Publikationen / vorgänge / vorgänge 62-63

Vorgänge im Rechtsstaat oder Macht vor Bürgerrecht

vorgängevorgänge 62-6306/1983Seite 85-93

aus: vorgänge Nr. 62-63 (Hreft Nr. 2-3/1983), S. 85-93

Es werden einige Vorgänge geschildert — zum Teil bekannte, zum Teil weniger bekannte — , und es sind nur eher zufällig ausgewählte Einzelbeispiele. Wer hierzulande für die Grund- und Menschenrechte eintritt und wer zugleich jene unterstützt, die in dieser oder jener Form Betroffene von politischer und juristischer Willkür geworden sind oder die wegen ihres Engagements gemaßregelt wurden, der könnte ohne Mühe ein ganzes Heft der »vorgänge« mit Vorgängen dieser Art füllen. Zwar wähnen sich noch immer die meisten Bürger im Lande frei und in ihren demokratischen Rechten nicht eingeschränkt. Doch um so mehr es werden, die sich wehren, um so deutlicher auch offenbart dieser Staat seine unterentwickelte demokratische Substanz. Es ist die vornehmste Aufgabe der B@¼rgerrechtsorganisationen, den sich mehrenden schlimmen Vorgängen wider die Grund- und Menschenrechte auf der Spur zu bleiben. Solidarität mit den Betroffenen und Engagement in jedem Einzelfall sind die zentrale Voraussetzung für die Entfaltung einer kollektiven Bürgerrechtsbewegung.

Peter Schult

Weihnachten 1982. Peter Schult verbüßt in der Justizvollzugsanstalt Kaisheim eine Freiheitsstrafe. Aufgrund der schlechten Haftbedingungen und gezielter Schikanen befindet er sich seit Monaten in schlechter gesundheitlicher Verfassung, die sich ständig verschlimmert. Es häufen sich Anfälle von Schwindelgefühl, Erbrechen, Herzbeschwerden und Bluthochdruck.

Wir schrieben in einem Brief an den bayerischen Justizminister: »Mit großer Besorgnis verfolgen wir die Verschlechterung des Gesundheitszustandes von Herrn Peter Schult, der zur Zeit in der Justizvollzugsanstalt Kaisheim eine Haftstrafe absitzt. Obwohl Rechtsanwalt Arnold (München) mehrere Eingaben an die Leitung der JVA Kaisheim gerichtet hat, wird der lebensgefährliche Zustand seines Mandanten (Gefahr eines Herzinfarktes) nicht zum Anlaß genommen, Herrn Schult die erforderliche Therapie zu ermöglichen. Trotz eines alarmierenden Gutachtens des Landgerichtsarztes in Augsburg verwehrt die Anstalt die von diesem für notwendig gehaltene Verlegung in das Zentralklinikum Augsburg. Unabhängig von dem Strafurteil und dessen Hintergrund besteht für die zuständigen Behörden in dieser Situation die menschenrechtliche Pflicht, Gesundheit und Leben eines Strafgefangenen höher zu bewerten als die Vollziehung einer Strafe. Herr Schult ist haftunfähig, und demnach wäre die Leitung der JVA Kailsheim gehalten, ihn aus der Haft zu entlassen, um die erforderliche ärztliche Behandlung außerhalb des Vollzugs zu ermöglichen. Da alle Versuche, die JVA-Leitung zur Einsicht zu bringen, nun seit Monaten erfolglos sind, da auch die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Augsburg nicht zugunsten von Herrn Schult eingreift, da nicht nur der Gesundheitszustand von Herrn Schult sich verschlechtert, sondern möglicherweise sein Leben gefährdet ist, appellieren wir nun an Ihre Fürsorgepflicht als Justizminister und bitten Sie in aller Dringlichkeit, zu veranIassen, daß Herr Schult aus der Haft entlassen wird und sich in stationäre ärztliche Behandlung begeben kann.«

Gesundheit, Leben und Menschenwürde sind unantastbar. Diese Prämisse müßte auch bei der Befolgung einer durch ein Gericht geahndeten Straftat eingehalten werden. Jedoch: der Minister läßt durch einen untergeordneten Beamten lakonisch mitteilen, er sehe keinen Grund zum Eingreifen; die ärztliche Betreuung des Strafgefangenen Schult sei in der Justizvollzugsanstalt gewährleistet. Eine Kopie unseres Briefes, die wir Peter Schult zuleiten, wird diesem »wegen beleidigender Äußerungen gegen die Anstaltsleitung« nicht ausgehändigt und »zur Habe genommen«.

Muß es erst zu irreversiblen Gesundheitsschäden oder gar zum Tode eines Menschen kommen, ehe die Verantwortlichen zur »Einsicht« gelangen? Peter Schult ist Beispiel für zahllose ähnliche Fälle. Es steht schlimm um die Menschenrechte in deutschen Gefängnissen.

Alexander Schubart

Am 19. Januar 1983 verkündet der Staatsschutzsenat am Frankfurter Oberlandesgericht das Urteil in erster Instanz gegen Alexander Schubart: Zwei Jahre Freiheitsstrafe mit Bewährung.

Weil Alexander Schubart zu einer Demonstration am Frankfurter Flughafen aufgerufen hatte, unterstellt ihm das Gericht Nötigung eines Verfassungsorgans (der hessischen Landesregierung) und Landfriedensbruch in einem besonders schweren Fall.

Alexander Schubart hat vor eineinhalb Jahren das Volksbegehren über den Bau der Startbahn 18 West am Flughafen Frankfurt initiiert. Mit diesem Volksbegehren machte die Bürgerbewegung gegen die Flughafenerweiterung den Versuch, den Konflikt mit der hessischen Landesregierung auf friedliche und demokratische Weise zu lösen. Über 300 000 Bürgerinnen und Bürger unterschrieben — wie in der hessischen Verfassung vorgesehen — den Antrag auf Zulassung des Volksbegehrens. Der Landesregierung und der Öffentlichkeit war bekannt, daß ein solches Verfahren nach den gesetzlichen Vorschriften eingeleitet worden war und die Unterschriften am 14. 11. 1981 dem Landeswahlleiter in Wiesbaden übergeben werden sollten.

Dennoch (oder vielleicht sogar deshalb?) begann man kurz zuvor, auf der für den Bau vorgesehenen Waldtrasse mit Holzfällertrupps, Motorsägen und Polizei vollendete Tatsachen zu schaffen. Diese Maßnahme der Landesregierung bewirkte eine unerträgliche Zuspitzung der Situation, schien sie doch eine Entscheidung vorwegzunehmen, über die die hessischen Bürger in einem Volksentscheid selbst abstimmen sollten.

Anläßlich der Übergabe der Unterschriften demonstrierten in Wiesbaden 150 000 Menschen aus ganz Hessen. Auf der Abschlußkundgebung forderte Alexander Schubart die hessische Landesregierung auf, nun endlich die Rodungsarbeiten einzustellen und für den Fall, daß die das Volksbegehren als »unzulässig« zurückzuweisen gedenke, wenigstens eine Entscheidung des Hessischen Staatsgerichtshofs abzuwarten. Die Regierung solle ihre Entscheidung über einen Baustopp bis zum Mittag des folgenden Tages bekanntgeben. Die Bürgerinitiative gegen die Startbahn West hatte beschlossen, eine friedliche Demonstration am Flughafen zu veranstalten, um dagegen zu protestieren, daß die hessische Landesregierung die Anordnung eines Moratoriums ablehnte. Diesen Beschluß gab Alexander Schubart namens der Bürgerinitiativen auf der Wiesbadener Kundgebung bekannt.

Aufgrund eines harten polizeilichen Eingreifens gegen die Demonstranten kam es einen Tag später teilweise zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und Verkehrsstauungen rund um den Flughafen. Von Medien und Strafverfolgungsbehörden wurden diese Vorgänge in einer regelrechten Kampagne zu einer bürgerkriegsähnlichen Situation hochstilisiert.

Alexander Schubart hatte seit Beginn der Bau- und Rodungsarbeiten für die Startbahn 18 West am Frankfurter Flughafen im Frühherbst 1981 bei vielen Versammlungen immer erneut betont, daß die Auseinandersetzung seitens der Startbahngegner strikt gewaltfrei zu führen sei. Das Frankfurter Oberlandesgericht stellte diesen Sachverhalt auf den Kopf und stempelte Alexander Schubart zum bewußten Nötiger und züm Gewalttäter, mit Hinweis darauf, daß die Demonstration am Flughafen am 15.11.1981 nicht gewaltfrei verlaufen ist. Ohne Rücksicht auf dessen ethische Gesinnung verschafften sich die Richter von Alexander Schubart den Eindruck eines ganz gerissenen Agitators, der, indem er zur Gewaltfreiheit aufrief, zur Gewalt ermuntern wollte.

Das Urteil gegen Alexander Schubart ist zugleich auch ein Urteil gegen die Demonstrationsfreiheit und gegen die gesamte Anti-Startbahn-Bürgerbewegung sowie gegen alle potentiellen und aktuellen Demonstrationen (sei es gegen Atomkraftwerke, andere um-weltzerstörerische Großprojekte oder die geplante Stationierung neuer Atomraketen). Das Gericht hob deshalb auch die beabsichtigte abschreckende Wirkung des Urteils besonders hervor.

Somit könnte dieses Urteil weit über die Folgen für Alexander Schubart hinaus schlimme Wirkungen haben. Demonstration könnte von nun an potentielle Teilnahme an einer Nötigung heißen. Und wer nötigt, macht sich strafbar.

Erwähnt werden muß zudem, daß der Prozeß von der Bundesanwaltschaft gegen Alexander Schubart extrem aufwendig geführt wurde. Sollte die Revision vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe verloren gehen, dann trifft Alexander Schubart nicht nur ein »Terroristenurteil«, sondern auch Arbeitslosigkeit (er ist bereits seit dem 16. 11. 1981 vom Dienst bei der Stadt Frankfurt suspendiert) und Prozeßkosten sowie Schadensersatzansprüche von etwa 300 000 DM.

Hans Joachim Wunderlich

Das Berufsverbot lebt. Am 27.1.1983 wurde der Diplommathematiker Hans Joachim Wunderlich, der im Rechenzentrum der Universität Karlsruhe arbeitete, während der Probezeit entlassen und mit sofortiger Wirkung beurlaubt. Der Grund: er hatte vor drei Jahren bei den Landtagswahlen für die DKP kandidiert.

Hans Joachim Wunderlich war am 16. September 1982 als wissenschaftlicher Angestellter zur Unterstützung der Benutzer des Rechenzentrums in ihren Forschungsvorhaben und in der Lehre eingestellt worden. Von über 40 Bewerbern hielt man ihn für den geeignetsten. Dabei spielte seine wissenschaftliche Quailifikation die entscheidende Rolle. Dies wird ihm nachwievor bestätigt. Der Kanzler und der Direktor des Rechenzentrums haben bei der Entlassung betont, es handle sich nicht um fachliche Gründe.

Vielmehr wurde angeführt, Hans Joachim Wunderlich sei ein Sicherheitsrisiko. Ihm wird unterstellt, er habe möglicherweise Kontakte »zum Osten«. Es bestehe damit die Gefahr, daß Informationen weitergegeben werden. Der Kanzler führte das Argument an, die Geräte, mit denen Hans Joachim Wunderlich arbeitet, stünden sogar auf der Embargoliste der USA-Regierung gegenüber den Ostblockländern.

Hans Joachim Wunderlich wurde vor der Kündigung zu diesen Vorwürfen nicht angehört. Er erhielt bei dem Gespräch mit dem Kanzler der Universität die vorgefertigte schriftliche Kündigung und mußte an Ort und Stelle alle Dienstausweise abgeben. Ihm wurde mitgeteilt, die sofortige Beurlaubung bedeute nicht, daß er nicht mehr zu arbeiten brauche, sondern daß er nicht mehr arbeiten solle.

Die Kündigung verstößt gegen das Verbot der Diskriminierung nach Grundgesetz Artikel 3 Absatz 3 und Grundgesetz Artikel 33 Absätze 2 und 3; danach darf bei der Besetzung von Stellen im öffentlichen Dienst die politische und weltanschauliche Gesinnung keine Rolle spielen. Diese Entlassung reiht sich ein in die Praxis der Berufsverbote, aber sie geht in der Begründung über das bisher bekannte Maß an Grundrechtsverletzungen noch hinaus. Denn die sogenannten »hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums« werden hier nicht mehr als Vorwand benutzt, um den Verfassungsbruch zu kaschieren. Die politische Disziplinierung geschieht ohne jedes legitimatorische Mäntelchen.

So geht man um mit dem »Feind« im Zustand des Faustrechts. Der politisch Anders-denkende genießt darin auch keinen Schutz vor Diffamierung. Er wird seiner Würde und persönlichen Ehre beraubt, und vom Etikett »Verfassungsfeind« zum Donnerwort »Landesverräter« ist es nur ein Schritt, den die Berufsverbieter in ihrer Vorstellungswelt insgeheim wohl längst getan haben.

Mit dem Hinweis auf das Reagan-Embargo befindet man sich auch im sicheren Schoß höherer Autoritäten. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika erläßt Direktiven, die vom vorauseilenden Gehorsam eines deutschen Hochschul-Kanzlers zur Entlassung eines deutschen Angestellten umgesetzt werden.

Inzwischen häufen sich weitere neue Berufsverbotsfälle. So wie im Falle Wunderlich die Begründung für die Entlassung erheblich ausgeweitet wurde, so erweitert man auch die Betroffenengruppen. So sind bereits Grüne oder Engagierte in der Friedens- und Ökologiebewegung sowie Teilnehmer an Demonstrationen mit Verwarnungen, Entlassungen und Nichtverbeamtung beschieden worden. Wir müssen den Berufsverboten wieder mehr Aufmerksamkeit widmen.

Hartwig Hansen und andere

Am 20. April 1983 verschickte die Senatskommission für das Personalwesen der Freien Hansestadt Bremen an Hartwig Hansen und 14 weitere Personen, die als Kriegsgegner gegen eine öffentliche Rekrutenvereidigung am 6. Mai 1980 demonstriert hatten, Aufforderungen, innerhalb von 12 Tagen jeweils als Gesamtschuldner 160 230,20 DM zu bezahlen. Diese 15 von damals 15 000 Demonstranten sollen für Schäden an Dienstkleidung, Waffen und Gerät der Polizei und am Bremer Weserstation aufkommen, die während der damaligen Krawalle entstanden sind. Dabei ist ihre Beteiligung an den gewalttätigen Auseinandersetzungen nicht zweifelsfrei bewiesen. Auch sind Ursachen und Wirkungen der Krawalle ungeklärt.

Die Freie Hansestadt Bremen beruft sich in ihren Kostenbescheiden auf § 840 BGB, der die »gesamtschuldnerische Haftung« jedes einzelnen »Mittäters» für entstandene Schäden einer Straftat festlegt. Die Behörde setzt also voraus, eine gewalttätige Störung oder Verhinderung der öffentlichen Rekrutenvereidigung sei »geplant« gewesen, wofür sie allerdings den Nachweis schuldig bleibt. Vielmehr wird mit der Rechtsfigur aus § 840 BGB über die »gesamtschuldnerische Haftung« rückwirkend aus der Demonstrationsbeteiligung der 15 Beschuldigten auch auf deren Teilnahme an einer vorsätzlichen Verabredung geschlossen.

Bei näherer Betrachtung dieses Vorgangs erwiesen sich die Kostenbescheide zum einen als rechtsmißbräuchlich, vor allem aber durch die politische Absicht getragen, im Zusammenhang mit den im Herbst anstehenden Demonstrationen gegen die Stationierung der Pershing II in der Bundesrepublik eine Abschreckungswirkung zu erzielen. Demonstrierende Bürger sollen von der Wahrnehmung ihres Grundrechts auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit abgehalten werden, indem man im Prinzip jedem einzelnen von ihnen mit der Aufbürdung existenzvernichtender Kosten für etwa entstehende Schäden droht. Für diese Interpretation spricht nicht zuletzt der Zeitpunkt, zu dem die Kostenbescheide ausgestellt wurden, nämlich etwa drei Jahre nach den Ereignissen.

Es geht hier nicht darum, gewaltförmiges Verhalten von Demonstranten zu rechtfertigen. Wir haben immer die grundrechtliche Auffassung vertreten, daß die Demonstrationsfreiheit dort ihre Grenze findet, wo Gewalt angewendet wird. Da jedoch die Entwicklung von friedlichen Massendemonstrationen zu gewaltsamen Ausschreitungen an
bestimmten Brennpunkten für den einzelnen Demonstrationsteilnehmer nicht voraussehbar und nicht kalkulierbar ist, stellt der Versuch, willkürlich herausgegriffene Demonstranten finanziell haftbar machen und strafrechtlich verfolgen zu wollen, eine verfassungswidrige Handlung dar, weil dadurch ein Grundrecht (Demonstrationsfreiheit) unterminiert wird.

Im vorliegenden Falle stellen die Kostenbescheide für die zumeist jugendlichen Betroffenen eine Vernichtung ihrer bürgerlichen Existenz dar bzw. der Chance, eine solche in Zukunft aufzubauen. Auch dient der eingeschlagene Weg der Kostenbescheide durch die Freie Hansestadt Bremen nicht der übergeordneten Staatsaufgabe der Erhaltung des innergesellschaftlichen Rechtsfriedens. (Es bleibt leider anzumerken, daß der sozialdemokratisch geführte Bremer Senat mit diesem Vorgang gerade jene Rache- und Verfolgungspolitik praktiziert, die die SPD insgesamt an den Bonner Regierungsplänen zur Verschärfung des Demonstrationsrechts mit guten verfassungsrechtlichen Gründen kritisiert.)

Brigitte Heinrich

Montag, 16. Mai 1983: Brigitte Heinrich tritt — wie es verschönend heißt — ihre Haft im Frankfurter Frauengefängnis an. Die politische Justiz blieb unerbittlich, bis hin zum 3. Senat des Bundesgerichtshofs. Auch eine Verfassungsbeschwerde fruchtete nichts. Ebenso unbeugsam blieben die parlamentarischen und regierungsamtlichen Instanzen des Landes Baden-Württemberg, die der Gerechtigkeit trotz des Urteils des Landgerichts zu Karlsruhe aus dem Jahre 1980 hätten eine Gasse freischaffen können. Anfang 1982 waren zahlreiche Petitionen und Gnadengesuche eingereicht worden, weil der »normale Rechtsweg« zu Ende gegangen, zugleich aber im Hinblick auf Urteil und Verurteilte ein doppeltes festzustellen war: das Urteil entspricht nicht den demokratisch-rechtsstaatlichen Anforderungen des Grundgesetzes. Brigitte Heinrich muß ihre 16monatige Haftstrafe antreten, obwohl nicht wiedergutzumachende gesundheitliche und berufliche Schäden zu gewärtigen sind.

Vom Landgericht zu Karlsruhe wurde 1980 »für Recht erkannt«, daß Brigitte Heinrich »wegen vorsätzlich unerlaubter Einfuhr von explosionsgefährlichen Stoffen und wegen vorsätzlichen Einführens, Erwerbs und Weitergabe von Kriegswaffen ohne die erforderliche Genehmigung« zu 21 Monaten Gesamtfreiheitsstrafe ohne Bewährung zu verurteilen sei (eine fünfmonatige Untersuchungshaft, die, wie sich später herausstellte, auf einem Polizei- und Justizirrtum beruhte und zu schweren gesundheitlichen Schäden bei Brigitte Heinrich führte, wurde angerechnet). Dieses Urteil des Karlsruher Landgerichts strotzt von Widersprüchen. Es gründet auf zweifelhaften Indizien. Weil sich das Gericht nicht anders zu helfen weiß, denn verurteilt soll werden, werden die spärlichen Mosaiksteine der Indizien in einem vom Gericht erfundenen Konstrukt, dem »Gesamtbild«, das die Angeklagte biete, zusammengefügt.

Noch skandalöser ist, daß das Gericht Umstände, die selbst bei besseren Indizien zur Aussetzung der Strafe hätten führen müssen, nicht der Angeklagten zugute gerechnet, sondern vielmehr gegen sie verkehrt hat. Hierher zählt vor allem die »extrem lange Verfahrensdauer«, die auch vom Gericht eingeräumt wird. Über zehn Jahre. Hierher zählen auch die gesundheitlichen Schädigungen, die Brigitte Heinrich während der Untersuchungshaft 1974/75 erlitt. Das Gericht zieht daraus aber nicht die Konsequenz der Haftverschonung, sondern schwingt sich zum inhumanen Haftpädagogen auf: gerade weil Brigitte Heinrich gesundheitlich gefährdet sei, werde sie die Strafe umso ernster nehmen.

Man lese die ungeheuerlichen Sätze im Urteil des Karlsruher Landgerichts: »Die gesundheitlichen Folgen der Untersuchungshaft hat die Kammer ebenfalls berücksichtigt; denn für die Außervollzugsetzung des Haftbefehls hat der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs seinerzeit auch die Erkrankung der Angeklagten an einer Lymphdrüsenerkrankung berücksichtigt. Hieraus ergibt sich, daß damit zu rechnen ist, daß sich die Angeklagte durch eine erneute Freiheitsentziehung bei der Strafvollstreckung besonders beeindrucken lassen wird.«

So also wird Recht gesprochen in diesem Lande. Unbarmherzig, erpicht auf »Läuterung« von Angeklagten durch Krankheit und Angst. Denn von den Vorwürfen bleibt am Ende nichts außer besagtem Gesamtbild und der gerichtlichen Unterstellung auf die angeblichen in Spurenelementen bei Brigitte Heinrich zu mutmaßende »kriminelle Energie« — der biologistisch-alchimistische Hauptvorwurf politischer Justiz.

Wer kann da noch ruhig bleiben, wenn also »rechtsstaatlich« mit Menschen in der Bundesrepublik verfahren wird? das Parlament (genauer die CDU-Mehrheitsfraktion) und insbesondere die Landesregierung von Baden-Württemberg können. Sie lassen Petitions- und Gnadenrecht als notwendige Korrektive der Justiz verkümmern. Denn hier in Sachen Brigitte Heinrich hätten sie korrigieren müssen. Um des Rechts und der Gerechtigkeit willen. Beide Institutionen und ihre Repräsentanten laden aber durch ihr Nicht-Verhalten selbst Schuld auf sich. Schuld im Hinblick auf Rechtsfrieden und Rechtsgeltung in diesem Lande. Und nicht zuletzt im Hinblick auf die Humanität.

Zu hoffen bleibt, daß Brigitte Heinrich allen bösen Umständen zu trotz dennoch an Leib und Seele heil diese ungerechte Strafe übersteht. Uns verbleibt, Brigitte Heinrich persönlich beizustehen, während der Haftzeit und auch danach.

Hans-Werner Krauss

Am 30. Mai 1983 vertagte sich das Landesarbeitsgericht in Frankfurt auf ein halbes Jahr. Die Hoechst AG hatte neue »Argumente« nachgeschoben. Sie will auch weiterhin einen unliebsamen Mitarbeiter vom Betrieb fernhalten.

Es geht um einen eklatanten Fall von Grundrechtsverletzung, der, zwar in anderer Weise wie der Seveso-Giftskandal, offenkundig macht, wie seitens der chemischen Industrie kompetente Kritiker einer gefährlichen Umweltverschmutzung ausgeschaltet werden sollen.

Bisher wird die Auseinandersetzung des Chemieriesen Hoechst AG gegen den am 29. 12. 1981 fristlos gekündigten Biologielaboranten und Betriebsrat Hans Werner Krauss (er war bereits 20 Jahre bei der Hoechst AG beschäftigt) vor den Arbeitsgerichten ausgetragen, aber im Kern geht es um die verfassungsrechtliche Frage, ob das Grundrecht der freien Meinungsäußerung von einem Betrieb gegenüber einem kritischen Betriebsangehörigen suspendiert werden darf.

Hans Werner Krauss wurde auf der Liste »Kollegen für eine durchschaubare Betriebsratsarbeit« im März 1981 in den Betriebsrat der Hoechst AG gewählt. Die Liste will, wie ihr Name besagt, die Betriebsratsarbeit für alle Beschäftigten offenlegen und befindet sich damit allerdings in Opposition zur Betriebsratsmehrheit, die nicht selten eher die Interessen der Unternehmungsleitung vertritt, als die der Kolleginnen und Kollegen und der von Umweltschäden betroffenen Bevölkerung.

Auf einer Versammlung des SPD-Ortsvereins Frankfurt-Sossenheim, dessen Mitglied Hans Werner Krauss ist, machte er im Rahmen einer allgemeinen politischen Diskussion über ökologische Probleme in einem freien Diskussionsbeitrag sinngemäß folgende Aussage: »Ich bin Beschäftigter und Betriebsrat eines Unternehmens, das schon jahrelang in der Lage ist, mit dem ArbeitspIatzargument auf die hessische Landesregierung Druck auszuüben, einige nennen es auch erpressen, um die Produktion mit der Folge lebensbedrohender Umweltverschmutzung durchzusetzen« (zitiert nach dem Urteil des Arbeitsgerichts vom 11. Mai 1982).

Die Hoechst AG betrachtet sich durch diese Äußerung »verleumdet und aufs schwerste beleidigt«. Hans Werner Krauss wurde durch die Geschäftsleitung mit Zustimmung der Mehrheit des Betriebsrats fristlos gekündigt.

Abgesehen davon, daß sich die Frage aufdrängt, was an der Aussage von Hans Werner Krauss verleumderisch und beleidigend ist, weiß jeder einigermaßen Informierte, welche immense Umw’eltverschmutzung von Hoechst ausgeht.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland stellt im Grundrechtsartikel 5 Absatz 1 eindeutig fest: »Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort… frei zu äußern…«. Dieses Grundrecht gilt auch für die von der Hoechst AG inkriminierte Aussage von Hans Werner Krauss. Dieser Interpretation — eine andere läßt das Grundgesetz auch garnicht zu — folgte das Arbeitsgericht Frankfurt, das in seinem Urteil vom 11. Mai 1982 die Kündigung für rechtsunwirksam erklärte. Das Arbeitsgericht wies in einem 40seitigen Urteil ausführlich und begründet nach, daß die Aussage von Hans Werner Krauss auf der SPD-Versammlung zweifelsfrei unter das Grundrecht der freien Meinungsäußerung fällt und deshalb keinen Kündigungsgrund darstellen kann. Obwohl sich das Frankfurter Arbeitsgericht dabei auf höchstrichterliche Beschlüsse berufen konnte, und auch der Grundrechtsartikel 5 Absatz 1 die Hoechst AG als Arbeitgeber bindet, hält diese die fristlose Kündigung aufrecht und legte Berufung beim hessischen Landesarbeitsgericht ein. Keine Frage, für den Vorstand der Hoechst AG bedeutet es gewiß nicht mehr als ein »Schoppengeld«, diesen Prozeß durch alle möglichen Instanzen zu führen. Hans Werner Krauss dagegen, der nun seit anderthalb Jahren arbeitslos ist, könnte dabei auf der Strecke bleiben und mit ihm das Grundrecht der freien Meinungsäußerung.

Nachdem die Sache für die Hoechst AG auch am 30. Mai 1983 vor dem Landesarbeitsgericht nicht gut stand, schob der Konzern nun einen neuen Vorwurf nach: Hans-Werner Krauss hätte bereits am 4. Februar 1980 (das liegt nun über drei Jahre zurück) in der »Hessenschau«, von hinten aufgenommen und mit verzerrter Stimme, der Hoechst AG vorgeworfen, sie verstoße gegen Umweltschutzbestimmungen. Nur, die Hoechst-Anwälte blieben den Beweis für das neue Kündigungsargument schuldig. Auch ist dieses im Kündigungsschreiben vom 29.12.1981 nicht erwähnt. Und, daß die Hoechst AG den Umweltschutz wenig ernstnimmt, wurde ihr jüngst sogar auf einer Aktionärsversammlung vorgehalten.

Öffentlichkeit in allen Umweltproblemen ist erste Voraussetzung, um der zunehmenden Naturzerstörung entgegentreten zu können. Umweltskandale sind schonungslos aufzudecken. Wer zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen seine Meinung frei und öffentlich sagt, ist dafür durch das Grundgesetz geschützt, gleichgültig wer sein Arbeitgeber ist.

Am Beispiel Hans-Werner Krauss wird deutlich, wie eng die unverkürzte Inanspruchnahme eines Grundrechts und der Kampf gegen Umweltzerstörung zusammengehören. Und es wird offenbar, wie schnell die Grundrechte am Fabriktor enden. Angesichts dieser Sachlage ist es besonders erschreckend, daß die Industriegewerkschaft Chemie Papier Keramik und die Betriebsratsmehrheit der Hoechst AG sich nicht hinter Hans-Werner Krauss stellen. Sollte es der Hoechst AG gelingen, Macht vor Recht durchzusetzen, dann wäre dies eine Niederlage für die Grundrechte, eine Niederlage für die Gewerkschaften und eine Niederlage für alle freiheitlich und ökologisch gesinnten Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande.

Mit den hier geschilderten Vorgängen, die beispieIhaft aufzeigen, wie oft in diesem Lande trotz seiner demokratischen Verfassung Macht vor Bürgerrechte geht, wollen wir nicht erschrecken und Resignation fördern. Vielmehr steckt im Verhalten der meisten Betroffenen zugleich eine Widerständigkeit, die auch ermutigen kann. Man versucht einzuschüchtern, zu disziplinieren und praktiziert menschenunwürdige Verfahren, aber die, die es trifft, nehmen dies nicht mehr widerstandslos hin. Die Macht der Mächtigen wird brüchig — bürgerrechtliches Engagement und Solidarität aller mit den herausgegriffenen Betroffenen staatlicher und privatwirtschaftlicher Willkür haben eine Chance, weil nicht nur Friedenssehnsucht und Umweltbewußtsein wachsen, sondern auch mitmenschliche Sensibilität und emanzipatorische Anstrengungen immer mehr Menschen zur Richtschnur werden.

nach oben