Amtszeit e i n Thema, auf dem er bestand: die a n d e r e Geschichte der Deutschen: den Bauernkrieg 1525, die deutschen „Jakobiner” Ende des 18. Jahrhunderts, die mißratene Revolution 1848/49, die ebenso mißratene Novemberrevolution 1918 etwa – Stationen des Scheiterns! Aber der Bürgerpräsident meinte, man dürfe sich nicht abfinden damit, daß gesagt werde, es hätten sich „Bauern zusammengerottet, und sie seien alsbald niedergeschlagen worden” (3. 11. 1969). „Es ist nun einmal so: Die Geschichte wird immer vom Sieger geschrieben, und alle diese früheren Anläufe auf eine freiheitliche Ordnung in Deutschland sind eben nicht durchgebrochen”, sagte er auch. Die Fürsten, die Könige und Kaiser, die Bismarcks und Konsorten, die Scheidemänner und Kompromißler – sie haben obsiegt und die „wirkliche” Geschichte bestimmt. Nicht aber die bessere. Dies also ist Aspekt Nr. 1 unseres Heftes: Die vergessene Geschichte…
Aspekt Nr. 2 heißt etwa: „Schlechte”, peinliche Daten unserer Nationalgeschichte werden verdrängt oder auch „aufgewogen” durch scheinbare Heldentaten der Deutschen oder auch Greueltaten der Gegner. Die KZs werden aufgerechnet gegen Leistungen drauf-gängerischer Soldaten (wie des unbelehrbaren Rudel) oder durch den Hinweis auf die Zerstörung Dresdens, die Vertreibung Ostdeutscher etc. Der Ausgang des Ersten Welt-krieges, dessen imperialistische deutsche Kriegsziele nach wie vor verschleiert bleiben, wurde den Deutschen mittels der „Dolchstoßlegende” und des sogenannten „Versailler Diktats” so unverständlich gemacht, daß für sie „Aufarbeitung der Geschichte” zwei Jahrzehnte später nur heißen konnte, die Folgen dieser Niederlagen und Zusammenbrüche rückgängig machen zu wollen.
Aspekt Nr. 3 (nach all dem geschichtlichen Debakel): Geschichtsunterricht in den Schulen ist offenbar noch immer nichts anderes als Stoffhuberei über die Geschichte der Sieger und Herrschenden. Jede Wette werde ich wohl gewinnen, würde ich die jüngere Generation wie Altersgenossen fragen, ob sie vielleicht mehr gelernt hätten über die deutsche Aufklärung als über die Schlesischen Kriege, über die Französische Revolution als über Napoleon, über 1848 als über 1871. Daran hat sich, nach längst beseitigten Ansätzen etwa in „Rahmenrichtlinien”, kaum etwas geändert.
Geschichte ist ein Sammelsurium von Daten, und kaum jemand begreift, daß dieses Trümmerfeld von Ereignissen bereits vorsortiert ist nach den Maßstäben derer, die da herrschen. Der einfache Satz des Karl Marx: „Wir (wir Deutschen) befanden uns immer nur einmal in der Gesellschaft der Freiheit: am Tag ihrer Beerdigung”, sollte uns nicht deshalb verstören, weil er vom vermeintlichen Erfinder des „Marxismus” kommt. Dieser Marx war ja einer der leidenschaftlichsten Kämpfer für deutsche, für menschliche Freiheit. – „Die Deutschen haben in der Politik g e da c h t, was die anderen Völker g e t a n haben“, sagt derselbe Marx 1843. Die Feststellung wäre nicht garso schlimm, wenn die Deutschen nicht auch immer v e r g e s s e n hätten, was sie gedacht, die anderen aber getan haben.
Über s o g e n a n n t e s Geschichtsbewußtsein hierzulande kann sich keiner beklagen. Seit „Götter, Gräber und Gelehrte” wissen wir minutiös, was etwa die Sumerer, die Perser, die Hunnen, Dschingis Khan usw. getan und angerichtet haben. Mit dem „Fahrstuhl” fahren wir in die Römerzeit und spüren andächtig den „Spuren der Goten” nach. Min. Präs. Goppel legt uns den fürstlichen Bankrotteur Max Emanuel und die Wittelsbacher ans Herz und Min. Präs. Filbinger sonnt sich im Widerschein der Staufer.
Es wird uns vieles geboten, an geschichtlicher Erfahrung lernen wir jedoch fast nichts hinzu. „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein”, schrieb Walter Benjamin 1940. Darüber auch soll dieses Heft, das im Ansatz versucht, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten”, nachdenken lernen helfen. Es bleibt dabei Geschichte und Herrschaft der Sieger genug, als daß etwa Alfred Dregger oder gar Franz Josef Strauß (der sich immer wieder rühmt, er hätte das wahre Geschichtsbewußtsein) gar am Ende nicht „recht” behielten. Sie haben es im voraus und mögen ja nur ein bißchen verunsichert werden…
Das Heft 26, was es will und wie es – geplant und spontan – geworden ist, stellt das Thema in drei Gruppen dar: Eine Gruppe sind geschichtsphilosophische und geschichtsdidaktische Aufsätze, wie man mit Geschichte umgehen möge und welchen Nutzen man daraus ziehen könne; und ich wünsche mir, daß niemand durch Vokabeln wie „philosophisch” oder „didaktisch” sich abhalten läßt, den aktuellen und futurologischen Kern dieser Ansätze zu entdecken. Die zweite Gruppe (fast zufällig in ihrem Angebot) stellt Beispiele vergessener, verdrängter Geschichte vor; sie können zeigen, wohin die Fahrt hätte auch gehen können und noch gehen könnte. In der dritten Gruppe werden gleichsam praktische Hinweise und Erfahrungen mitgeteilt, wie Geschichte der Deutschen sinnfällig zu vermitteln sei.
Das alles sei tendenziös? Natürlich! Es gibt garkeine nicht-tendenziöse Geschichtsbetrachtung. Wenn die Regierung des Freistaats Bayern meint, wir hätten vielleicht nicht das nötige Verständnis für die bayerische Fürstengeschichte, dann werden wir gegen fragen, ob denn die bayerischen Fürsten (und die heutige Regierung) jemals ein Verständnis für die bayerische Volks- und Sozialgeschichte gehabt haben. Das Volk war immer mehr als die Fürsten. In der geschriebenen Geschichte aber waren die Fürsten immer mehr als das Volk. Der Versuch also, Geschichte tendenziös „gegen den Strich zu bürsten”, hat seine Legitimation aus der neueren, vielleicht noch nicht ganz durchgedrungenen Erkenntnis der Volkssouveränität (und der „Freistaat Bayern”, wie er sich heute noch stolz nennt, ist ja eine „Erfindung” der so verteufelten bayerischen Räterepublik des Kurt Eisner). Franz Josef aber braucht nicht zu erschrecken; denn: was vermögen schon die Vorgänge gegen seinen Bayernkurier?…

GH

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