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Recht zum Widerstand - oder: Rastätter Anmerkungen

aus: vorgänge Nr. 62-63 (Heft 2-3/1983), S. 59-66

Nachdem wir jetzt zum sechstenmal hier in Rastatt beieinander waren, bilden sich Traditionen.

Darüber hinaus bildet sich so etwas wie ein Stil in der Gustav Heinemann-Initiative. Wer unsere Tagung verfolgt hat, der merkt: dies ist der Stil des teilweise trockenen Arguments, der beherrschten Emotion, des aufmerksamen Hörens und des behutsamen, aber verbindlichen Sprechens. Und das ist ja nicht wenig.

Für uns alle ist Jalta – und damit die Teilung Europas – keineswegs sakrosankt und unantastbar. Aber: Wenn man »gemeinsame Sicherheit« sagt, dann wird das doch wohl zuerst eine gemeinsame Sicherheit zwischen den Blöcken sein und erst dann, wenn aus der gemeinsamen Sicherheit ganz langsam ein System kollektiver Sicherheit wird, dann werden sich Paktsysteme relativieren, auflockern, überwölben und schließlich, ja, erübrigen lassen müssen. Die ist wohl die Reihenfolge. Das ist eine ganz eigentümliche Dialektik: Wer den Status quo überwinden will, muß ihn zuerst einmal respektieren und akzeptieren, weil er ihn sonst nur weiter verfestigt.

Beide Weltmächte haben in Europa Sicherheitsinteressen. Sie müssen und werden Formen finden, diese Sicherheitsinteressen in Europa durchzusetzen. Die Frage, die wir stellen — nicht für heute – ist, ob dies immer in Form der Blöcke sein muß, wie sie heute bestehen. Das einzige Land in Europa, das seit 1945 die sowjetischen Sicherheitsinteressen zuverlässig, ohne jedes Schwanken respektiert und garantiert hat, war weder Polen noch Rumänien noch Ungarn noch die DDR, sondern Finnland. Und vielleicht kann man daraus irgendwann auch etwas lernen. Jedenfalls: So richtig es ist, daß heute jeder die Friedensdiskussion in Europa blockiert, der die deutsche Frage in den Vordergrund stellt, so richtig ist auch, daß irgendwann, vielleicht in den neunziger Jahren, die Blocklogik durchlöchert, aufgelockert und schließlich aufgelöst werden muß.

Wir haben darüber gesprochen, was die Friedensbewegung bisher erreicht hat. Ich glaube, da gibt es vier Stufen:

Die erste Stufe haben wir schon 1981 erreicht, und zwar sowohl hier als auch jenseits des Atlantik. Das war, daß die Regierungen ihre Rhetorik geändert haben. Die Rhetorik Reagans war Ende 1981 eine andere als zu Beginn des Jahres 1981. Man mag sagen, das hat die Dinge eher verschleiert – aber immerhin, es war eine Wirkung.

Das zweite war, daß die Friedensbewegung — wieder diesseits und jenseits des Atlantik! — eine Grundsatzdiskussion über Fragen von Frieden und Sicherheit erzwungen hat, die es in den siebziger Jahren höchstens in Experten-Zirkeln gegeben hat.

Das dritte: Strategien wurden offengelegt — für jedermann nachlesbar; Strategien, die sonst nur in Geheim-Zirkeln verhandelt werden.

Ich glaube, wir sind jetzt bereits in der vierten Stufe, wobei die Amerikaner uns wiederum ein bißchen voraus sind, nämlich in der Stufe des direkten politischen Einflußnehmens. Die Freeze-Resolution im Repräsentantenhaus war ein massives Stück Weltpolitik, das letztlich ausging von einem kleinen Zirkel um Randall Vossberg, der versucht hat, die Basis in Amerika zu mobilisieren.

Innerhalb von drei Jahren ist dann die Freeze-Bewegung entstanden. Uns steht diese Phase des politischen Einflußnehmens auf Entscheidungen noch bevor. Alfred Mechtersheimer hat darüber gesprochen, daß der Charakter der Abschreckung sich in den letzten zehn Jahren total verschoben hat. Man könnte etwa vier verschiedene Phasen der Abschreckung unterscheiden. Was ist dann der fundamentale Unterschied zwischen 1972 und 1982, den wir überall deutlich machen müssen?

1972 wurde der SALT-I-Vertrag abgeschlossen, in dem beide Weltmächte darauf verzichtet haben, die jeweiligen Raketen des anderen abzufangen, falls sie es gekonnt hätten. Sie wollten das nicht; sie haben bewußt ihre Bevölkerung dem anderen zur Geisel geben, um klarzumachen: wenn wir dies tun, können wir ja gar nicht die Absicht haben, auch anzugreifen. Es war eine Strategie der Abschreckung und Selbstabschreckung; jeder hat sich selbst mitabgeschreckt, indem er sich bewußt verwundbar hielt gegenüber dem anderen. Das mag eigentümlich sein, aber es hatte eine bestimmte innere Logik. Jetzt geht es um das Schließen des »Fensters der Verwundbarkeit«, jetzt geht es darum, so unverwundbar zu werden, daß man sich Krieg wieder leisten kann, daß man Krieg wieder führen, durchstehen und gewinnen kann. Jetzt geht es nicht mehr um die gegenseitige Abschreckung, sondern um die einseitige und totale Abschreckung. Weinberger will den anderen nicht sagen: Wenn dies und jenes geschieht, dann gehen wir alle in die Luft — sondern: Wenn ihr dies und jenes tut, dann werden wir euch auf jeder Eskalations-Stufe atomar niederkämpfen, bis wir gewonnen haben. Und die wirkliche Strategie Weinbergers ist, den Atomkrieg so gewinnbar zu machen, daß ihn die USA gar nicht mehr zu gewinnen brauchen. Deshalb sagt er ja auch mit Recht, er wolle keinen Atom-krieg. Natürlich will er keinen: Er will ihn so gewinnbar machen, daß er ihn gar nicht mehr zu gewinnen braucht, weil dann der Gegner — etwa in einem Nahost-Konflikt — schon vorher klein beizugeben gezwungen ist.

Was wir haben an Abschreckung jetzt, ist die Utopie einer technokratisch errüstbaren Unverwundbarkeit und damit praktisch absoluten Sicherheit. Was Reagan über die LaserStrahlen gesagt hat, mit denen man im Weltraum alles abfangen kann, hat sogar die amerikanischen Politiker zum Lächeln gebracht, aber das ist genau die Utopie der totalen, errüstbaren, von Technokraten durch Erfindungen herstellbaren Sicherheit.

Alfred Mechtersheimer hat dazu gesagt, daß dies mit einer fast tödlichen Logik zum Kriege führt. Ich würde das so ausdrücken: Wo die bewegenden großen Utopien des Abendlandes absterben, wie zum Beispiel die Utopie der gewaltlosen Welt, von der wir durch Carola Stern gehört haben, bleibt kein Vakuum, sondern da dringen dann die trostlosen, schäbigen, technokratischen Utopien ein, zum Beispiel die Utopie, man könne sich durch immer neue Erfindungen schließlich unverwundbar machen.

Diese Utopie ist eine Utopie, weil das nie möglich ist. Das Land der Unverwundbaren ist buchstäblich nirgendwo, denn wir Menschen sind verwundbar geschaffen worden. Unverwundbar sind wir bestenfalls im Tode, und jeder Versuch, sich unverwundbar zu machen, endet nirgendwo anders als im Tode.

Der Siegfried in der Nibelungensage war nur insofern menschlich, als er noch an einer Stelle verwundbar war. Der eine, unverwundbare Mensch wäre Herr über alle. anderen, und deshalb gibt es ihn nicht. Der eine, unverwundbare Staat wäre Herr über alle anderen, und wohl deshalb gibt es auch ihn nicht, jedenfalls nicht vor einem Ausrottungskrieg.

Und: Diese Utopie ist schäbig, weil sie gar nicht an den neuen Adam appelliert, nicht an eine neue Gesellschaft, sondern weil sie dem bürgerlichen, alten Adam in einer perfekten Weise sein krankhaftes Sicherheitsstreben garantieren und erfüllen will. Man wendet sich nicht an die Gemeinschaft, sondern an den einzelnen. Tödlich ist diese Utopie, weil sie zu gar nichts anderem führen kann als — im besten Fall — zu einem völlig uferlosen Wettrüsten.

Bei der alten Abschreckungsstrategie von McNamara reichte eine bestimmte Zahl von Atomraketen; um die gegenseitig gesicherte Zerstörung festzuschreiben, brauchte man nicht mehr.

Wenn Atomkrieg gewinnbar gemacht werden soll, gibt es keine Grenze des Rüstens, denn dazu kann man nie genug haben. Das ist der beste denkbare Fall. Aber der wahrscheinlichste Fall ist der Krieg, die Vernichtung, denn — auch das hat Alfred Mechtersheimer sehr nüchtern dargelegt — irgendwann kommt der Punkt, wo das NichtLosschlagen noch gefährlicher wird als das Losschlagen, weil die andere Seite in einem Spannungsfall permanent mit dem Entwaffnungs- oder gar »Enthauptungs«schlag zu rechnen hat, praktisch ohne Vorwarnung des anderen. Die Pershing gehört genau in die-se Strategie, nirgendwo sonst hat sie einen Sinn. Sie ist die Waffe, mit der man praktisch ohne Vorwarnung die Befehlszentrale der anderen Seite ausschalten kann. Und ich glaube, wir sind uns darin einig, daß es zu dieser Art von Strategie nur ein eindeutiges, durch gar nichts gemildertes Nein geben kann.

Für diejenigen, die die Diskussion in der Evangelischen Kirche in Deutschland in den letzten 30 Jahren verfolgt haben, füge ich hinzu: dieses Nein zu dieser Art Strategie müßte eigentlich nicht nur für diejenigen gelten, die die Heidelberger These 7 für sich in Anspruch nehmen — nämlich, daß Atomwaffen in jedem Fall abzulehnen sind — sondern auch für diejenigen, die im Bereithalten, im Vorhandensein von Atomwaffen zum Zwecke der Abschreckung, wie sie damals verstanden wurde, noch eine christliche Handlungsweise sehen wollten. Im Grunde müssen wir, wenn wir alles ernstnehmen in der evangelischen Kirche, was wir je selber gesagt haben, alle miteinander zu dieser Strategie Nein sagen.

Ich gestehe, daß ich zu keinem Zeitpunkt ein ernsthaftes Ergebnis von den Genfer Verhandlungen erwartet habe, und zwar aufgrund einer ganz simplen Interessenanalyse. Die Waffen, die SS 20, um die hier so diskutiert wird, obwohl wir 15 Jahre lang 600 SS 4 und SS 5 gegen uns gerichtet hatten, ohne daß jemals einer darüber geredet hat, diese Waffen können nur Europa treffen, nicht die Vereinigten Staaten. Die Pershing hingegen kann die Weltmacht Sowjetunion »enthaupten«. Es gab also von Anfang an eine gewaltige Diskrepanz der Interessen. Die eine Weltmacht war direkt, die andere nur indirekt von diesen Mittelstreckenraketen betroffen. Bei der einen ging es um Leben und Tod, bei der anderen ging es nur um Verbündete. Und das ist, wenn es um Leben und Tod geht, eben doch ein Unterschied.

Das sage ich ohne jeden Vorwurf; wir Deutsche würden genauso handeln, wenn wir eine Weltmacht wären. Deshalb war von vornherein klar, daß das Interesse der Vereinigten Staaten an der Stationierung der Pershing weit größer sein mußte als am Abbau der SS 20. Inzwischen hat Andropow einen Vorschlag gemacht — über den wir hier schon kaum mehr reden in dieser konformistischen Medienlandschaft! — der darauf hinausliefe, daß die Sowjetunion nachher weniger als die Hälfte der atomaren Sprengköpfe hätte, die sie 1977 hatte, als Breschnew und Helmut Schmidt von einem ungefähren Gleichgewicht sprachen. Andropow hat eine Reduzierung auf weniger als 300 Sprengköpfe angeboten; damals hatte die Sowjetunion gut 700.

Wir reden schon gar nicht mehr darüber, weil wir uns inzwischen wohl damit abgefunden haben, daß die Amerikaner stationieren wollen. Deshalb war die Philosophie dieser Verhandlungen von vornherein falsch: wir müßten Druck auf die Sowjetunion ausüben. Dies ist geschehen, und nicht ohne Erfolg. Aber noch nie hat mir einer sagen können, wie wir Druck auf die Vereinigten Staaten ausüben sollen, wenn die wissen: In dem Augenblick, in dem die Verhandlungen gescheitert sind, können sie stationieren. Und im Augenblick habe ich den Eindruck, daß dieser Druck nicht nur nicht ausgeübt werden kann, sondern auch gar nicht ausgeübt werden soll. So können wir uns ungefähr vor-stellen, was bei den Genfer Verhandlungen herauskommen wird.

Der Widerstand dagegen ist nicht der Widerstand, den Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes meint — darüber haben wir uns, glaube ich, verständigt — sondern wir wollen mit allen Mitteln, mit Ausnahme der Gewalt, versuchen zu widerstehen.

Hans Schulte hat uns mit dem trockenen Wirklichkeitssin des Juristen klargemacht, daß wir den staatlichen Organen nicht verwehren können zu definieren, was Nötigung und was Gewalt sei; — aber man könne es auch uns nicht verwehren, für uns selbst zu definieren, was wir für gewaltlos und für gewalttätig halten.

Zwischen diesen beiden Definitionen wird es eine Differenz geben. Das ist vor allem am Schluß der Diskussion deutlich geworden. Diese Differenz müssen wir nun ohne Wehleidigkeit, ohne Jammern mit einer gewissen Gelassenheit, ja Fröhlichkeit tragen, denn das steckt an.

Wenn im militärischen Bereich jeder Versuch, die absolute Sicherheit zu errüsten, nur im Tode enden kann und der Versuch, jedes Risiko auszuschalten, das Riskanteste ist, was man tun kann, dann gilt das doch auch hier. Man kann nicht gegen diese Raketen angehen und sich gleichzeitig nach allen Seiten juristisch, psychologisch und auf andere Weise sichern wollen. Das paßt nicht zusammen. Aber daß wir hier, auf dieser Tagung, einen Solidaritätsfond beschlossen haben, das paßt durchaus dazu. Denn wenn es zwischen dem Staat und dem einzelnen Gewissen verschiedene Definitionen von Gewaltlosigkeit gibt, dann müssen wir einander helfen.

Wir wollen Widerstand leisten auf allen Ebenen. Da ist zuerst einmal die Ebene des Wortes. Wir haben festgestellt, daß wir hier keinerlei Minderwertigkeitskomplexe zu haben brauchen. Die Rationalität dieser Tagung war überhaupt nicht zu übertreffen und stand weit über der Rationalität jeder Bundestagsdebatte der letzten Zeit.

Manche von uns haben, im Gegensatz zu mir, einen Aufkleber: »Ohne Rüstung leben« oder »Frieden schaffen ohne Waffen!« Wenn man denen vorwirft, sie jagten einer Utopie nach, dann sollten sie — das ist meine Bitte — auch künftig sagen: »Ja, das tun wir, in der Tat. Aber wir jagen einer Utopie nach, die es seit Jahrtausenden gibt bei den Menschen, die es schon im Neuen Testament gab. Während ihr einer schäbigen Plastik-Utopie, einer technokratisch errüstbaren Unverwundbarkeit nachjagt, die tödlich ist.« Das müßte die Antwort sein. Damit kämen wir sogar ganz schön in die Offensive bei denen, die so breitbeinig die Realität für sich zu pachten versuchen.

Die erste Ebene ist also die des Wortes, der Diskussion. Wir hoffen, daß sie immer stärker auch ins Parlament hineingetragen wird, und zwar nicht nur von einer kleinen Fraktion, sondern auch von einer großen.

Zu der Ebene des Wortes gehört auch das Gespräch. Hier sind Gespräche mit der Polizei vorgeschlagen worden, die zum Teil ja auch schon stattgefunden haben. Ich halte solche Gespräche für ganz, ganz wichtig, auch deshalb, weil es nicht bei der Polizei, wohl aber bei denen, die nachher aus den Innenministerien der Polizei Befehle geben, ja auch eine Konfrontationsstrategie, ja sogar eine Provokationsstrategie geben könnte. Ich bin nicht sicher, ob politisch alle daran interessiert sind, daß unsere Aktionen immer so glatt ab-gehen wie in Engstingen oder in Stuttgart-Vaihingen. Da ist dann das Gespräch ganz nötig zwischen denen, die darunter zu leiden haben, auf deren Rücken das ausgetragen wird; das Gespräch zwischen den Polizisten und uns.

Nebenbei: dazu gehört auch das Gespräch mit der Bundeswehr. Ich finde, die Gespräche mit Angehörigen der Bundeswehr sind oft erfreulicher als die mit manchen Politikern. Im Gegensatz zu manchen Politikern weiß der Bundeswehroffizier nämlich, was Krieg ist. Wenn wir ihm zugestehen, daß er auf seine Weise Frieden will und wir auf unsere Weise, dann kann das sogar ein ganz gutes Gespräch werden. Ich habe das jedenfalls schon erlebt.

Die zweite Ebene des Widerstands, über die wir gesprochen haben, war die des Rechts. Ich will nicht verschweigen, daß mein persönliches Vertrauen in die rechtsetzende Kraft unserer Rechtsinstitutionen aus guten Gründen begrenzt ist. Aber ich will damit niemanden anstecken. Sicher ist, daß es gute, ernstzunehmende juristische Argumente für unsere Position gibt, das haben wir unter anderem von Wolfgang Däubler gehört. Das ist ganz wichtig.

Wichtig ist, daß wir für uns die Verfassung in Anspruch nehmen können; nicht durch irgendeine skurille Uminterpretation, sondern sehr direkt; daß wir das Gefühl haben, die Verfassung nicht gegen, sondern mit uns zu haben. Das ist für Menschen, die sich als Demokraten und Bürger dieses Staates fühlen, ja nicht ganz wenig. Und in der Diskussion klang an, daß offenbar auch die juristische Interpretation der Dinge nicht völlig unabhängig ist von den politischen Kräfteverhältnissen.

Laßt uns also auch die politischen Kräfteverhältnisse entsprechend verändern! Das meine ich jetzt gar nicht parteipolitisch.

Ein dritter Punkt war das plebiszitäre Element, die konsultative Volksbefragung. Ich glaube, wir sind überwiegend der Meinung, daß es nicht sehr viel Sinn hätte, von diesem Bundestag, so wie er nun einmal ist, ein Gesetz über eine Volksbefragung zu verlangen. Dieses Gesetz würde entweder nicht zustandekommen oder mit einer Fragestellung, die den wirklichen Gegebenheiten Hohn spräche.

Eine ganz andere Frage ist, ob nicht wir selbst, in all den Zusammenhängen, in denen wir sonst stehen — Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Gruppen — uns noch etwas einfallen lassen könnten, um die faktisch bestehende, seit Jahren wachsende Mehrheit der Bevölkerung gegen die Stationierung nun auch öffentlich sichtbar und politisch verwertbar zu machen. Deshalb halte ich den Gedanken eines Hearings, einer Anhörung, nicht für schlecht, der in einer Arbeitsgruppe ventiliert und vorgeschlagen worden ist. Wir sollten dem nachgehen. Es könnte ja sein, daß auf diesem Gebiet von den großen Organisationen der Arbeiterbewegung nach Anfang November 1983 mehr zu erwarten ist als heute.

Der vierte Bereich ist das Zeichensetzen. Wir haben aus Engstingen gesehen, wie man Zeichen setzen kann. Wir haben gesehen, wie sich da eine friedfertige Phantasie verbunden hat mit schwäbischer Gründlichkeit, mit schwäbischer Zähigkeit und mit landsmannschaftlich nicht zu definierendem Mut. Was die Gruppen in Engstingen gemacht haben, war keine Bewegung der Angst, sondern eine Bewegung des Mutes. Und Friedensbewegung hat überhaupt nur eine Chance als Bewegung derer, für die die Angst nur noch eine Tiefendimension ihres Lebensmutes ist, die also die Angst nicht verdrängen, sondern mit ihr umzugehen verstehen und die daraus ihren Mut schöpfen. Was hier geschieht, ist für mich auch ein Stück zeichenhafter Vorwegnahme der Utopie der gewaltlosen Welt. Was immer Friedensbewegung tut, muß daran gemessen werden, ob da-mit Friede ausgestrahlt, ausgeübt, sichtbar gemacht wird, ob hier ein Zeichen für eine noch nicht existierende gewaltlose Welt aufgerichtet wird.

Das kann durch einen Kreis schweigender Menschen, das kann durch ein Straßentheater geschehen, durch Menschen, die irgendwo sitzen, durch Singen, durch Pantomime; wirksam ist es aber immer nur dann, wenn zeichenhaft etwas vorweggenommen wird, worauf es politisch zuzugehen gilt. Und deshalb kann Engstingen durchaus ein Vorbild für die Herbstaktionen sein.

Was jetzt in der Friedensbewegung vor sich geht, könnte sogar ein neuer Ansatz einer politischen Kultur werden. Denn: haben eigentlich unsere Patentdemokratien immer noch nicht gemerkt, daß diese Friedensbewegung ein ganz legitimes Kind der Demokratie, ja sogar der amerikanischen Demokratie ist? Als Kirchentagspräsident habe ich gemerkt, wie viele Leute, auch aus der Kirchenbürokratie, zutiefst betroffen und berührt waren von dem, was sie erlebt und gesehen haben, was von den »Graswurzeln« her an neuer politischer Kultur aufkommt. Es könnt sein, daß hier, auch wenn wir jetzt über Legalität und Legitimität streiten, Ansatz ist für einen Teil politischer Kultur, der alle-mal erfreulicher ist als die Zwischenrufe im Bundestag bei den letzten Debatten. Wenn es um politische Kultur geht, haben wir keine Minderwertigkeitskomplexe.

Nun noch zu den Erfolgschancen. Ich habe in Berlin mit Randall Vossberg sprechen können. Übrigens ist es kein Zufall, daß in Amerika die Freeze-Bewegung als geistigen Kopf eine Frau hat. Bei diesem Gespräch ist mir klargeworden, daß es in den Vereinigten Staaten immer mehr Menschen gibt — noch nicht im Weißen Haus und im Pentagon, aber schon im State Department — die begreifen, daß, wenn gegen die Mehrheit der Deutschen und anderer Europäer, gegen jahrelangen, zähen Widerstand die Stationierung durchgedrückt wird, daß dann der politische Schaden für die NATO größer sein wird als der militärische Nutzen.

Ich sage noch einmal: Ich bin nicht dafür, daß wir jetzt eine Debatte über den Austritt aus der NATO führen. Ich halte das nicht für hilfreich. Aber wer versuchen will, gegen die demoskopisch feststellbare Mehrheit der Deutschen — übrigens auch der Deutschen in der DDR — diese Raketen zu stationieren, und zwar als Exekution eines Bündnisbeschlusses, der darf sich nicht wundern, wenn dann bei uns auch über das Bündnis diskutiert wird.

Was mich besonders gefreut hat, ist, daß die Freeze-Bewegung — im Gegensatz zu früher — für die nächsten Monate die Stationierung der Mittelstreckenraketen in Europa zu ihrem Thema macht. Sie will sogar versuchen, auf das Repräsentantenhaus bei den Budgetberatungen in diese Richtung Einfluß zu nehmen. Carola Stern hat Bertha von Suttner zitiert: »Friedensbewegung ist entweder international oder sie ist es gar nicht«. Das scheint unglaublich, aber das gilt vor allem für uns und unsere amerikanischen Freunde. Und wenn ich manchmal die jungen Menschen in der Friedensbewegung vergleiche mit den jungen Menschen in Amerika, dann habe ich das Gefühl, daß sie den Amerikanern sehr viel näher sind als manche, die diese Friedensbewegung für moskauhörig erklären.

Schließlich: Wenn der Widerstand politisch wirksam werden will, brauchen wir ein vernünftiges Verhältnis, eine Zusammenarbeit, vielleicht ein Bündnis zwischen dieser Friedensbewegung und der traditionellen Arbeiterbewegung, die, wenn sie auch nicht pazifistisch war, doch, seit es sie gibt, die Vision der gewaltlosen Welt gehabt und nie aufgegeben hat. Wenn man sich immer nur auf die winzigen Schritte konzentriert, die man machen will, und dann möglicherweise das Ziel aus den Augen verliert und in technokratische Abwege gerät, macht man gelegentlich auch noch falsche Schritte. Könnte es nicht so sein, daß diejenigen, die die gewaltlose Welt in winzigen Schritten erreichen wollen, jedenfalls in politischen Schritten auf sie zugehen, und diejenigen, die sie in Zeichen vorwegnehmen, aufeinander angewiesen sind?

Wir haben auch über unser Verhältnis zu den Friedensgruppen in der DDR gesprochen. Das Wichtigste scheint mir zu sein, daß wir sie nicht in einen Gegensatz zu ihrem System manövrieren, den sie nicht haben wollen. Wenn die in Friedensgruppen in der DDR Engagierten loyale Bürger der DDR sein wollen, aber eigenständige Friedensarbeit machen wollen, dann ist es von uns rücksichtslos und unsolidarisch, sie im Stile der Springer-Presse gegen ihr System auszuspielen. Natürlich kann immer mal wieder der Punkt kommen, wo wir ganz offen sagen müssen: »…aber so geht’s nicht, Herr Honecker; da ist jemand eingesperrt worden…« — aber eben nur bei der richtigen Gelegenheit.

Wichtig ist auch, daß wir die Anregungen aufnehmen, die aus der DDR kommen. Ich bin sehr froh, daß Volkmar Deile über den Bericht »Sicherheitspartnerschaft und Frieden in Europa« gesprochen hat. Ich könnte mir vorsteIlen, daß auch in der Evangelischen Kirche in Deutschland eines Tages die Frage aufkommt: Wie lange wollen wir eigentlich unsere Brüder drüben so allein lassen, wenn sie sich klar und deutlich gegen atomare Rüstung aussprechen?

Alles in allem: Die Gustav Heinemann-Initiative und die Friedensbewegung, deren Teil sie heute ist, ist kein Häuflein Versprengter, kein Häuflein von Außenseitern, kein Häuflein von Ängstlichen. Nebenbei: Was uns manche Leute übelnehmen, ist ja gar nicht, daß viele von uns Angst haben, sondern daß sie die falsche Angst haben. 30 Jahre, 35 Jahre lang haben dieselben Leute uns Angst vor der Sowjetunion eingejagt, und jetzt ärgern sie sich lediglich darüber, daß die Angst vor dem Atomkrieg größer geworden ist als die Angst vor der Sowjetunion. Wir sollten weder die richtige noch die falsche Angst — im Sinne dieser Leute — haben, sondern wir sollten klarmachen: Wir sind eine Bewegung von selbstbewußten Demokraten, die ihre demokratischen Rechte wahr-nehmen und die einen langen Atem haben werden, viel länger als manche ihrer Kritiker.

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