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Basis­de­mo­kra­ti­sches Urgestein: Zivil­cou­rage

Nüchterne Überlegungen

aus: vorgänge Nr. 62/63 (Heft 2-3/1983). S. 1-2

Die angemessene Haltung, welche die demokratisch gesinnten Bürger gegen die Diktatur einzunehmen haben (einzunehmen hätten, wenn sie einsichtig und mutig genug sind), ist Widerstand. Wir kennen ihn als aktiven Widerstand, der gewaltlos sein kann, und als passiven Widerstand. Im Vergleich damit scheint das, was wir »Zivilcourage« nennen, einen geringeren Rang zu haben. Schon daß das Wort ein Fremdwort ist, scheint diese Haltung abzuwerten. Die Frauen und Männer des 20. Juli mußten die Zivilcourage geradezu als Hindernis empfinden: um an den Diktator heranzukommen, mußten sie sich tarnen, mußten sie »in der Uniform des Feindes« auftreten. Auch als die Studenten der »Weißen Rose« in München ihre Flugblätter-Aktion vorbereiteten, mußten sie neben dem Bekennermut auch die Zivilcourage im Zaume halten und als loyale akademische Staatsbürger erscheinen. Jaruslaws Haseks listiger Held, der brave Soldat Schwejk, ein kleiner, aber faszinierender Mann des passiven gewaltlosen Widerstandes, konnte sich die Äußerung der Zivilcourage, die sein Herz und seinen Kopf erfüllte, nicht leisten, und auch Bert Brechts Rat zur List mutet den Leidenden und Kämpfenden den Verzicht auf die Lust der Zivilcourage zu. Das weist uns darauf hin: die Haltung, sich vom Mächtigen nichts gefallen zu lassen, die zunächst gerade in ihrer Äußerung vor allem durch das ungehemmte Wort existiert, kann doch auch als stumme Haltung leben, sozusagen überwintern. Ist der innere Widerspruch gegen das diktatorische Regime ernsthaft durchdacht und als Gemütszustand eine ernste Empfindung, so hält man in der stummen Zivilcourage den Protest als solchen, als Zorn oder gar Wut, in sich und im Gespräch der Freunde lebendig: Der grimmige politische Witz war nur dann ein Akt des Widerstands, wenn er bewußt eingesetzt wurde; unter den Freunden war er ein Ventil der zur Stummheit verurteilten Zivilcourage. Freilich wird man diese Vorstellung einer stummen Zivilcourage vielleicht als konstruiert empfinden: das Sprachgefühl sieht ja gerade in der Äußerung der Zivilcourage ihr Wesen erfüllt, sei es durch Handlungen oder durch bewußtes Nicht-Handeln (Ungehorsam), sei es vor allem durch das ungeschminkte den Mächtigen entgegengeworfene Wort.

Diktaturen sollten nicht gestürzt werden müssen: Diktaturen sollten verhindert worden sein. Als Eugen Kogon uns im Sommer 1945 in Frankfurt diese Einsicht nahebrachte, als er meinte, nur eine Macht im System der Diktatur wie die Generalität oder das Offizierscorps (oder Teile der einen oder des anderen) hätten das System stürzen können, konnte uns auch die Grenze der Zivilcourage bewußt werden. Sie ist in der Diktatur zur Disposition gestellt — mit Ausnahmen, über die noch zu reden sein wird. Zivilcourage ist dort, wo von denen, die dazu in der Lage sind, aktiver Widerstand gefordert wäre, wo für viele immerhin der passive Widerstand von allen Demokraten gefordert ist, eine der Voraussetzungen einer »inneren Emigration«, einer geistigen und seelischen Enthaltung vom Bösen, eines Wohnens in einer von der Diktatur nicht erreichbaren inneren Welt; Zivilcourage ist aber in dieser Lage zu wenig und zu viel. Sie ist zu wenig, weil couragierte Nadelstiche nichts bewirken, zu viel, weil sie den allzu Couragierten sinnlos gefährden. Ein hochriskantes Verhälten kann seinen Sinn nur entweder im Erfolg oder aber im »Martyrium« haben, als wirkendes Zeichen selbst im Scheitern.

Doch gilt diese Überlegung nur für die etablierte Diktatur. Solange es noch nicht ausgemacht ist, daß sie fest im Sattel sitzt, solange sie sich in tausend mal tausend Einzelmaßnahmen erst zu etablieren sucht, ist Bürgerstolz vor Funktionärs-Sesseln, ist ein couragiertes Nein noch ein notwendiges Kampfmittel. Es kann in der konkreten Welt dieser Übergangszeit manches Böse verhindern, manche gute Position retten, — mindestens bis auf weiteres oder aber überhaupt. Und in dieser Phase ist auch das Risiko oft noch nicht tödlich: die Macht selbst ist ja noch nicht allmächtig. In diese Phase, die im Jahre 1933 am 30. Januar begann (wenn man nicht schon die Vorstufen mitrechnet, spätestens vom Staatstreich von Papens auf Preußen an), bis zum Ermächtigungsgesetz Ende März dauert oder auch bis zur Ermordung Ernst Röhms 1934, dem Signal der endgültig gesicherten Diktatur. »Endgültig« war sie mindestens bis zu der radikalen Veränderung der Verhältnisse, welche erst die drohende Kriegskatastrophe bewirkt hat. Diese Phase am Beginn der Diktatur ist nicht zuletzt durch die »Gleichschaltungen« gekennzeichnet, ihnen konnte man im konkreten Ablauf der Verhandlungen oft durch Zivilcourage begegnen, und zuweilen ist das tatsächlich geschehen.

Dieser Zeit sinnvoller Zivilcourage am Anfang der Diktatur entspricht eine andere gegen ihr Ende. Seit Stalingrad, mindestens aber seit der Invasion der Westmächte in der Normandie war dieses Ende abzusehen. Hier eröffnete sich für die Zivilcourage ein neues Feld der Bewährung: als es galt, gefährdete Menschen (Soldaten beim Rückzug, Zivilisten in der Heimat, Zwangsarbeiter) gegen lebensgefährdende Anordnungen der gerade noch mächtigen Funktionäre (vor allem der SS) zu retten. Das ist auf dem großen Rückzug der Armeen, auch in den vom Bombenkrieg erschütterten Städten immer wieder geschehen, vor allem angesichts der vorrückenden Alliierten, im allerletzten Augenblick.

Wenn man in solchen Überlegungen der Zivilcourage nur einen begrenzten Raum zuweist, der auf dem Höhepunkt der faschistischen Gewalt klein genug gewesen ist, so verstärken sie doch die Einsicht, daß Zivilcourage eine große Bedeutung hat, wenn diktatorische Gewalt, wenn autokratische oder auch nur autoritäre Strukturen verhindert werden müssen. Zivilcourage ist basisdemokratisches Urgestein. Was wir in der unmittelbaren Zukunft zu erwarten haben, nicht einen Nationalsozialismus, kaum — was nicht dasselbe ist — einen kompletten Faschismus, wohl aber ein autoritäres oder auch nur autoritäreres Regime, Eskalationen von Gewalt und Gegengewalt, den »Atomstaat«, den kälteren und kalten Krieg: das alles fordert den Bürgersinn und den Bürgerstolz heraus, das republikanische Herz. Zivilcourage ist eine der Formen des Widerstands, die wir in unseren Zeiten in uns entwickeln, in den Mitbürgern anzuregen haben.

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