Publikationen / vorgänge / vorgänge 62-63

Gewalt­freies Widerstehen ist ein Bürgerrecht

Entschließung der Delegiertenkonferenz vom 12. Juni 1983

aus: vorgänge Nr. 62/63 (Heft 2-3/1983), S. 187

Die Humanistische Union ist der Auffassung, daß es in der Bundesrepublik gegenwärtig darauf ankommt, im Unterschied zum verfassungsrechtlichen Widerstandsbegriff nach Art. 20 Abs. 4 Grundgesetz wie in den Vereinigten Staaten Aktionen des gewaltfreien Widerstehens im Sinne des zivilen Ungehorsams anzuerkennen oder zu dulden. Das gewaltfreie Widerstehen ist ein Bürgerrecht. Soweit dabei Ordnungswidrigkeiten erfolgen oder die verwaltete Normalität beispielsweise durch einen Hungerstreik gestört wird, kann darin ebensowenig ein »Angriff gegen den Rechtsstaat« gesehen werden, wie dann, wenn bei einer Großkundgebung oder einer Prozession die öffentliche Ordnung in dieser oder jener Form tangiert wird (Straßen oder Plätze werden unpassierbar, Verkehr muß umgeleitet werden etc.). Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit rechtfertigen solche Verletzung niederrangigen Rechts, bei der spontanen Demonstration sogar ohne vorherige Anmeldung.

In den Vereinigten Staaten ist es der Bürgerrechtsbewegung gelungen, neben und im Unterschied zum Widerstandsrecht die rechtliche Konstruktion des zivilen Ungehorsams durchzusetzen oder zu erreichen, daß solche Aktionen nicht mehr öffentlich diskriminiert werden. In der Bundesrepublik dagegen wird der Unterschied zwischen einem gewaltfreien Widerstehen im Sinn des zivilen Ungehorsams und dem Widerstandsrecht im Sinne des Grundgesetzes teilweise bewußt verwischt. Dabei wird die Doppeldeutigkeit des Wortes »Widerstand« als Widerstehen, Standhalten oder Opponieren in Ausübung des Demonstrationsrechts einerseits sowie als legitime Gegenwehr zur Wiederherstellung der von den Regierenden gebrochenen Legalität im Sinne des Widerstandsrechts andererseits ausgenutzt. Sogar das gewattfreie Widerstehen in der Form des Ungehorsams als Hungerstreik wird als Angriff auf den Staat interpretiert, um auf diese Weise diese unbequeme Form des Opponierens zu diskriminieren, zu illegalisieren und zu eliminieren. Die Verkehrung geht bereits so weit, daß das gewaltfreie Widerstehen, weil es unzweifelhaft eine Aktion ist, von Politikern, Polizeiinstanzen und sogar Gerichten als Widerstand und Gewalt interpretiert und nahezu ebenso bestraft wird, wie die Anwendung physischer Gewalt. Man strebt Abschreckung an, produziert aber Gewalttätigkeit, wenn bereits das gewaltfreie Widerstehen zur Gewaltanwendung erklärt wird.

Allerdings gibt es auch eine Romantik des Widerstandes und der Militanz, die den gewaltfreien Widerstand zur Vorstufe oder Einübung zum »wirklichen« Widerstand zu machen sucht. Wer daran festhält, Aktionen des gewaltfreien Widerstehens in die Nähe des verfassungsrechtlichen Widerstands zu rücken, muß daher wissen, daß er sich damit in eine Frontstellung nach zwei Seiten begibt.

Das gewaltfreie Widerstehen im Sinn des zivilen Ungehorsams ist eine Gegenwehr, die mehr Mut, Disziplin und Selbstüberwindung kostet als die Reaktionen der Gewalttätigkeit. Deshalb ist die Anwendung dieser spezifischen Aktionsform an besondere Voraussetzungen gebunden: Das gewaltfreie Widerstehen ist keine Allzweckwaffe; es ist vielmehr ein allerletztes Mittel für den Fall, daß andere Formen eines Protestes, der auf Gewissensgründen beruht, nicht zur Kenntnis genommen werden; der hohe persönliche Einsatz wird erbracht, um einer partiellen Rechtsverletzung entgegenzutreten, um fundamentale Rechte durchzusetzen oder um Leben, Gesundheit und Lebenssphäre zu schützen.

nach oben