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Recht zum Widerstand

Die Friedensbewegung und die Raketenstationierung

Eine Tagung der Gustav Heinemann-Initiative

aus: vorgänge Nr. 62-63 (Heft 2-3/1983), S. 166-172

Besteht noch eine Chance, daß der sogenannte »Nachrüstungsbeschluß« nicht im Herbst dieses Jahres in die Tat umgesetzt wird? Wie reagiert die Friedensbewegung auf eine Stationierung der Pershing-II-Raketen und der Cruisemissile-Marschflugkörper? Gibt es Möglichkeiten eines legalen Widerstandes, möglicherweise sogar eine »Pflicht zum Widerstand« auch über die Legalität hinaus?

Als sie ihre Jahrestagung 1983 plante, hatte sich die Gustav Heinemann-Initiative vorgenommen, zu einer Klärung dieser bedrängend aktuellen Fragen beizutragen. Die Initiative, ein überparteilicher und überkonfessioneller Zusammenschluß von Bürgern, die im Sinne Gustav Heinemanns politisch tätig werden wollen, versteht sich selbst als Teil der Friedensbewegung. Seit dem Gründungsjahr 1978 finden jährlich in Rastatt Tagungen zu bestimmten Themenkomplexen statt. Mit der zunehmenden Bedrohung durch die Über-Rüstung und der ebenfalls zunehmenden Entwicklung der Friedensbewegung trat dieser Aspekt immer mehr in den Vordergrund — und wurde von Jahr zu Jahr genauer gefaßt. 1981 war das Motto der Jahrestagung noch sehr allgemein gehalten — »Frieden retten / Frieden stiften« —; 1982 wurde es in »Friedensaufgaben der Deutschen« präzisiert, und in diesem Jahr lautete es schließlich »Recht zum Widerstand« [1].

»Mögen manche dahinter noch ein Fragezeichen setzen wollen«, griff Brigitte Gollwitzer in ihrer Begrüßungsansprache das Tagungsthema auf, »vielleicht weil sie nicht den Weg zu Gesetzwidrigkeiten öffnen wollen, vielleicht auch, weil Widerstand gegen Obrigkeit im deutschen Denken nur mühsam Platz findet. Ich meine, es müßte eher ein Ausrufezeichen dahinter stehen, damit wir verstehen, was es heißt, unsere Lebensrechte wahrzunehmen.«

Um die Tagungsteilnehmer vorweg mit aktuellen Informationen über derzeit bestehende und geplante Strategien und Waffen zu versorgen, hatte man den Friedensforscher Dr. Alfred Mechtersheimer eingeladen.
Anhand einer Analyse vergangener Rüstungskontrollverhandlungen und der »nicht verhandlungsfähigen« Gründe für Rüstung — etwa innenpolitische Anlässe oder Außenhandelsüberlegungen – kam er zu dem Schluß, daß Rüstungskontrolle in starkem Maße »Opium der Regierungen gegenüber dem Abrüstungswillen der Menschen ist«, daß also Hoffnungen auf ein positives Verhandlungsergebnis in Genf zumindest unrealistisch sind. Mechtersheimer machte klar, daß die Pershing-II-Raketen gegenüber den russischen SS-20-Raketen eine neue militärische Qualität aufweisen: Sie sind im Endanflug nachsteuerbar und können theoretisch über zig Kilometer einen Stecknadelkopf treffen. Von »Nachrüstung« kann also keine Rede sein… Ähnlich bei den Cruise-missile-Marschflugkörpern. Es handelt sich hierbei im Grunde um ein Flugzeug, bei dem der Pilot durch einen Computer ersetzt wurde. So kann es riskanter und damit
militärisch interessanter fliegen. Eine Weiterentwicklung, an der auf Hochtouren gearbeitet wird, sieht vor, daß diese Art »Bombenflug-zeug« aus einem Material gebaut wird, das keine Radarstrahlen reflektiert.

Eine neue Dimension von Rüstung, so Mechtersheimer weiter, befindet sich zur Zeit in der Entwicklung: Durch elektromagnetische Felder, die von Militär-Satelliten erzeugt werden, sollen die Waffen der Sowjetunion funktionsunfähig gemacht werden. War die seitherige Strategie, daß sich beide Seiten bewußt verwundbar gehalten haben, um sich dadurch selbst mitabzuschrecken, so versuchen die USA jetzt, sich unverwundbar zu machen. Dies jedoch provoziert nach militärischer Logik unweigerlich einen Präventivschlag. Das ist gar keine Frage des politischen Willens: »Der präventive Einsatz ist ein Muß für jeden an diesem nuklearen Wettlauf Beteiligten«, sagte Mechtersheimer.

Diese Zwänge führen dazu, daß auch derjenige, der sich nur verteidigen will, angreifen muß. Die Bekundung eines Ersteinsatzverzichts ist deshalb nichts als Propaganda. Damit einher geht eine — im Gegensatz zu früher — strenge Geheimhaltung der neuen NATO-Doktrin, die einer, so Mechtersheimer, »totalen Entdemokratisierung von oben« gleichkommt.

Auf dieses deprimierende Referat folgte ein Blick auf die »andere Seite«, der geeignet war, der Resignation entgegenzuwirken. Die Kölner Publizistin Carola Stern befaßte sich mit der Geschichte der deutschen Friedensbewegungen von 1892 bis heute, um dann auf die Frage einzugehen, durch welche Umstände sich die Friedensbewegung momentan selber schwächt. Um jedoch nicht gleich wieder Mutlosigkeit aufkommen zu lassen, zählte sie auch die bisherigen Erfolge auf, die vor allem in einem zunehmenden Bewußtmachungs- und Bewußtwerdungsprozeß zu sehen sind. Zur rechten Zeit zu widerstehen, darauf komme es an, meinte Carola Stern und schloß mit dem Satz von Martin Niemöller: »Wir werden nicht Ruhe geben, so-lange der Atomtod unser Volk bedroht.« Achim von Borries weitete den Blick auf die internationale Friedensbewegung aus, die für die deutsche Friedensbewegung Rückhalt und Verpflichtung ist. An den Friedensgruppen in den Vereinigten Staaten hob er voralIem die stark demokratische Struktur hervor — und natürlich ihre offensichtlichen Erfolge, etwa die endgültige Beschlußfassung der katholischen Bischöfe über den Hirtenbrief »Die Herausforderung des Friedens — Gottes Versprechen und unsere Antwort«, der im Mai dieses Jahres mit 238 gegen 9 Stimmen angenommen wurde. Oder die Entschließung des amerikanischen Repräsentantenhauses, ebenfalls im Mai 1983, für einen »beiderseitigen und nachprüfbaren Stopp der USA und der UdSSR bei der Produktion und Aufstellung von Atomwaffen«. Dieser »Freeze«-Beschluß bindet die Regierung nicht, vermag aber doch Druck zu erzeugen.

Bemerkenswert ist übrigens, daß die Vollversammlung der Vereinten Nationen schon Mitte Dezember 1982 dieselbe Foderung beschlossen hat, ohne daß das zumindest in der Bundesrepublik in das öffentliche Bewußtsein gedrungen wäre. Bei dieser Entschließung der UNO stimmte die Sowjetunion für ein »Einfrieren« der Atomwaffen, ebenso das NATO-Mitglied Griechenland; Dänemark und Island als weitere NATO-Partner enthielten sich der Stimme — wohl weil in diesen Ländern die Friedensbewegung so stark ist, daß die Regierungen sich ein Contra nicht hätten leisten können. Von 119 Staaten stimmten lediglich die USA, Großbritannien, Frankreich und die Bundesrepublik gegen diesen Beschluß.

Stark ist die Friedensbewegung auch in England, führte von Borries weiter aus. Dort ist sie in einer einzigen Organisation, der »Campaign for Nuclear Disarmament«, zusammengefaßt, die etwa 450 000 Mitglieder auf nationaler und ca. 250.000 Mitglieder auf lokaler Ebene hat. Der britischen Friedensbewegung sind nicht nur einige große Demonstrationen gelungen;

auch ihre Forderung nach atomwaffenfreien Zonen fand ein positives Echo. 142 Städte, darunter Sheffield und Leicester, der Großraum Manchester und der Großraum London, haben ihr Gebiet zur atomwaffenfreien Zone erklärt. Besonders starken Einfluß in der Öffentlichkeit hatte das Frauenfriedenslager in Greenham Common, einem der Orte, an denen die Cruise missiles stationiert werden sollen.
Auch in den skandinavischen und den Beneluxländern gibt es, trotz (oder wegen?) meist konservativer Regierungen, einflußreiche Friedensbewegungen.

Im Unterschied zu früheren pazifistischen Organisationen handelt es sich heute bei den Friedensbewegungen um Massenbewegungen, die inner- und außerparlamentarisch arbeiten und eine demokratische Legitimität haben. Um so dümmer, meinte von Borries, sei die Verleumdung als »moskaugesteuert« oder »moskauhörig«, die man in vielen Ländern hören könne. Gesinnungsethik und Sachverstand hätten sich in den Friedensbewegungen zusammengefunden, alternative Strategien seien mit hohem Sachverstand entwickelt worden; der Rechtfertigungszwang liege inzwischen bei den Rüstungsbefürwortern.

Der Vormittag des zweiten Tages war einer Reihe von Referaten gewidmet, die unter dem Motto »Gewaltloser Widerstand — Ziviler Ungehorsam« standen. Wolfgang Däubler widmete sich den verfassungsrechtlichen Aspekten. Gleich zu Beginn seines Vortrages stellte er fest: »Es müßte viel von dem, was bisher unser Grundgesetz ausmacht, über Bord geworfen werden, wollte man der Raketenstationierung den verfassungsrechtlichen Segen erteilen.« Es folgte eine bestürzende Aufzählung: Die Stationierung auf deutschem Boden verstößt gegen die Souveränität der Bundesrepublik. Über die 5tationierung, selbst, aber auch zum Bei-spiel über die Stationierungsorte, muß (theoretisch) der Gesetzgeber entscheiden. Verletzt sind schließlich das Grundrecht auf Leben und Gesundheit und das Friedensprinzip des Grundgesetzes. Die Folgerung von Professor Däubler:

  • »Wer sich gegen die Stationierung wendet, nimmt damit nationale Interesen wahr; er ist im besten Sinne des Wortes ein Patriot.
  • Wer sich gegen die Stationierung wendet, verteidigt die Rechte des Parlaments.
  • Wer sich gegen die Stationierung wendet, verteidigt Grundrechte und demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten.
  • Wer sich gegen die Stationierung wendet, nimmt das Friedensprinzip ernst.
  • Das bedeutet: Widerstand ist gerechtfertigt.«

Aus juristischer Sicht jedoch ist Widerstand schwierig. Die Inanspruchnahme des Widerstandsrechts nach Art. 20 Abs. 4 Grundgesetz ist aus verschiedenen Gründen nicht möglich. Neben den bekannten Aktionsformen — Meinungskundgabe, Protest und die Erklärung des Gemeindegebiets zur atomwaffenfreien Zone — schlug Däubler eine »konsultative Volksbefragung« vor. Der Erfolg einer solchen Befragung hänge allerdings entscheidend davon ab, wer die Fragen formuliere.

Schließlich wies Däubler darauf hin, daß auch das traditionelle Mittel des Sich-Widersetzens, das Beschreiten des Rechtsweges, noch nicht voll ausgeschöpft ist. So ist bisher die sogar im konservativen juristischen Schrifttum vertretene These unbeachtet geblieben, die Festlegung der Stationierungsorte sei ein vor den Verwaltungsgerichten anfechtbarer Verwaltungsakt. Eine solche Inanspruchnahme von Rechtsschutz hätte grundsätzlich aufschiebende Wirkung.

An diese Ausführung von Professor Däubler knüpfte Professor Hans Schulte an, der die strafrechtlichen Aspekte von Widerstand untersuchte und sich dabei vorallem auf den Begriff der Nötigung konzentrierte. Die Justiz, so führte er aus, unterscheidet zwischen Gewalt und Gewalttätigkeit. Der Begriff der Gewalttätigkeit setzt aggressives Handeln voraus, während »Gewalt« auch durch einen psychischen Zwang ausgeübt werden kann. Diese »Vergeistigung des Gewaltbegriffs« hat positive und negative Seiten. Allerdings: nach § 240 Abs. 2 StGB ist eine Tat nur dann rechtswidrig, »wenn die Anwendung der Gewalt zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist«. Für die Juristen ist jedoch der vordergründige Zweck ausschlaggebend, also etwa die Erregung von Aufmerksamkeit, und nicht der letzte Zweck — also beispielsweise die Abrüstung. Die Grundfrage lautet: Wer bestimmt, was Gewalt ist? Das Definitionsmonopol hat der Staat; andernfalls hätte er auch kein Gesetzgebungsmonopol, was wiederum den Staat selbst in Frage stellen würde. Und, so Schulte, man könne nicht erwarten, daß die Mächtigen einen Gewaltbegriff bereithaIten, der die Ohnmächtigen begünstigt. Bei der Frage nach der Gewaltdefinition kommt man allerdings sehr schnell in logische Sackgassen, denn die nächste Frage müßte lauten: Wer bestimmt, was ein demokratischer Rechtsstaat ist? Wer sagt, daß das Bundesverfassungsgericht das Grundgesetz richtig interpretiert? Der Ausweg aus der logischen Ausweglosigkeit ist, daß man an einem bestimmten Punkt heraustreten muß aus der Berufung auf höhere Gewalten. Wenn aber — so die nächste Frage — sowieso irgendwann im Denken der Konsens verweigert werden muß, warum dann nicht gleich auf niedrigerer Ebene?

Die Konsequenz wäre vor allem, daß man die gesamte Verantwortung auf sich selbst nehmen müßte. Aber noch erwas anderes zeigte dieses Gedankenspiel von Schulte: Es ist einfach, sich eine moralisch akzeptable und logisch unanfechtbare Begründung für Gewalt auszudenken.

Die Friedensbewegung, so Professor Schulte zum Abschluß, müsse sich fragen, ob sie den Staat, der nun einmal Realität ist, prinzipiell akzeptiert und so auch das damit untrennbar verbundene Rechtsetzungs- und Machtmonopol — und ob sie, wenn sie Mehrheitsentscheidungen bejaht, auch den Gewaltbegriff der Mehrheit akzeptiert.

Als nächster Referent macht sich Andreas Zumach (»Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste«) Gedanken über »Möglichkeiten und Notwendigkeiten politischen Handelns«. Einen wichtigen Teil seines Beitrages bildeten aber auch weitere Informationen. So erklärte er Gerüchte für unwahr, es sei geplant, die Raketen-Stationierung in den Sommer hinein vorzuverlegen. Es bleibe dabei, daß am 15. Dezember 1983 die Pershing-II-Raketen in der Bundesrepublik »gefechtsbereit« sein sollen; am gleichen Tag soll die Stationierung der Cruise missiles in England und auf Sizilien abgeschlossen sein. In der Bundesrepublik sollen die Cruise missiles erst im Spätherbst 1984 aufgestellt werden, und zwar in dem Ort Wüschheim bei Simmern.

Auch Aktionen der Friedensbewegung sind schon konkret geplant. Zumach berichtete, daß sich die »Aktionskonferenz der Friedensbewegung« geeinigt habe auf eine gemeinsame, de-zentrale Aktionswoche vom 15. bis 21. Oktober 1983; zum AbschIuß soll es am 22. Oktober drei »Volksversammlungen für den Frieden« geben, eine in Bonn, die anderen beiden in Nord- und Süddeutschland. Diese Aktionen werden von 26 Organisationen gemeinsam vorbereitet. Vom 6. bis 16. November schließlich soll — wie schon im vergangenen Jahr — eine bundesweite »Friedenswoche« stattfinden.

Ergänzend zu von Borries‘ Referat schilderte Andreas Zumach die Auswirkungen des Beschlusses von Städten in England, sich zur »atomwaffenfreien Zone« zu erklären: Von den — seinen Informationen zufolge — 200 Städten hätten sich 160 im Sommer vergangenen Jahres geweigert, sich an einer von der Regierung Thatcher verordneten Zivilschutzübung für den Fall eines Atomkrieges zu beteiligen. London und Birmingham hätten ihre Atomschutzbunker geöffnet und daraus Jugendzentren und Begegnungsstätten gemacht. In der Bundesrepublik gebe es derzeit allerdings erst 31 Städte und Gemeinden, die eine solche Erklärung abgegeben hätten.

Zumach regte an, Bundestagsabgeordnete aller Parteien anzusprechen und ihnen ein Hearing zur Nachrüstung vorzuschlagen. Die Initiative dazu könne nicht aus den Parteien selbst kommen; sie müsse von der Friedensbewegung ausgehen.

Im Anschluß daran berichtete Pfarrer Volkmar Deile, Geschäftsführer der »Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste«, von der Studie »Sicherheitspartnerschaft und Frieden in Europa. Aufgabe der deutschen Staaten, Verantwortung der deutschen Kirchen«. Diese Arbeit hat die Theologische Studienabteilung beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR im März 1983 vorgelegt. Sie lehnt sich stark an Vorschläge und Empfehlungen der »Palme-Kommission« an, die als Grundbedingung für die Verhinderung eines nuklearen Krieges und für die dauerhafte Friedenssicherung in Europa zum einen die schrittweise Reduzierung und Entflechtung der beiden Militärbündnisse, zum anderen politische und wirtschaftliche Stabilität in beiden Teilen Europas genannt hat.

Die Studie aus der DDR schlägt konkrete Abrüstungsschritte vor, etwa die schrittweise Reduzierung von Militärausgaben und Bodenstreitkräften. Die dadurch freiwerdenden Mittel sollten einesteils für gemeinsame Wirtschaftprojekte in Ländern der Dritten Welt, anderenteils zur Überwindung der polnischen Wirtschaftskrise eingesetzt werden.

Volkmar Deile hob hervor, daß dem Begriff der »Sicherheitspartnerschaft« in der Diskussion um die Studie eine hohe Bedeutung zukommt: »Sicherheitspartnerschaft steht gegen Sicherheitsegoismus, gegen jede Erhöhung der gegenseitigen Bedrohung durch die Stationierung neuer, gefährlicher atomarer Vernichtungswaffen, für bedrohungsarme beziehungsweise bedrohungslose Sicherheitsmaßnahmen, für politische Beziehungen statt der Konfrontation und Erhöhung der Bedrohung durch immer neue Waffen.« Deile schloß mit der Hoffnung, daß diese Initiative aus der DDR bei unseren Kirchen, gesellschaftlichen Gruppen und bei der Regierung nicht ohne Antwort bleiben wird.

Als letzter Redner zum Thema »Gewaltloser Widerstand — Ziviler Ungehorsam« berichtete Jochen Buck von praktischen Erfahrungen. Es ging dabei um Aktionen in Engstingen, einem Dorf auf der Schwäbischen Alb, wo »Lance«- Kurzstreckenraketen stationiert sind, deren Sprengköpfe die doppelte Sprengkraft der Hiroshima-Bombe haben. Im Sommer vergangenen Jahres wurde die Kaserne eine Woche lang blockiert, indem sich Menschen vor dem Kasernentor auf der Straße niederließen. Diese Aktion erregte bundesweit Aufsehen.

Den Grundgedanken der Aktionen in Engstingen formulierte Jochen Buck gleich zu Beginn: »Eine einzige taktische Atomwaffe kann in Minuten soviele Menschen töten wie die Gaskammern von Auschwitz in Wochen. Die Aufstellung solcher Massenvernichtungsmittel ist auch dann ein Verbrechen, wenn sie auf  ‚demokratischem Weg‘ geschieht. Deshalb haben wir als Menschen — heute wie damals — die Pflicht, Gesetze zu brechen, die der Vorbereitung und Ausführung des Massenmordes dienen.«

Entstanden ist die Engstinger Aktion aus dem Wunsch, den Widerstand unabhängig von tagespolitischen Ereignissen langfristig zu organisieren. Man orientierte sich bewußt regional: Militarismus findet in seinen Auswirkungen ebenfalls regional statt — »die Massenvernichtungsmittel sind nicht in Bonn«, so formulierte es Jochen Buck. Denzentrale Aktionen zwingen außerdem die Bevölkerung in wesentlich größerem Maße, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Ein Schwerpunkt war denn auch die direkte Bevölkerungsansprache.

Begonnen hatte alles mit sechs Leuten, die an Ostern 1981 einen ersten Sternmarsch auf Engstingen mit tausend Teilnehmern organisierten. Im Frühjahr 1982 ketteten sich dann 13 Leute am Kasernentor an. Sie wurden erst am nächsten Tag von der Polizei und der Bundeswehr abgekettet. Später erhielten sie in zweiter Instänz eine Geldstrafe zwischen 350 und 600 Mark auferlegt.

Schon im Herbst 1981 hatte man mit der öffentlichen Vorbereitung der Sommeraktion ’82 begonnen. Es wurde ein »Soldatenarbeitskreis« eingerichtet, der Flugblätter verteilte, einen Stammtisch für Soldaten anbot, Filme zeigte und Diskussionen organisierte. Ein zweiter Kreis widmete sich der Arbeit mit der Bevölkerung. Er verteilte monatlich einen Rundbrief an alle Haushalte und organisierte über ein halbes Jahr lang eine Mahnwache an einem bestimmten Tag in der Woche, mitten im Dorf Engstingen.

Im Sommer vergangenen Jahres wurden zunächst sogenannte »Bezugsgruppen« gebildet, die jeweils aus zehn bis fünfzehn Leuten bestanden. Ihre Aufgabe war, die sonst bei Massenveranstaltungen auftretende Anonymisierung zu überwinden. In den Bezugsgruppen wurden die Aktionen vorbereitet und durchgeführt. Dabei waren die Gruppen etwa für Verpflegung und Unterkunft selbst verantwortlich. Auch die späteren juristischen Folgen wurden in diesen Bezugsgruppen aufgearbeitet.

Aktionen zivilen Ungehorsams, führte Buck weiter aus, erfordern ein hohes Maß an Disziplin und Vorbereitung. Bestimmte Umgangs-formen müssen vorher trainiert werden; Ängste müssen bewußt wahrgenommen werden.

Nach einem solchen Training war es dann im Juli/August 1982 soweit: Fünf Zeltdörfer wurden errichtet, in überschaubaren Gruppen von immer etwa 40 Leuten (von ingesamt 800) wurde die Kaserne in Engstingen blockiert. Siebzehnmal wurden dabei Blockadegruppen von der Polizei weggetragen.

Eine weitere Aktion fand am 12. Dezember 1982 statt. Einen Tag vorher setzte die baden-württembergische Landesregierung eine Verordnung in Kraft, nach der die Kosten für einen Polizeieinsatz von den Demonstranten selbst bezahlt werden müssen; der Rechnungssatz beträgt dabei DM 38— pro Polizist und angefangener Stunde.

Großen Wert legte Jochen Buck auf die Feststellung, daß es sich in Engstingen nicht um »Aktionen«, sondern um eine »Kampagne« handelt; Aktionen und Öffentlichkeitsarbeit sind miteinander verzahnt und über einen längeren Zeitraum geplant.

Diese Kampagne — vor allem die Blockade im Sommer 1982 — hatte vielfältige Folgen. Aus dem unbekannten Dorf Engstingen wurde ein Synonym für »Atomraketen«. In der Gemein-de selbst fand eine Polarisierung statt; die Bevölkerung war gezwungen, sich eine Meinung zu bilden. Nach anfänglicher Zurückhaltung beteiligten sich mehr und mehr auch Engstinger Bürger an den Aktionen. Schließlich: Fünf Soldaten der Kaserne verweigerten nach der Sommeraktion unter Bezugnahme auf diese Aktion den Wehrdienst. Darüber hinaus wurde durch diese Kampagne die Idee des gewaltfreien Widerstandes bundesweit bekannt.

Obwohl über 300 juristische Verfahren eingeleitet wurden (von denen bis dato vier in erster Instanz entschieden wurden; die Angeklagten wurden wegen Nötigung zu 20 bis 30 Tagessätzen ä 10 bis 25 Mark verurteilt), läßt die Engstinger Initiative den Mut nicht sinken: In diesem Jahr findet ein dreimonatiges Sommercamp statt, außerdem soll eine regelmäßige Veranstaltungsreihe, die »Volkshochschule Engstingen«, eingerichtet werden.

Nach diesen Referaten zum Thema »Gewaltloser Widerstand — Ziviler Ungehorsam« wurde die Tagung in kleinen Gesprächskreisen fortgesetzt. Wichtige Anregungen aus diesen Gesprächskreisen waren: Es sollte ein Forum für die Koordinierung zwischen den Berufsgruppen gebildet werden; bei den Gewerkschaften sollen Aktionen — wie spontane Arbeitsniederlegungen — angeregt werden; die Möglichkeit eines »Fastens für das Leben« sollte geprüft werden. »Unbefristetes Fasten«, hieß es dazu aus der entsprechenden Arbeitsgruppe, »kann sinnvoll sein, um die Dringlichkeit — es geht um Leben und Tod — deutlich zu machen. Eine solche Aktion ist allerdings nur dann zu rechtfertigen, wenn sie mit einer konkreten, erfüllbaren Forderung verbunden ist.« Die Gespräche in den Arbeitskreisen mündeten schließlich in eine Plenumsdiskussion, in der unter anderem auf den Grundsatz »nulla poena sine lege« hingewiesen wurde: Die Ausdehnung des Gewaltbegriffs durch die Strafrechtsprechung sei unvereinbar mit dem Grundsatz, ‚daß eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit vorher bestimmt war. Ein anderer Diskussionsteilnehmer vertrat die Ansicht, eine Mehrheitsentscheidung könne die Friedensbewegung nicht binden, da die Grundrechte nicht bestimmbar seien.

Eine wichtige Anregung kam aus der Regionalgruppe Bonn der Gustav Heinemann-Initiative. Die nur verbale Solidarisierung mit dem Widerstand sei zu wenig; man könne aber auch nicht zum Widerstand aufrufen, da dies eine Gewissenentscheidung jedes einzelnen sein müsse. Gefordert wurde aktive Solidarität, etwa durch finanzielle Unterstützung, durch juristische Beratung und anderes. Dieser Vorschlag wurde aufgenommen; das Sekretariat der Gustav Heinemann-Initiative wird ein Konto für einen solchen Solidaritätsfonds einrichten.

Nach der etwa einstündigen Plenumsdiskussion beendete Erhard Eppler die arbeits- und ergebnisreiche Tagung mit seinem traditionellen Schlußwort, das die »vorgänge« in diesem Heft abdrucken.

Verweise

[1] Die Tagungen wurden jeweils in einem Buch dokumentiert: »Bekommen wir eine andere Republik?« (1978), »Bürgerfreiheit gegen Obrigkeitsstaat« (1979), »Wer macht unsere Zukunft? Sind wir nur Marionetten?« (1980), »Frieden retten — Frieden stiften« (1981), »Frieden —Aufgabe der Deutschen« (1982), »Recht zum Widerstand» (1983); alle Bände sind im RADIUS Verlag, Stuttgart, erschienen und kosten je DM 9.80.

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