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Asylanten in unseren Ländern

vorgängevorgänge 62-6306/1983Seite 11-18

Ein Essay

aus: vorgänge Nr. 62/63 (Heft 2-3/1983), S. 11-18

»Ich bin nicht das Licht
für die Augen von irgendjemand.
Ich bin nicht die Lampe
für das Herz von irgendjemand.

Ich bin der Schmutz der Straße,
den niemand gebrauchen kann.
Ich bin das Lied der Langeweile,
warum sollte jemand mir zuhören?

Ich bin der Garten,
den der Herbst veröden ließ.
Warum sollte jemand zu mir kommen?
Warum sollte mir jemand Blumen bringen?
Warum sollte jemand für mich
die Lampe anzünden?«

Dieses Gedicht entstand im Oktober 1981 in einem deutschen Lager — in einem Sammellager für Asylbewerber in Tübingen. Sein Titel lautet: »Öde«, und es drückt alles aus, was je Menschen empfunden haben, die man auf ungewisse Zeit in Lager gesperrt hat. Es spricht aus diesen Zeilen eine tiefe Resignation und absolute Hoffnungslosigkeit. Das Ausgeliefertsein an die Hoffnungslosigkeit aber hat der deutsche Philosoph Ernst Bloch als »das’Unaushaltbarste« bezeichnet, als »das ganz und gar den menschlichen Bedürfnissen Unverträgliche«.

Wie kann es in einem staatlichen Ausländerwohnheim der Bundesrepublik Deutschland, die sich als freiheitlicher Rechtsstaat begreift, zu solchen Empfindungen der Trostlosigkeit und Ausweglosigkeit kommen? Ist der Verfasser des Gedichts ein Einzelfall, vielleicht übersensibel und von einer unangemessenen Anspruchshaltung? Er ist es ganz sicher nicht, denn er lebt unter Bedingungen, die jeden Menschen krank machen würden, bei denen jeder auf längere Sicht einen Identitätsverlust zu befürchten hätte. Das Sammellager Tübingen entspricht der sogenannten »totalen Institution«, wie sie der amerikanische Soziologe Irving Goffman in seinem auch bei uns bekannt gewordenen Buch »Asyle« beschrieben hat: »Die totalen Insititianen sind die Treibhäuser, in denen unsere Gesellschaft versucht, den Charakter von Menschen zu verändern. Jede dieser Anstalten ist ein natürliches Experiment, welches beweist, was mit dem Ich des Menschen angestellt werden kann.«

Daß man solche »totalen Institutionen« bewußt schaffen wollte, trotz der bekannten negativen Auswirkungen, beweist die Entstehungsgeschichte des Sammellagers Tübingen und der übrigen Lager in Baden-Württemberg. Ministerpräsident Späth sprach ganz ungeniert gegenüber der Presse davon, daß die Lager zur »Abschreckung« der AsyIbewerber dienen sollten, nachzulesen in den »Stuttgarter Nachrichten« vom 19.7.1980.

In anderen Bundesländern, die Sammellager unterhalten, in Hessen etwa, wurden allein Unterbringungsschwierigkeiten als Gründe für die Einrichtung von Lagern genannt. Diese Motive mögen der Wahrheit entsprechen oder nicht, die Auswirkungen des Lagerlebens auf die Bewohner sind die gleichen.

In Tübingen faßte der FDP-Landtagsabgeordnete Hinrich Enderlein seine Eindrücke nach Besichtigung des Lagers in dem einzigen Satz zusammen: »Gefangene haben teilweise humanere Bedingungen als Asylbewerber im Lager.« Daß er damit offenbar den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, bewies die Reaktion des zuständigen Regierungspräsidenten in Tübingen zu diesem Ergebnis parlamentarischer Kontrolle von fragwürdiger Verwaltungspraxis. Enderlein erhielt eine Rüge, und es wurde ihm bedeutet, er hätte seinen Besuch vorher anmelden müssen. In Zukunft werde deshalb der Zugang zum Lager schärfer kontrolliert, noch schärfer, muß man ergänzen, und künftig müsse auch die Presse ihre Besuche anmelden und genehmigen lassen. Begründet wurde dies offizielI gegenüber der »Südwestpresse« am 29.10.81 damit, daß die Berichterstattung über das Asylbewerber-Lager in der Presse nicht zur Zufriedenheit des Regierungssprechers ausgefallen sei. Man muß sich das auf der Zunge zergehen lassen. Nicht ein SED-Sekretär eines Bezirks der DDR rügte einen Journalisten wegen unliebsamer Berichterstattung, sondern der Regierungspräsident von Tübingen, einer der ranghöchsten Beamten auf Landesebene und selbstverständlich wie alle Beamten auf die Verfassung vereidigt, in der bekanntlich in Artikel 5 die Pressefreiheit garantiert ist. Wörtlich heißt es dort in Absatz 1: »Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.«

Es ist wichtig, den Wortlaut dieses Artikels genau im Gedächtnis zu haben, um den Fortgang der Ereignisse im Licht der Verfassung richtig würdigen zu können, denn auch das nun folgende würde man eher in einem Staat des Ostblocks vermuten. In Zukunft, so hieß es weiter seitens des Regierungspräsidenten, wolle man für eine »objektive Berichterstattung« sorgen, indem Pressevertretern eine Begleitperson zugestellt werde. Wie das in concreto gedacht war, erlebe ein Fotograf des »Schwäbischen Tageblatts«, als er am 27.11.1981 zu Aufnahmen ins Lager ging. Drei Begleitpersonen sollten ihn überwachen. Er protestierte, schließlich gab man nach und reduzierte die Begleitmannschaft auf eine Person. Vikar Werner Baumgarten, Mitbegründer des »Freundeskreises für die ausländischen Flüchtlinge im Sammellager Tübingen« war Zeuge dieses ungewöhnlichen Fototermins und berichtete: »Gemeinsam mit dem Fotografen begab ich mich auf Motivsuche ins Lager, einige Meter dahinter folgte der Garant der objektiven Berichterstattung. Absurdes Theater im Lande der Freiheit.« Kurz vorher hatte man schon dem Bayerischen Rundfunk die Drehgenehmigung im Lager versagt mit der Begründung, dies mache die Flüchtlinge nur noch »renitenter«. Gegen diese Beschränkung eines Grundrechts protestierten zahlreiche Journalisten aus dem Raum Tübingen, und die IG Druck und Papier nahm die Vorfälle zum Anlaß, in ihrer Februar-Nummer einen Kommentar zu veröffentlichen unter der Überschrift: »Wie Provinzfürsten die Pressefreiheit regeln wollen.« Offenbar begriffen die »Provinzfürsten«, daß sie sich zu weit vorgewagt hatten, und räumten den Journalisten seitdem das Recht ein, ohne vorherige Genehmigung das Lager zu besuchen; sie begnügten sich mit der Ausweiskontrolle an der Pforte. Daß man seitens der Behörde die Öffentlichkeit möglichst vom Lager fernhalten möchte, ist angesichts der Zustände im Lager verständlich. Von April 1981, dem Zeitpunkt der Eröffnung, bis zum Jahresende fanden mehr als 200 Polizeieinsätze in der ehemaligen Kaserne statt.

Was geht vor in unserem Bundesland, das 1974 noch uneingeschränkt stolz war auf »das liberalste Asylrecht der Welt«? Damals allerdings wollten auch nur 12  Asylbewerber dieses von der Verfassung garantierte Recht genießen. In der ersten Hälfte 1980 dagegen waren es 20.000; das war zwar nicht mehr als ein dünnes Rinnsal, das aus den weltweiten Flüchtlingsströmen, die man auf 15 bis 18 Millionen schätzt, bis nach Baden-Württemberg sickerte, aber man bekam es trotzdem mit der Angst zu tun und entschloß sich zur Einrichtung von Sammellagern, obwohl längst bekannt ist, daß Lager die Probleme des Zusammenlebens verschärfen. Die Einrichtung des Sammellagers
Tübingen ist ein trauriges Beispiel für eine Behördenreaktion; sie stellt eine Mischung dar aus Panik und Angst, Hilflosigkeit und Trotz und einem Schuß Fremdenhaß. So warnte Landtagsvizepräsident Weng vor der »Asylantenflut« und malte das Schreckgespenst der »Entdeutschung Deutschlands« an die Wand; Töne, die keine guten Erinnerungen wecken.

Die beiden Kirchen, vertreten durch Präsident Schober vom Diakonischen Werk und Bischof Hengsbach für die Caritas, hatten im September 1980 eindrucksvolle Stellungnahmen gegen die Einrichtung von Großlagern abgegeben und dazu eindringlich alle zu erwartenden Probleme beschrieben. Daraus leiteten sie die Forderung auf eine unserem Grundgesetz entsprechende menschenwürdige Behandlung aller Flüchtlinge ab, solange sie sich im Bundesgebiet aufhalten. Auf Pressekonferenzen hatten sie zudem erklärt, wenn es wirklich zur Errichtung von Lagern komme, könnte es hier zum ersten ernsthaften Konfliktfall zwischen Staat und Kirche seit Bestehen der Bundesrepublik kommen. Vergeblich! Wider früheres und besseres Wissen, nämlich entgegen dem 3. Asylbewerberzuweisungsgesetz von Baden-Württemberg, das die Problematik von Sammellagern genau beschreibt und solche Lager ablehnt, lud das Tübinger Regierungspräsidium am 29. zur ersten Arbeitskreissitzung mit Vertretern der Kirche ein, in der die örtliche Betreuungskonzeption für das Lager Tübingen erarbeitet werden sollte. Und wie sich zeigte, wurde das von Ministerpräsident Späth beabsichtigte Abschreckungskonzept konsequent durchgezogen:

So hatten die Regierungsvertreter zunächst mündlich zugesagt, die zentrale Essensversorgung zu überdenken und versprachen, stattdessen dezentrale Kochnischen einzurichten. In der nächsten Arbeitssitzung, am 23.10.1980, wurde dieses Versprechen zurückgenommen. Dafür wurde zugesagt, die Mitglieder des Arbeitskreises könnten bestimmen, welche Nationalitäten nach Tübingen kommen sollten. Dieses Versprechen wurde wiederum gebrochen. Stattdessen wurde zugesagt, es würden homogene Gruppen kommen. Auch diese Zusage wurde nicht eingehalten. Dafür wurde versichert, der Arbeitskreis könne festlegen, wann die Vorbereitungen so weit abgeschlossen sei-en, daß die ersten Flüchtlinge ins Lager kommen könnten. Auch dieses Versprechen wurde nicht gehalten. Am 22.4.1981 trafen schließlich die ersten 29 Flüchtlinge auf der Baustelle Thiepvalkaserne ein. Sie fanden ein Chaos vor. Die Essensversorgung war nicht geregelt. Von Werk-, von Sportstätten, von einem sich selbstversorgenden Dorf war nichts zu sehen. Nicht einmal Geschirr für das Frühstück war vorhanden, dafür aber wurde der Kammerjäger schon gleich zu Anfang benötigt wegen der Ungeziefer-Plage. Der trostlose Empfang entsprach exakt dem, was die Asylbewerber auf Dauer hier erwartete. Die Thiepvalkaserne, die man notdürftig zum Sammelager hergerichtet hat, macht bereits äußerlich einen abweisenden Eindruck. Es handelt sich um einen langgestreckten, türmchen- und zinnenbewehrten Palazzobau aus dem 19. Jahrhundert, der streng und düster wirkt. Man könnte auch ein Gefängnis darin vermuten. Der Bau wurde vor Jahren von französischen Soldaten verlassen, weil sie ihn als Kaserne für unzumutbar hielten, stand dann jahrelang leer und verkam, bis er von Studenten besetzt wurde. Aber selbst die zogen wieder ab, weil sie einsahen, daß das Gebäude für Studentenwohnungen ungeeignet wei. Die Stadt Tübingen weigerte sich, den Bau zu übernehmen, da seine Renovierungskosten auf 20 bis 50 Millionen DM geschätzt wurden. Für die Asylbewohner wurden dann ganze 2 Millionen DM investiert, davon war einer der größten Kostenpunkte die Rechnung für 10000 Kilo Farbe.

Und so präsentiert sich dieses »Staatliche Ausländerwohnheim«, wie es offizell heißt, heute dem Besucher: Wenn man den hohen, soliden Zaun hinter sich gelassen hat, den großen leeren Hof passiert hat und durch einen langen Gang geschritten ist, kommt man zu den Wohnräumen. Darin stehen in der Regel 6 Betten, 6 Nachttischchen, 2 Doppelschränke, 1 Tisch und 4 Stühle. Zur Zeit leben in den meisten Zimmern 3 bis 4 Personen zusammen, mit unterschiedlicher Herkunft. Sollte das Lager, das für knapp 700 Personen eingerichtet wurde, einmal voll belegt sein, muß mit 6 Personen je Zimmer gerechnet werden. Das heißt, es hätte nicht einmal jeder eine Schrankhälfte, und es könnten nicht alle gleichzeitig am Tisch sitzen. Auf jedem Stockwerk befindet sich ein Waschraum, in dem es ausschließlich kaltes Wasser gibt, sowie zwei bis drei Toiletten mit Waschbecken. Im Kellergewölbe, das ausschließlich mit Kunstlicht zu beleuchten ist, gibt es zwei Räume mit Tischtennisplatten, sowie 4 Speiseräume. Am Ende des 186 m langen Ganges wurden zwei Duschräume und eine Toilette eingerichtet. In den Duschen gibt es auch warmes Wasser. Etwa in der Mitte der Kaserne wurde durch Initiative des »Freundeskreises des Sammellagers« ein Spielzimmer für kleinere Kinder und eine Teestube eingerichtet. Diese Teestube ist jedoch wegen angeblicher Lärmbelästigung der Anwohner draußen nur bis 19 Uhr geöffnet. Zu dieser alles andere als anheimelnden Atmosphäre kommt eine Wohnheimordnung, die den Lagerinsassen so gravierende Beschränkungen auferlegt, daß ihnen kaum noch etwas bleibt, als die Zeit zwischen den Mahlzeiten zu verdösen. Diese Wohnheimordnung, die im übrigen ungesetzlich ist, weil sie Bestimmungen enthält, die die Menschenwürde verletzten sowie die Forderung auf Rechtsstaatlichkeit aller staatlichen Einrichtungen, diese Wohnheimordnung also hat 12 Paragraphen, darunter im Paragraphen 9 gleich 8 Verbote. Verboten sind so etwa jede politische Tätigkeit, das Anbieten von Waren und Dienstleistungen aller Art, sowie die Zubereitung von Essen und Getränken. Letzteres trifft die Lagerbewohner besonders hart, weil sie durch die eigene Essenszubereitung wenigstens etwas Beschäftigung hätten. Zudem könnten sie das Essen nach ihren Gewohnheiten kochen. In gutgeführten Ausländerheimen, auch solche gibt es (wenn auch nicht in Baden-Württemberg), kochen die Bewohner selbst. Das ist sehr viel billiger als Gemeinschaftsverpflegung. Es versteht sich, daß eine zentrale Essensversorgung auch beim besten Willen nicht alle kulturellen und religiösen Bedürfnis-se von etwa 400 Flüchtlingen aus 24 verschiedenen Ländern berücksichtigen kann. Da diese Gemeinschaftsverpflegung nur zum Zwecke der Abschreckung geschieht, wird hier ohne Zweifel gegen Art. 4 des Grundgesetzes verstoßen, der die »ungestörte Religionsausübung« garantiert. Ein Hindu, der nur die Wahl hat, Rindfleisch zu essen oder zu hungern, ist entweder in seinen religiösen Gefühlen verletzt oder in seiner Menschenwürde. Außerdem würde die eigene Essenszubereitung ein wenig zur Erhaltung des Wohlbefindens, des Selbstwertgefühls und der ldentität beitragen und überflüssige Spannungen vermeiden. Noch schlimmer und unsinniger als das Verbot der eigenen Essenszubereitung ist das Verbot, sich selbst Getränke zuzubereiten, denn es fördert den Alkoholkonsum. Es ist ja nicht verboten, zwischen den Mahlzeiten zu trinken, aber Tee oder Kaffee zuzubereiten ist untersagt. Die Versuchung ist groß, will man nicht den ganzen Tag Fruchtsäfte trinken, zumindest zur Bierflasche zu greifen. Es gibt zwei Paragraphen, die ausführlich die Pflichten der Flüchtlinge regeln, von ihren Rechten ist nirgendwo die Rede. Die Pflichten sind u.a. so fixiert:

»Die Gemeinschaftseinrichtungen (Toiletten, Waschräume, Treppen, Aufenthaltsräume, Küche, Außenanlagen etc.) sind täglich zu reinigen. Der Wohnheimleiter erteilt den Heimbewohnern besondere Anweisungen.

Arbeitsfähige Heimbewohner können zu zumutbaren Arbeitsleistungen für das Ausländerwohnheim herangezogen werden. Die Heimbewohner sind verpflichtet, sich täglich in der Zeit von 8 bis 18 Uhr in eine bei der Pforte befindliche Anwesenheitsliste unter Vorlage ihres Heimausweises selbst einzutragen.«

Versäumt jemand dies auch nur einmal, folgtdie Strafe gleich auf dem Fuße: er geht für die Hälfte des Monats seines Taschengeldes verlustig. Der Anspruch auf Taschengeld ist auch verwirkt, wenn der Heimbewohner den von der Heimleitung festgesetzten Zeitpunkt zur Geldauszahlung (jeweils immer nur einige Stunden an einem Tag) versäumt. Selbstverständlich ist auch diese Sanktion illegal. Im Bundessozialhilfegesetz wird ausdrücklich bestimmt, »daß die Hilfe zum Lebensunterhalt in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung auch ein angemessenes Taschengeld einschließt«. Dieser Anspruch ist ein Rechtsanspruch, der nicht vom Wohlverhalten des einzelnen abhängig gemacht werden darf, denn sonst wären ja der Behördenwillkür Tür und Tor geöffnet. In der Praxis freilich nutzt der Rechtsanspruch den Lagerbewohnern wenig, denn sie wissen ja nichts davon und könnten ihn ohnehin gegenüber der Lagerleitung nicht durchsetzen. Zu erwähnen ist, daß von dem Taschengeld in Höhe von 85 Mark pro Monat auch die Artikel für die persönliche Pflege wie Seife, Zahnpasta etc. zu kaufen sind, sowie Fahrkarten für die öffentlichen Verkehrsmittel und die Fahrten zu den Anwälten.

Erstaunlicherweise ist es nicht verboten, das Lager zu verlassen. In hessischen Sammelunterkünften ist das teils der Fall. Für jeden Anwaltsbesuch, jeden Arztbesuch braucht man eine Sondererlaubnis, die je nach Ermessen erteilt wird. Im Bereich des Lagers Schwalbach in Hessen wurden verschiedentlich Asylbewerber, die das Eingesperrtsein in dem Lager, von einem hohen Drahtzaun umgeben, nicht länger ausgehalten hatten und nur einen kurzen Spaziergang machen wollten, von der Polizei »aufgegriffen«, wie das im Polizeijargon heißt, und ins Lager zurückgebracht, ebenso aber auch Flüchtlinge, die sich wegen akuter Zahnschmerzen zu einem Zahnarzt außerhalb des Lagers begeben wollten. Bei Strafe verboten aber ist es jedem Asylbewerber überall in der Bundesrepublik, den Stadtbezirk zu verlassen, in dem er gemeldet ist, es sei denn mit Genehmigung der Ausländerbehörde.
Es gibt einen Erlaß des Innenministers von Baden-Württemberg an die Ausländerbehörden, grundsätzlich keine Fahrten zu Rechtsanwälten zu genehmigen. Damit verstößt der Innenminister nicht nur gegen Artikel 16 der Verfassung, indem er den Flüchtling behindert, seine politische Verfolgung zu beweisen und daraufhin Asyl zu genießen, sondern auch noch gegen Artikel 19, der jedermann die sogenannte Rechtsweggarantie gibt, denn ein Weg zu den Gerichten ist ohne Beratun durch einen Anwalt oft unmöglich.

Besuche im Lager sind ebensolchen Beschränkungen unterworfen wie die Bewegungsfreiheit der Lagerbewohner. Nach der Tübinger Heimordnung werden lediglich Verwandte der Heimbewohner zugelassen, sowie Mitglieder des »Arbeitskreises für Asylbetreuung« und Mitglieder des erwähnten Freundeskreises, deren Namen in einer Liste an der Pforte eingetragen sind. Falls die Flüchtlinge also in der Stadt Tübingen Freunde haben oder finden sollten, dürften sie von denen nicht besucht werden, es sei denn, mit einer Sondergenehmigung der Heimleitung, einer Heimleitung, die in diesem Lager allgegenwärtig und allmächtig ist und selbstverständlich auch jederzeit Zutritt zu den Unterkünften hat.

Fazit: Kein einziger der derzeit etwa 300 Heimbewohner hat auch nur einen Rest Intimsphäre. Er ist Tag und Nacht mit wildfremden Menschen in einem Zimmer, deren Sprache er vielleicht nicht einmal versteht, hat keinerlei Möglichkeit, sich zurückzuziehen, um allein zu sein, und er hat auch keine Möglichkeit, persönliche Gegenstände und Unterlagen wegzuschließen. Er ist nicht nur seinen Schicksalsgenossen ausgeliefert, sondern kann auch noch Tag und Nacht von der »Obrigkeit« kontrolliert werden.

Auch dies ist — nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts — widerrechtlich. Denn auch dem Bewohner einer Gemeinschaftsunterkunft »muß ein Bereich verbleiben, in dem er sich selbst besitzt und in den er sich zurückziehen kann, zu dem die Umwelt keinen Zutritt hat, in dem man in Ruhe gelassen wird und ein Recht auf Einsamkeit genießt«. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf bekräftigte dies erst vergangenes Jahr noch einmal ausdrücklich, indem es ausführte, daß es bezüglich dessen, was für eine menschenwürdige Unterkunft erforderlich ist, keine Unterschiede gibt zwischen Deutschen und Ausländern. Wie sagte doch der Landtagsabgeordnete Enderlein: »Gefangene haben teilweise humanere Bedingungen als Asylbewerber im Lager!« Die Schlaflosigkeit, unter der viele leiden, rührt allerdings weniger von der Angst vor der Lagerleitung oder von den störenden Zimmergenossen her, sondern ist vielmehr bedingt durch die Lethargie und Langeweile des Lagerlebens. Außer dem täglichen Reinigen der Toiletten, Waschräume, Flure etc. haben sie ja nichts zu tun, dürfen sie nichts tun, sind also auch hier schlechter gestellt als Gefangene. Im Bundesgebiet unterliegen sämtliche Asylbewerber einem Arbeitsverbot von 2 Jahren, in Baden-Württemberg dagegen für die ganze Dauer des Verfahrens, in der Regel aber 3 bis 4 Jahre. So lange auch wird den Kindern die Teilnahme am Schulunterricht versagt. Deutsche Sprachkurse, die man früher in allen Lagern anbot, sind schon seit langem gestrichen. Alle diese Maßnahmen wurden beschlossen, als im Jahre 1980 die türkischen Asylbewerber an erster Stelle standen. Inzwischen trifft man mit den staatlich verordneten Abschreckungsmaßnahmen vor allem Polen und andere Ostblockflüchtlinge. Jedenfalls standen sie 1981 an der Spitze der Asylbewerber. Es hat darum einen bitteren Beigeschmack, wenn wir uns gegen die Lager in Polen wenden und gleichzeitig zugeben müssen, auch bei uns sitzen Tausende von Polen in Lagern, und zwar auf unabsehbare Zeit. Denn das »Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge« bearbeitet zur Zeit die polnischen Anträge nicht, weil man nicht weiß, wie man die Lage in Polen beurteilen soll. Objektiv muß man sagen, daß die Polen, die nicht für Leib und Leben zu fürchten haben, und aus politischen Gründen flüchteten, weil sie in einer »echten Demokratie« leben möchten, wie viele von ihnen angeben, in den Bundesländern, die Sammellager unterhalten, schlechter gestellt sind, als wenn sie in Polen geblieben wären.

Die psychischen Folgen der verordneten Untätigkeit sind erschreckend: manche Asylbewerber sitzen stundenlang wie versteinert in ihrem Zimmer, wieder andere rennen rastlos auf und ab, schlagen ihren Kopf gegen die Tür oder die Zimmerwand und reagieren ihre Aggressionen am Lagerpersonal ab. Die Heimbewohner wirkten auf die Mitglieder des Tübinger »Freudeskreises« überwiegend so stark gestört und krank, daß sie den Diplom-Psychologen Claudius Hennig um eine Untersuchung baten.

Diese Untersuchung — eine sehr gewissenhafte empirische Arbeit – ist soeben erschienen. Die Ergebnisse sind erschreckend: 60 Prozent der Lagerbewohner leiden an Depressionen, und zwar in den verschiedensten Stadien und Ausprägungen, deren Anzeichen im einzelnen sind: allgemeine Niedergeschlagenheit und traurige Verstimmtheit, verbunden mit dem Gefühl einer totalen Hoffnungslosigkeit. Daraus folgt bei vielen ein absoluter Kontrollverlust über die äußere Realität. Viele Asylbewerber schilderten sich gegenüber Claudius Hennig und seinen Mitarbeitern als völlig initiativlos, gelähmt, kraftlos und entscheidungsunfähig. Sie sind nicht mehr in der Lage, einfachste Arbeiten, wie die Reinigung ihres Zimmers oder ihres Stockwerkes, auszuführen. Einige gehen nicht einmal mehr aus dem Lager in die Stadt. Viele geben dem Wunsche nach, die als unerträglich empfundene Realität mit Alkohol zu verdrängen. Die Folgen des Alkoholmißbrauchs sind bei vielen Lagerbewohnern bereits feststellbar, wie aus den Berichten von Ärzten und Psychologen hervorgeht: mindestens 50 Prozent der Flüchtlinge aus der Dritten Welt trinken Alkohol in gesundheitsgefährdendem Ausmaß. Zwei Drittel der Lagerbewohner leiden an Schlaflosigkeit, an Appetitlosigkeit, Kopfschmerzen und Magenschmerzen, ein Drittel der Untersuchten hat Herzrhythmusstörungen.

Daß dies eindeutig Folgen des Lagerlebens sind, beweist eine Kontrollgruppe, die die Tübinger Psychologen außerhalb des Lagers untersuchte. Es handelte sich dabei ebenfalls um Asylbewerber, die jedoch nicht im Lager lebten. Bei ihnen stellte man weder Depressionen noch körperliche Erkrankungen fest, die über das in der übrigen Bevölkerung übliche Maß hinausgingen. Sammellager machen also krank. Gottfried Köfner, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der »Zentralen Dokumentationsstelle der Wohlfahrtsverbände für Flüchtlinge«, stellte in einem internen Bericht für das Diakonische Werk fest: »Das Argument, die Asylbewerber würden sich nach längerem Aufenthalt in Sammelunterkünften schon an ihr neues Leben, dessen Umstände und Bedingungen, gewöhnen, also auch an die Inaktivität und die Rolle als Almosenempfänger, ist nicht nur unlogisch, sondern auch inhuman.« Köfner vertritt die Auffassung, daß die Unterbringung in Sammellagern Tausende von Menschen zu sozialen und psychischen Krüppeln mache und eine staatlich betriebene Zerstörung der Persönlichkeit von Asylbewerbern darstelle.

Die vielfach geäußerte Kritik an den Zuständen in den baden-württembergischen und hessischen, teilweise auch in den bayerischen Lagern hat bisher noch keine Änderung bewirkt. Der Geschäftsführer des Caritasverbandes für den Landkreis Schwandorf, Wilhelm Ness, setzte seine Kritik an einem anderen Punkt an, der eher Erfolg zu versprechen scheint: Die Lager und die Behandlung der Flüchtlinge durch die Lagerleitung seien verfassungswidrig.

Er schreibt: »Alle Verhaltens- und Äußerungsformen sind letztlich Ergebnisse der Gesamtsituation im Lager, in der die elementarsten Grundbedürfnisse des Menschen wie Ruhe, Nahrung, Schmerzfreiheit, Sicherheit und Sozialkontakt weitgehend fehlen. Die Regierung verhält sich gegenüber den Asylsuchenden eindeutig repressiv. Sie läßt sich selbst Kleinigkeiten nur schwer abringen. Geist und Buchstabe des Grundgesetzes werden nicht ausreichend berücksichtigt.« Auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Arnoldshain stellte Reinhard Marx als Vertreter von amnesty international fest, daß die Sammelunterkünfte in vielfacher Hinsicht gegen die Verfassung verstoßen — so etwa gegen Artikel 1, der die menschliche Würde nicht nur für unantastbar erklärt, sondern auch »aller staatlichen Gewalt« als Verpflichtung auferlegt, »sie zu achten und zu schützen«. Wie das konkret gemeint ist, führte das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil zu diesem Verfassungsgebot aus: »Hierzu gehört, daß der Mensch über sich selbst verfügen und sein Schicksal eigenverantwortlich gestalten kann.« Gerade davon kann in den Lagern keine Rede sein. Neben der Mißachtung der Menschenwürde wird gegen Artikel 2 der Verfassung verstoßen, der die »freie Entfaltung der Persönlichkeit« für jedermann garantiert, also‘ auch für Ausländer. Auch Artikel 3 des Grundgesetzes ist verletzt, denn dieser besagt, niemand dürfe wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Sammellager wurden erst eingerichtet, als Zehntau-sende von farbigen Asylbewerbern aus der Dritten Welt kamen. Als Ungarn und Tschechen zu Zehntausenden kamen, hat niemand von Überfremdung oder der »Entdeutschung« Deutschlands gesprochen.

Im Lager Tübingen und in anderen Lagern werden Farbige darüberhinaus diskriminiert, indem man sie grundsätzlich mit »Du« anredet, Ostblockflüchtlinge aber mit »Sie«. Das Lagerpersonal ist im allgemeinen zu den Ostblockflüchtlingen höflich, zu Asylbewerbern aus der Dritten Welt aber barsch und unfreundlich.

Auch Artikel 6 (Schutz von Ehe und Familie) wird häufig massiv verletzt, einmal, weil Familien auseinandergerissen werden, zum anderen aber auch, weil die Kinder, selbst die ungeborenen, die Folgen des Lagerlebens ihrer Eltern mittragen müssen. Es ist inzwischen hinlänglich bekannt und untersucht, wie stark sich gerade Traumata, die Eltern durch Lageraufenthalte erlitten haben, auf die Kinder übertragen. Schließlich ist noch zu erwähnen, daß auch die Verfassungsartikel 19, 20 und 28, die die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung binden und die Bundesrepublik als demokratischen und sozialen Rechtsstaat definieren, eine menschenwürdige Behandlung der Flüchtlinge gebieten. Aber man muß das nicht nur mit Hilfe der Verfassung begründen. Unsere Geschichte sollte uns eigentlich das Errichten von Lagern unmöglich machen. Andererseits wäre es gut, wenn man sich an Immanuel Kants Lehre erinnerte, nach der der Mensch immer im Mittelpunkt allen Handelns zu stehen hat und nicht Objekt sogenannter Sachzwänge und politischer Opportunität sein darf. Keinesfalls sollte ein Flüchtling aus dem sozialen Rechtsstaat Bundesrepublik weggehen mit Gefühlen, wie sie der Inder Ravinder Gidda zu dem Gedicht »Ich gehe«, beschreibt, das wir hier verkürzt wiedergeben:

Jetzt gehe ich
bevor meine Einsamkeit
mir den Hals zudrückt
Ich gehe
bevor ich gehe
will ich »Danke« sagen
Ich bin dankbar
für das Scheinen der Sterne
im fließenden Wasser des Neckars
das manchmal meine Tränen stoppte.
Ich bin dankbar
dem Stefan, der mich rettete
aus dem Ozean der Traurigkeit
Ich bin dankbar
für alle lieben Worte von meinen Freunden,                   die mir Mut gaben
in dieser kalten Atmosphäre
Ich bin dankbar
für alle schönen Augen
die einen Menschen in mir sahen
und keinen Ausländer.

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