Publikationen / vorgänge / vorgänge 62-63

Widerstehen zur rechten Zeit

vorgängevorgänge 62-6306/1983Seite 160-165

Aus der Rede zur Verleihung des Gustav Heinemann-Bürgerpreises 1983 an die Aktion Sühnezeichen in Rastatt. Aus: vorgänge Nr. 62/63 (Heft 2-3/1983), S. 160-165

1.

Das Erste, was ich sagen will, ist: Dankeschön dafür, daß die nun 25jährige Geschichte der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste mit der Person und dem Werk Gustav Heinemanns durch diesen Bürgerpreis eine feste Verbindung eingegangen ist. Wir fühlen uns gerade daß durch richtig verstanden…

Das Dankeschön für die Verleihung des Gustav Heinemann-Bürgerpreises sage ich hier aber vor allem für die tausende junger Menschen, die mit uns im Ausland gearbeitet haben, die zu denen gingen, »denen wir wohl am meisten wehgetan haben«. Sie haben durch ihre Arbeit die Bitte um Versöhnung ausgedrückt, wo kaum noch gemeinsame Sprache möglich war. Die Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen tun dieses heute noch: in Israel, in Polen, in den USA, in Norwegen, in Großbritannien, Frankreich, in Belgien, in den Niederlanden und jetzt auch in der Sowjetunion…

2. Aktion Sühne­zei­chen:

Ein Versuch, Schuld in Zukunft zu verwandeln. In der Arbeit der Freiwilligen wird das Friedensverständnis unserer Aktion deutlich. Frieden soll aus Versöhnung wachsen, Versöhnung ist möglich, wo Sühnezeichen errichtet werden. Sühnezeichen an den Orten menschlicher Schuld. So kann Schuld in Zukunft verwandelt werden. Hoffnung auf die Veränderbarkeit und die Bereitschaft, sich selbst zu engagieren, gehören dazu. Der Prozeß der Heilung menschlicher Verwundungen durch Krieg und Verfolgung braucht den freiwilligen Dienst der Menschen. »Man kann es einfach tun«, hat Lothar Kreyssig gesagt und damit eine Antwort auf die Frage gegeben, die einst Carl-Friedrich von Weizsäcker Martin Buber gestellt hat. Weizsäckers Frage war: »Warum sind alle unsere Appelle so fruchtlos? Antwort Buber: »Weil die Selbstverpflichtung dessen fehlt, der appelliert.« Vielleicht kann die freiwillige Selbstverpflichtung helfen, die Blockierung mancher grundsätzlicher Probleme, 3. Welt/ Frieden/Ökologie, bei uns zu lösen. Es ist jedenfalls erfreulich zu wissen, daß dieses »freiwillig etwas für den Frieden tun wollen« stark ist und daß die Friedensdienste der Aktion Sühnezeichen u.a. Organisationen deshalb meist überlaufen sind.

Die programmatische Aussage Friedensdienst im »Sühnezeichen« ist uns dabei kein Ballast. Nicht nur, weil viele Opfer und Täter von gestern noch mitten unter uns sind und lebensgeschichtliche Prägungen an Nachwachsende weitergeben, sondern auch, weil »Sühnezeichen« auf viele Konflikte paßt wie ein Schlüssel zum Verstehen. Christen in den nordamerikanischen Kirchen haben sofort verstanden, was Sühnezeichen meint, als sie über den Krieg in Vietnam und seine Opfer nachdachten und über das, was nach diesem Unrechtskrieg von ihnen zu tun sei. Sühnezeichen sind auch not-wendig von den Weißen, die in Südafrika, dem Lande des Rassismus, den Schwarzen die Gleichberechtigung vorenthalten. Sühnezeichen sollte die Richtung der Politik sein, die die Länder der nördlichen Erdhalbkugel gegenüber der 3. und 4. Welt machen, denn auf ihre Kosten leben wir doch weitgehend.

3. Erinnern — nicht vergessen: Damit kein Gras drüber­wächst!

Was Umkehr im Sühnezeichen heißt — persönlich und gesellschaftlich — ist uns in der Begegnung mit unserer eigenen Geschichte deutlich geworden. Wir — die Aktiven — sind zwar heute zum größten Teil Nachgeborene. Aber nur der, der die Legende vom angeblichen Nullpunkt 1945 wirklich glaubt, kann annehmen, die Geschichte davor habe nichts mehr mit uns danach Geborenen zu tun. Legende deshalb, weil 1945 ja nicht plötzlich lauter neue Menschen dagewesen sind; es waren dieselben Menschen, die unter anderen Verhältnissen weiterlebten. Denen, denen man Vergessen gönnen würde, den Opfern, sie können nicht vergessen. Wir, die die Erinnerung und Trauerarbeit notwendig haben, wir wollten vergessen und haben weitgehend verdrängt. Deshalb brauchen wir die Stimmen der Überlebenden. Schon allein daran wird deutIich: Geschichte ist Gegenwart. Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung. Trauerarbeit ist Gegenwartsbewältigung.

Ein polnischer Journalist, der Gruppen von uns in Auschwitz gesehen und gesprochen hat, schreibt: »Den Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen hat Auschwitz den Mund geöffnet. Sie wissen, daß Geschichte und Gegenwart eins sind. Für diese jungen Christen ist Auschwitz weder ein Phantom noch ein Gespenst. Auschwitz ist für sie weder Schweigen noch Ende einer Fahrt. Auschwitz ist der Beginn eines Weges und eine Stimme, die in die Zukunft führt.« So schwierig das für manchen zu verstehen sein mag, Auschwitz ist für uns der Ort, wo bei aller Belastung, der man sich dort stellen muß, der Deutsche seinen aufrechten Gang wieder erlernen kann. Ich denke, daß wir eines mit Recht von uns sagen können: Durch die Arbeit in den KZ-Gedenkstätten und das, was aus dieser Arbeit gewachsen ist, haben wir den Prozeß einer »Aneignung der deutschen Geschichte von unten« gefördert…

Begegnung mit der eigenen Geschichte, Betroffensein hilft dem Vergessen und Verdrängen zu entkommen. Denn: Wer Vergangenheit nicht aufarbeitet, versteht die Gegenwart nicht. Und wer die Gegenwart nicht versteht, wird anfällig für die braunen Versuchungen der Vergangenheit. Diese Art der Aneignung der Geschichte von unten wächst. Sie hilft uns, die oftmals ritualisierten Gedenkfeiern zu überwinden, die die richtige menschliche Trauer und damit auch die wirkliche Umkehr nicht zulassen, weil sie die Analyse der Ursachen und des wirklichen Beteiligtseins großer Teile der Bevölkerung verschweigt…

Ein besonderes Beispiel für diese Gefühllosigkeit ist die ausgebliebene Würdigung des kommunistischen Widerstandes während der NS-Zeit. Diese Würdigung würde doch die Fehler der Kommunisten vor der Nazizeit oder nach 1945 nicht wegwischen. Es ist schon wahr: Der Antikommunismus — ebenso wie der Antisemitismus — sagt nichts über den Vorverurteilten. Aber Vorurteile sagen alles über den Vorverurteiler. Wer dies feststellt, hat mächtige Gegner. Das ging schon Gustav Heinemann so. Ein »Informationsdienst der CDU-Landtagsfraktion Rheinland-Pfalz« schrieb 1955 im Zusammenhang mit einer Wahl: »Aus einer kommunistischen Quelle erhielt Dr. Heinemann Woche für Woche einige 10000 DM. Alle Ableugnungsversuche ändern an dieser Tatsache nichts.«

Wir sind also in guter Gesellschaft, wenn wir wie vor kurzem an den S-Pranger gestellt werden. »Geistig politische Entwicklungshelfer für Kommunisten« zu sein, warf uns der Staatssekretär im Bundesinnenministerium Spranger vor. Wir bekennen uns ganz offen hierzu. Und schämen uns »geistlich politischer Entwicklungshilfe« für jedermann überhaupt nicht. Wir hoffen, daß auch uns solche Helfer wachsen, denn die hat jeder nötig. Auch wenn er Staatssekretär im Bundesinnenministerium ist.

Geschichtsbewußtsein lehrt vieles deutlicher zu sehen — heute: So, wenn gegenüber den unter uns lebenden Ausländern von »überfremden-der Einwanderungspolitik« (Richard Stücklen) gesprochen wird. So, wenn die Sinti in unserem Land laut Beschluß der Innenministerkonferenz der Bundesländer unter »Hinweis auf Zigeunernamen und der Verwendung des Begriffes Landfahrer in der polizeilichen Informationverarbeitung« (Brief vom 3. 1. 1983) gespeichert werden. So, wenn wir hören, daß alle jüdischen Gottesdienste bei uns nur noch unter Polizeischutz stattfinden können.

4. Die Ostpolitik muß weitergehen

Die Gründer der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste wollten, daß wir vorallem nach Polen, in die Sowjetunion und nach Israel gehen. Gerade der Weg zu den am meisten Betroffenen ist nicht leicht gewesen. 1961 ging die erste Gruppe der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienst nach Israel. 1967 begannen Gruppen der Aktion Sühnezeichen in den polnischen Gedenkstätten zu arbeiten. Die lange Erfahrung bis heute hat uns gelehrt, daß für viele Polen der Weg eines Deutschen zu ihnen über Auschwitz führen muß. Diesen Weg gehend ist es uns möglich gewesen, zur Entwicklung der deutsch-polnischen Aussöhnung und der Entspannungspolitik beizutragen. Deshalb tut es uns weh, daß neben jener spontanen und großartigen Hilfsbereitschaft gegenüber der polnischen Bevölkerung im letzten Jahr auch andere Töne angeschlagen worden sind. Ein vollmungiger Spendenaufruf, eingelegt in unser Kirchenblatt, sprach plötzlich wieder von den »deutschen Ostgebieten«. Welches Ergebnis soll eigentlich eine Hilfe haben, die sich zwar »portofrei« an den Menschen wendet, und das ist gut, aber so tut, als ob es den polnischen Staat, westliche Kredite und Bankenpolitik nicht gibt? Die Fortführung der deutsch-polnischen Aussöhnung gebietet den Widerstand gegen jede weitere Vereisung zwischen Ost und West. Vereisung fördert, wer vom Fortbestand Deutschlands in den Grenzen von 1937 spricht, trotz aller Verträge…

Unser Eindruck vom augenblicklichen Stand der Ost-West-Beziehungen ist, daß wir uns in großer Geschwindigkeit zurückbewegen auf die Zeit, die vor 15 Jahren begann. Die humanitären und politischen Bemühungen der Ostpolitik müssen weitergehen.

5. Wo Schuld für Auschwitz und die mögliche nukleare Mensch­heits­ver­nich­tung sich kreuzen

Unsere Arbeit war auch immer der Versuch, Feindbilder, Kriegsgeneigtheiten und Drohungen zu überwinden. Feindbilder und Ängste sind es, die gefährliche Waffen wirklich explosiv machen. Die Politik rennt zur Zeit den Waffen hinterher. Eine dauernde Erhöhung der Bedrohung anderer mit immer neuen Waffen findet statt. Dagegen hat sich weltweit die Friedensbewegung gebildet. Sie hat Menschen und Gruppen erfaßt, die bis vor kurzem noch die »Theorie vom gerechten Krieg« vertreten haben. Die Lektion von Hiroshima wird gelernt. Das ist eine große Hoffnung. Wir selbst rechnen uns zu dieser Friedensbewegung. Wir haben unser Mittun in ihr unter das Motto »Frieden schaffen ohne Waffen« gestellt, weil wir das mit unserer Arbeit schon immer gemacht haben: zu einer politischen Entwicklung des Friedens beizutragen.

Noch nie in der Menschheitsgeschichte sind wir der MögIichkeit so nahe gewesen wie heute, den Rüstungswettlauf tatsächlich aufzuhalten und Abrüstung zu ermöglichen. Noch nie ist dieses gleichzeitig so notwendig gewesen. Die Gründe hierfür sind bekannt. Welthunger und die ökologischen und menschlichen Folgen des Rüstungswettlaufes zeigen, daß die immanente Logik von Drohung und Gegendrohung jede Ethik, die diesen Namen verdient, besiegt hat. Aus den politischen Waffen der Kriegsverhütung werden heute wieder militärische Waffen der Kriegsführung. Die entsprechenden Militärstrategien entstehen. Die Pershing II-Raketen sind nur der Anfang eines ganzen Paketes solcher Waffen in West und Ost. Gegen diese Waffen ist die Friedensbewegung eine politische Kraft geworden. Sie ist mehr als eine Antiwaffenbewegung. Sie trägt auch die Möglichkeit zu einer neuen Friedenspolitik in sich, ist Hoffnung auf anderes: auf eine Sicherheitspolitik; die den Sicherheitsegoismus überwindet und Sicherheitspartnerschaft im Nord-Süd-Verhältnis und Ost-West-Verhältnis ermöglicht. Mit Sicherheitspartnerschaft verträgt sich die Erhöhung der Bedrohung durch immer neue Waffen nicht. Die Friedensbewegung hat unserer Demokratie einen Dienst getan. Sie hat die Sicherheitspolitik einem Demokratisierungsprozeß unterworfen, der unserer Gesellschaft gut tut.

Dennoch: Wir haben in diesem Jahr 1983 folgenden Konflikt: Eine — man kann begründet vermuten — Mehrheit der Bevölkerung lehnt die Stationierung neuer Waffen ab. Gleichzeitig ist eine große Mehrheit unseres Parlamentes für den Fall, daß Verhandlungen erfolglos bleiben, für die Stationierung. Wir steuern also auf einen innenpolitschen Konflikt zu. Manche verleitet die vermutete Heftigkeit des Konfliktes dazu, leichtsinnig und gefährlich mit Toten zu rechnen. Wenn die Planungen der beteiligten Parteien dieses Konfliktes von dieser Annahme ausgehen, dann befürchte ich eine sich selbst erfüllende Prophetie, eine selffulfilling prophecy. Was ist die Situation.

6. Widerstehen zur rechten Zeit

Die Friedensbewegung hat das Problem, die ganze Breite des Widerstandes zu zeigen und eine größere Entschiedenheit. Die Form des ersten Anliegens werden Demonstrationen und ähnliches sein, das zweite Anliegen wird sich in Form gewaltfreier Aktionen zivilen Ungehorsams äußern.

Beide Formen des Widerstehens müssen sich komplementär ergänzen und dürfen sich nicht ausschließen. Deshalb müssen alle Aktionen gewaltfrei sein und bleiben. Wenn wir für die Aktionen dieses Herbstes das Wort »Widerstand« gebrauchen, so meinen wir die urdemokratische Tugend des »Widerstehens zur rechten Zeit«. Widerstehen nimmt nicht den Artikel 20 Abs. 4 GG für sich in Anspruch, der Widerstand legitimiert »gegen jeden, der es unter-nimmt, die Ordnung der Bundesrepublik Deutschland zu beseitigen«. Das Widerstehen beruft sich aber sehr wohl darauf, daß die Stationierung dem Gebot der Friedensstaatlichkeit des Grundgesetzes nicht entspricht. Die gewaltfreien Aktionen dieses Herbstes werden vielfältig sein. Einige haben den Zweck, mit einer von vornherein begrenzten und in seiner Planung offenen gewaltfreien Regelüberschreitung politischen Druck auszuüben. Die Sitzblockaden sind nicht der Beginn des Kampfes an den Stationierungsorten der neuen Waffen. Eine selbstlaufende Eskalation muß durch gewaltfreie Bewußtheit verhindert werden. Je deutlicher die Aktionen gewaltfreien zivilen Ungehorsams einen solchen politischen Zweck haben und deshalb symbolische Handlungen sind, desto größer ist auch die Nähe zum Grundrechtsschutz der Demonstrationsfreiheit. Die bisherigen Aktionen dieser Art haben dies bedacht, waren sorgfälig vorbereitet und sind deshalb auch erfolgreich gewesen. Sie haben auch unserer Demokratie nicht geschadet. Deshalb sollten sie auch nicht als demokratieschädigend dargestellt, mit Bußgeldern und der Androhung der Verschärfung des Demonstrationsrechtes beantwortet werden.

Die lange Tradition gewaltfreien zivilen Ungehorsams hat die amerikanische Demokratie nicht ärmer, sondern reicher gemacht. Für das Ende des Vietnamkrieges und für die Gleichberechtigung der Schwarzen. Man kann nicht einerseits Gandhi und Martin Luther King auf den Sockel der Menschheitshelfer stellen und das, was sie getan haben und wie sie es getan haben, kriminalisieren. Wenn es stimmt, daß die Aktionen dieses Jahres das Ziel haben, politischen Druck auszuüben, so ergibt sich daraus eindeutig, daß die Polizisten in garkeinem Fall die Gegner der Demonstranten sind. Die Verschiebung der notwendigen politischen Auseinandersetzung auf die Ebene Demonstranten gegen Polizisten wäre eine falsche und fatale Konfrontation. Wir werden alles tun, um uns in diese fatale Konfrontation nicht hineinreden zu lassen. Sie würde die Sympathie der Bevölkerung für die Friedensbewegung schmälern. Es kommt aber darauf an, die Mehrheit der Bevölkerung, die gegen die Stationierung ist, politisch wirksam werden zu lassen. Eine Möglichkeit, dieses zu tun, ist auch eine Initiative für eine konsultative Volksbefragung über die Stationierung. Sie kann ein Modell für die Demokratiefähigkeit unserer Gesellschaft an einem tiefgehenden Konflikt sein.

Wenn es im Herbst zu einer Konfrontation zwischen Demonstranten und Polizisten — oder gar Soldaten — kommen sollte, so hätte nicht nur die Friedensbewegung, sondern auch unsere Demokratie eine große Niederlage erlitten. Ich glaube nicht, daß es dazu kommt. Entgegen der gängigen Prophezeiung von Gewalt ist diese zur Zeit in allen Gruppen der Friedensbewegung kein Thema. Das muß nicht so bleiben: Wenn der Polizeipräsident von Berlin die Friedensbewegung als »trojanisches Pferd« bezeichnet, so fördert er genau das, was wir nicht brauchen können: Feindbilder und Abgrenzungsmentalitäten. »Das Ziel bleibt«, schreibt der Polizeipräsident über die Absicht der Friedensbewegung, »eine Atmosphäre der Unversöhnlichkeit und des Hasses zu schaffen und die Bundesrepublik unregierbar zu machen«. Das ist die eine Möglichkeit. Die andere spiegelt die Tagesschau-Meldung Ostern 1983 wider. Sie berichtet über Blockaden und stellt fest: »Aktionen verliefen gewaltfrei. Polizei und Demonstranten bezeichneten die Atmosphäre als entspannt.«

Wir haben die Wahl. Teile der Polizei — besonders in der Gewerkschaft der Polizei — haben in den letzten Wochen ihre Sympathie mit der Friedensbewegung bekundet. Das ist ein großes Hoffnungszeichen. Wir möchten die Innenminister, die Polizeipräsidenten und alle Verantwortlichen bitten, ihre Planungen für den Herbst am Modell des 10. Oktober 1981 in Bonn auszurichten. Die freundliche, unbewaffnete, ohne Helm und Schild angetretene Polizei und die Friedlichkeit der Demonstranten haben das Anliegen dieser Demonstration in seiner Wirkung vervielfacht. Eine gewaltfreie Friedensbewegung und eine zivil auftretende Polizei können sich gegenseitig helfen, keine Angst voreinander zu haben, sich nicht mit Feindbildern gegenüber zu stehen. Auch hier ist die Hilfe vieler gefragt. Auf regionaler und lokaler Ebene wie auf überregionaler Ebene sollten Kontakte zwischen den aktiven Gruppen der Friedensbewegung und der Polizei entstehen, die eine möglichst gute gegenseitige Information sicherstellen. Durch eine solche Anlage der Aktionen wird es leichter, den Konflikt dorthin zu bringen, wo er hingehört, nämlich auf die politische Ebene. Dort werden wir dann erfolgreich sein, wenn klar wird, daß die Stationierung innenpolitisch einfach nicht durchsetzbar ist. Das ist auch in den meisten westeuropäischen Ländern so.

Sie, die Sie uns heute diesen Preis verleihen, das Kuratorium des Gustav Heinemann-Bürgerpreises und damit besonders die SPD, bitten wir, ein unmißverständliches und endgültiges Nein zur Stationierung sobald wie möglich und klar auszusprechen. Zur Zeit sagen Sie dieses notwendige Nein noch nicht wegen der Verhandlungen in Genf. Diese sind für uns kein ausreichender Hinderungsgrund. Verhandlungen sind so gut wie die politischen Beziehungen der Verhandelnden. Deshalb gibt es wohl kein stärkeres Druckmittel auf die Genfer Verhandlungen als das Nein. Genf ist dann erfolg-reich, wenn überhaupt keine Stationierung er-folgt. Die Folge einer Stationierung wird eine
tiefgreifende Krise zwischen Ost und West sein, die die Menschen auf beiden Seiten schwer betreffen wird. Die Folge einer Stationierung wird aber auch eine tiefe Krise zwischen West und West, Europa und den USA und zwischen den Regierungen und Bevölkerungen der meisten westeuropäischen Länder sein. Man kann nicht von regierungsamtlicher oder kirchlicher Seite viele schöne Prinzipien einer anderen Friedenspolitik definieren und aussprechen und gleichzeitig sich um den konkreten Schritt des Neins zur Stationierung drücken, wenn diese gegen alle Prinzipien der Friedenspolitik verstößt. Auch die jetzige Regierung kennt die Gefahren, die der vollzogenen Stationierung folgen werden. Auch sie sollte sich deshalb dar-über im klaren sein, daß sie die Friedensbewegung braucht. Sie sollte aufhören, »amerikanischer« sein zu wollen, als die überwältigende Mehrheit des US-Bischöfe; als 70% der US-Bevölkerung, die das Einfrieren aller Nuklearwaffen unterstützen und eine Mehrheit des US-Repräsentantenhauses hinter sich haben…

Was heute wieder deutlich wird, ist, daß in der Bergpredigt, in der »Entfeindungsliebe« mehr zukunftsfähiger Realismus steckt als in den negativen Utopien, Feindbildern und tödlichen Bedrohungen unserer Realpolitik. Hoffentlich entdecken wir dies nicht zu spät. Erinnerung an vergangene und gegenwärtige Schuld, der Kreis schließt sich. Hans Jochen VogeI hat bei der Grundsteinlegung für die Internationale Jugendbegegnungsstätte bei Auschwitz im September 1981 diesen Zusammenhang deutlich gemacht: »So mag es sich zusammenfügen: Das Wissen um unermeßliche Schuld, der Versuch, die Vergangenheit zu überwinden, das Bemühen um die Aussöhnung der Polen und der Deutschen, das Ringen um den Frieden und die Begegnung junger Männer und Frauen aus vielen Völkern an diesem Ort, an dem Millionen Menschen gestorben sind. Zusammen-fügen zur Erfüllung des Vermächtnisses dieser Millionen: Nämlich unermüdlich neues Bewußtsein zu bilden und eine Ordnung zu schaffen, die ein neues Inferno, ja, die Apokalypse verhindert.« Dazu ist jeder von uns nötig. An uns wird es liegen, ob unsere Zeit eine Vorkriegszeit oder Vorfriedenszeit sein wird. Seltsam, daß wir dieses Wort nicht kennen. Bis wir erreicht haben, was Hans-Jochen Vogel das Zusammenfügen der Erinnerung an vergangene Schuld und des Eintretens für Frieden heute nennt, wird es notwendig sein, mit der »Gedold überwindender Liebe«, wie Kurt Scharf dies 1982 vor der UNO-Abrüstungskonferenz sagte, an den Brücken der Versöhnung, die tragfähig sind, weiterzuarbeiten. Der »unermütliche Geist des Protestantismus« (Siegfried Lenz) hat noch einiges zu tun…

nach oben