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Bürger­rechte, Bürger­rechts­ak­ti­onen und Bürger­rechts­or­ga­ni­sa­ti­onen

aus: vorgänge Nr. 62-63 (Heft 2-3/1983), S. 22-34

1. Gewöhnen an Grund­rechts­ver­let­zun­gen?

Die Grundrechte und die Positionen von Bürgerrechtsorganisationen haben — wenn man von der Frage der Volkszählung einmal absieht — bei der letzten Bundestagswahl kaum eine Rolle gespielt. Insbesondere ist es Helmut Kohl im Wahlkampf gelungen, jede Gefährdung von Grundrechten als Überzeichnung und die von der Union gegen das Demonstrationsrecht geplanten Einschränkungen als Gebot der Rationalität darzustellen.

Die Bürgerrechtsorganisationen haben sich gegen die Einschränkung von Grundrechten vorallem im Bereich des Demonstrationsrechts, des Strafprozeßrechts, der Berufsfreiheit und der Psychiatrie gewandt und nicht aufgehört, gegenüber dem Gerede von Liberalisierung die Praxis der Berufsverbote und der sogenannten Sicherheitsüberprüfung anzuprangern.

Die Mehrheit dieser Grundrechtsverletzungen ist deshalb nicht zentraler Gegenstand der politischen Auseinandersetzung geworden., weil die meisten dieser Einschränkungen in dieser oder jeder Form schon lange praktiziert werden und die Öffentlichkeit sich daran gewöhnt hat. Langjährige Praxis läßt —  das ist eine banale Feststellung —  eine Grundrechtsverletzung nicht rechtens werden; insbesondere bei den Berufsverboten wird gegen diesen Prozeß der Gewöhnung angekämpft. Es kommt darauf an, gegen die Gewöhnung anzugehen, daß etwas nur deshalb nicht zur Sprache kommt, weil die bisher im Bundestag vertretenen Parteien sich in der Sache nicht einig sind.

Wirklich einschneidende Veränderungen wird es voraussichtlich in den kommenden Jahren im Bereich dessen geben, der beschönigend und verschleiernd »Innere Sicherheit« genannt wird. Hier fordert die CSU qualitative Veränderungen und versucht diese mit Bundesminister Zimmermann und Staatssekretär Spranger durchzusetzen.

Bei der erwogenen Einschränkung des Demonstrationsrechts spielen Vorstellungen eine Rolle, denen wir schon in der Auseinandersetzung mit den sogenannten »Sympathisanten« von Terroristen begegnet sind. Weniger der offen Gewalt anwendende Demonstrant als der friedliche, gewaltfreie wird zum eigentlichen Kern des Problems gemacht, weil er — so heißt es – denjenigen Schutz gewährt, die Gewalt anwenden wollen. Die Verkehrung geht bereits soweit, daß die gewaltfreie Aktion des zivilen Ungehorsams, weil sie unzweifelhaft eine »Aktion« ist, von einigen Gerichten als Gewalt und Widerstand interpretiert und nahezu ebenso bestraft wird, wie die Anwendung physischer Gewalt. Polizei und Gerichte streben Abschreckung an; aber sie produzieren geradezu Gewaltanwendung, wenn bereits die gewaltfreie Aktion zur Gewaltanwendung erklärt wird.

2. Die Bewegung gegen die Volks­zäh­lung und der Stellenwert der Menschen­rechte für neue soziale Bewegungen

Die Resonanz, die die Initiativen gegen die Volkszählung gefunden haben, kam unerwartet. Begegnen wir hier einem völlig neuen Daten- und Grundrechtsbewußtsein des Bürgers? Oder gab es eine solche Bewegung nur deshalb, weil sich viele in ihrer Sphäre, in ihrem persönlichen Freiheitsraum verletzt fühlten? Die im angekündigten Ausmaß bei uns ungewöhnliche Form der Gehorsamsverweigerung deutet auf eine Auflehnung gegen etwas hin, was als Rechtsverletzung verstanden wurde. Der Einzelne fühlte sich in seiner Freiheitssphäre verletzt, weil persönliche Angelegenheiten über die Computer allgemein verfügbar gemacht werden sollten. Wenigstens in diesem persönlichen Bereich — mit den kleinen Mogeleien — will der Bürger für sich bleiben und nicht den Behörden ausgeliefert sein. Die Verletzung des Bürgers in diesem seinen Recht führte zum Aufbegehren, zur Ankündigung einer in sich begrenzten gewaltfreien Gegenwehr. Volkszählungsboykott ist punktueller Ungehorsam gegen eine den Behörden unterstellte partielle Rechtsverletzung.

Es spricht vieles dafür, daß auch die Ohnmacht, gegen die Grundrechtsverletzung im Bereich der »Inneren Sicherheit« etwas ausrichten zu können, die Initiativen gegen die Volkszählung zu einer Bewegung werden ließen. Wenn das so ist, dann beweist das, daß die mühselige Kleinarbeit in den Bürgerrechtsorganisationen, auch wenn sie zunächst ohne Resonanz bleibt, sich langfristig auszahlen kann.

Mit der Bewegung gegen die Volkszählung entstand eine neue Qualität des gegenwärtigen Kampfes um die Menschenrechte. Bei dieser Bewegung fallen Inhalt und Bewegung und Grundrechte unmittelbar zusammen. Bei der Friedensbewegung und der Ökologiebewegung standen dagegen inhaltliche Fragen im Vordergrund; das Interesse für Bürgerrechte erwachte erst in dem Augenblick, wenn der Einsatz der Polizei gegen konkrete Aktionen die Auseinandersetzung zu einem Bürgerrechtsproblem machte.

Wenn Inhalt einer Bewegung und Grundrechte nicht übereinstimmen, kommt es nicht darauf an, solche Bewegungen durch Ausweitung dessen, was wir Menschenrechte nennen, zu einer Frage der Menschenrechte zu machen. Niemand ist damit gedient, wenn wir Friedensbewegung, Frauenbewegung oder Ökologiebewegung zu einer Bewegung für Menschenrechte erklären, wenn wir diese Bewegungen gleichsam mit einer Menschenrechtssauce übergießen. Viel eher können die Anhänger dieser Bewegungen für die Arbeit in den Bürgerrechtsorganisationen interessiert werden, wenn man dann, sofern diese sich bei der Durchführung ihrer Aktionen in ihren Rechten verletzt fühlen, ihnen in der konkreten Rechtsverletzung beisteht und Rechtsfragen zunächst als Rechtsfragen behandelt. In welchem Umfang es dabei gelingt, zu zeigen, daß der Anspruch der Menschenrechte über diese Rechtsfragen hinausweist, hängt vom Einzelfall ab.

3. Grauzonen der Grund­rechts­gel­tung

Die Zunahme des Wissens um die Bedeutung der Grundrechte ist für die kommenden Auseinandersetzungen von entscheidender Bedeutung. Gegenwärtig besteht die Gefahr, daß die ökonomische Krise dazu ausgenützt wird, die Grundrechte einzuschränken und die Schutzfunktion der Menschenrechte — zumindest punktuell — zu beseitigen. Ohne Widerstand sind in der kommenden Phase nicht nur soziale Errungenschaften bedroht, sondern auch der einst durch die klassischen Menschenrechte formulierte Anspruch. Erneut droht, daß mittels der in Deutschland beliebten Mystifizierung »Staat« sich die Exekutivgewalt — autoritär, technokratisch oder im Gewande sozialer Daseinsvorsorge — über den Bürger und die ihm durch die Menschenrechte im Gemeinwesen eingeräumte Position stellt.

Grundrechte setzen den Regierenden Schranken. Deshalb ist die Geschichte der Menschenrechte zugleich eine Geschichte von Versuchen der Inhaber der regierenden Staatsgewalt, die Fesseln der Grundrechte in bestimmten Situationen durchbrechen zu können. Es ist eine Geschichte von Ausnahmebefugnissen und die Geschichte der von Juristen erfundenen Kategorien, durch die auch ohne gesetzliche Ermächtigung eine Einschränkung oder Durchbrechung der Grundrechte gerechtfertigt werden soll. Als Bei-spiel erinnere ich hier daran, in welcher Weise Grundrechte vom Bundesverfassungsgericht unter den Vorbehalt der Funktionsfähigkeit gestellt werden: Funktionsfähigkeit der Wirtschaft, der Streitkräfte, des Staates.

Die Entwicklung in der Bundesrepublik ist gegenwärtig durch folgende Tendenz gekennzeichnet: Die Grundrechte bleiben äußerlich unangetastet und gelten weiterhin für den Normalfall. Daneben aber werden, zur Sicherung des sozialen Friedens, zur Bekämpfung ökonomischer Krisen und ihrer Auswirkungen und im Bereich der »Inneren Sicherheit« zumindest punktuell für die Exekutive Eingriffsmöglichkeiten geschaffen, die die Grundrechte in ihrer Substanz bedrohen und den Behörden einen Vorrang gegenüber dem Bürger einräumen. Es entstehen Grauzonen, in denen der Anspruch der Grundrechte nicht mehr in jedem Fall und unter allen Umständen als unüberschreitbare Grenze anerkannt wird. Grundrechtsverletzungen im Bereich der »Inneren Sicherheit« führen beispielsweise dazu, daß Oppositionelle zum »Störer« gemacht und als solche mittels der elektronischen Datenverarbeitung erfaßt und eingeschüchtert, durch hoheitliche Verrufserklärungen für »friedlos« erklärt werden. Wer sich nicht fügt, wird finanziell in die Zange genommen, durch Zwangsgeld, Polizeikosten, Schadenersatzansprüche und mit der Drohung, keinen Arbeitsplatz zu bekommen oder den bisherigen zu verlieren (man denke an Berufsverbote und Sicherheitsüberprüfungen), unter Druck gesetzt.

Hier bedarf es der juristischen Kleinarbeit ebenso wie der aufklärenden politischen Aktion. Es ist ein Kampf auch gegen eine Erblast der sozialliberalen Koalition. Es ist zu hoffen, daß es in Zukunft leichter wird, diesen Kampf zu führen, da viele, die gelähmt waren, solange die Sozialliberalen in Bonn noch regierten, heute und morgen wieder freier agieren können oder vielleicht selbst in den Bürgerrechtsorganisationen stärker aktiv werden.

4. Die Aushöhlung der Grundrechte durch neue Techno­lo­gien

Der durch die Menschenrechte formulierte Abwehr- und Gestaltungsanspruch wird heute mehr und mehr in Frage gestellt durch technische Großprojekte (man denke an Projekte der Atomindustrie), durch technische Entwicklungen (beispielsweise in der elektronischen Datenverarbeitung) und durch die Komplexität eines politisch-geseIlschaftlich-technischen Netzes von überindividuellen Verflechtungen, das den personalen Kern und den sozialen Bewegungsraum des einzelnen mehrundmehr verengt. Wenn es nicht gelingt, den durch die Menschenrechte garantierten Abwehranspruch des Bürgers gegen politisch-soziale Übermacht und die Teilnahme des Bürgers an den relevanten Entscheidungen im Gemeinwesen neu zu installieren, werden die Restbestände des liberalen Rechtsstaates langfristig durch ein technokratisch-autoritäres System mit einem primär auf plebizitäre Komponenten verkürzten Parlamentarismus abgelöst werden, mit einer sehr weit gehenden Umwertung der Grundrechte in Pflichten des Bürgers und einigen Korrekturen durch Instanzen des Rechtsweges.

Ob die neuen Technologien Grundrechte aushöhlen und obsolet werden lassen, muß in jedem Einzelfall geprüft werden.

Es gibt Anzeichen dafür, daß technische Großprojekte das traditionelle System des Grundrechtsschutzes, den Abwehranspruch des Einzelnen gegen den Staat und den Anspruch auf Kontrolle durch die Parlamente infrage stellen. Aber noch haben Gerichte — das dürfen wir nicht übersehen – (wie kürzlich insachen Deichbau vor Nordstrand und jetzt insachen Volkszählung) den individuellen Abwehranspruch anerkannt. Doch es gibt Tendenzen — gerade im Bereich der Atomtechnik — solche Abwehransprüche einzuschränken.

Es ist unbestreitbar, daß die Parlamente bei der Entscheidung über die finanzelle Förderung der Atomtechnik durch den Staat und bei den Entscheidungen über den Umfang des Ausbaus der Atomkraftwerke und über das Wie dieses Ausbaus (man denke an den Schnellen Brüter in Kalkar) häufig nur die Rolle des Statisten gespielt haben und den Expertenvorschlägen mehroderminder ausgeliefert waren. Unbestreitbar ist auch, daß das Fürundwider in der Phase der wirklichen Entscheidung nie diskutiert und durch die Parlamente öffentlich gemacht worden ist.

Das gilt auch für die Entscheidung über die Einführung von Bildschirmtext, also einer Sache, die unser Leben in Zukunft nachhaltiger beeinflussen wird als zentrale Änderungen der Verfassung. Diese Entscheidung fiel auf der Ebene einer in der Verfassung nicht vorgesehenen Institution, der Ministerpräsidentenkonferenz. Die Länderparlamente können zu diesem Staatsvertrag nur noch Ja oder Nein sagen. Kontrollfunktionen im Stadium der Beratung haben weder diese Parlamente noch der Bundestag wahrgenommen. In einer wichtigen Detailfrage haben sich lediglich die Datenschutzbeauftragten zu Wort gemeldet, d.h. Beauftragte, die von der Exekutive eingesetzt sind, und bei denen es von der Zivilcourage abhängt, ob sie es durchhalten, gegen den Strom zu schwimmen.

Die Einführung der elektronischen Datenverarbeitung in die Staatsverwaltung ist in der Bedeutung mit der Ablösung der feierlich besiegelten Urkunde durch die moderne Aktenverwaltung zu vergleichen. Die Parlamente können noch entscheiden über die Einführung solcher Systeme; es ist jedoch höchst zweifelhaft, was die sogenannte »freiheitsverbürgende Kraft« von Gesetzen noch vermag, wenn personenbezogene Daten erst gespeichert und kombiniert sind. Schon heute ist zu befürchten, daß die bisherigen Modelle des Datenschutzes nicht mehr ausreichen .angesichts der neueren technischen Entwicklung, die dazu führt, daß bald niemand mehr feststellen kann, wohin die in einer Datei gespeicherten Daten bereits gelangt sind.

5. Elektro­ni­sche Daten­ver­a­r­bei­tung und Neue Medien als Voraus­set­zungen des zweiten CDU-Staates

Der neue CDU-Staat setzt den in der sozialliberalen Ära begonnenen Ausbau der elektronischen Datenverarbeitung voraus. Er ist dabei, diesen Ausbau zu perfektionieren. Dazu gehört der maschinenlesbare Personalausweis. Damit wird jeder Bundesbürger in Sekundenschnelle erfaßbar; zugleich können dabei so viele personenbezogene Daten er-schlossen werden, daß damit ein Verbund unterschiedlicher Dateien zu sogenannten Sicherheitszwecken möglich ist. Dafür hat Generalbundesanwalt Kurt Rebmann bereits die neue Losung ausgegeben: »Sicherheit vor Datenschutz!«

Der neue CDU-Staat fällt mit den Entscheidungen über die Einführung neuer Medien zusammen. Bildschirmtext schafft — abgesehen vom Problem der Veränderung der Arbeit und der Vernichtung von Arbeitsplätzen — neue Möglichkeiten, den Bürger in seinem personalen Kern zu erfassen. Ob die von den Datenschutzbeauftragten eingebauten Sicherungen auf die Dauer halten, ist höchst zweifelhaft. Die neue Koalition forciert auch die Verkabelung der Bundesrepublik und den Ausbau Neuer Medien. So läßt sich bereits heute feststellen: der neue CDU-Staat sucht seine Stabilität zu sichern durch den Ausbau und die Anwendung der Neuen Medien. Das ist der qualitative Unterschied zum CDU-Staat der Ära Adenauer.

In der sozialliberalen Ära hat man die Technokraten gewähren lassen, teilweise Entscheidungen gebremst, doch die wesentlichen Fragen der neuen Technologien nicht zum zentralen Gegenstand der Diskussion gemacht. Die Sozialdemokratie formulierte ihr bekanntes, nach dieser und nach jener Richtung modifiziertes »Jein«.

So fehlt es heute weitgehend an Sachkenntnis, auch bei vielen von uns. Das führt not-wendig auf der einen Seite zur Bagatellisierung und auf der anderen zur Überzeichnung. Man labt sich bei der Überzeichnung an der eigenen Ohnmacht, der einstige Fortschrittsglaube wird durch Verfallsideologien ersetzt.

Eine Tagung des Komitees für Grundrechte und Demokratie hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, ob es angesichts der neuen Technologien nicht notwendig sei, den Anspruch der Menschenrechte neu zu formulieren, um den neuen Gefahren zu begegnen. Das ist leicht gesagt. Eine Neuformulierung der Menschenrechte für den hier skizzierten Bereich setzt zunächst detaillierte Kenntnisse der möglichen Gefährdungen voraus.

6. Nicht länger »Herr der Welt« sein

Eine zentrale Aufgabe der Bürgerrechtsorganisationen in der Bundesrepublik ist es, die Bewußtseinsveränderung, die sich in den letzten fünfzehn Jahren in Teilen unseres Volkes vollzogen hat, gegenüber der von der CDU/CSU proklamierten »geistigen Wende« zu verteidigen. Wenn es richtig ist — wie man gesagt hat —, daß dieser Bewußtseinswandel mit dem der Renaissance vergleichbar ist, dann muß dieser Wandel gegenüber den in der ökonomischen Krise verstärkt auftretenden Gegentendenzen geschützt werden.

Dieser Bewußtseins- und Verhaltenswandel ist — wie Christa Wolf es in der Kassandra-Vorlesung nennt — der Versuch, »nicht Herr der Welt« zu sein oder es zu werden, »der Verzicht auf Beherrschung und Unterwerfung anderer Völker und Erdteile, aber auch auf die Kolonialisierung der Frau durch den Mann«. Weder Sozialdemokraten noch Liberale haben diese neue Haltung zur Politik und zu dem, was Jürgen Habermas »Lebenswelt« nennt, geschaffen oder angestrebt. Immerhin gibt es einige Sozialdemokraten, die diese Veränderung der Mentalität geduldet und gefördert haben.

Es wäre falsch, die von der Union geforderte »geistige Wende« nur auf die Rückkehr zum Leistungsprinzip oder auf irgendwelche Wertvorstellungen zu beschränken. Der Versuch, nicht mehr Herr der Welt zu sein oder zu werden, bedeutet eine Zurücknahme, das Ersetzen von Anweisungen und Befehlen durch spezifische Formen der Kooperation, die Beschränkung der klassischen Führungsfunktionen.

Regulieren, Anleiten und das, was die Aufgaben einer Hebamme sind: Mithelfen, etwas zur Welt zu bringen, ohne den Anspruch, es selbst produziert zu haben. Das ist eine Idealisierung. Dieses »Sich-Befreien vom Führer in uns« ist nicht leicht; es kommt immer wieder zu Rückfällen; dieser Prozeß hinterläßt manchmal tiefe Narben.

Doch diese in den letzten Jahren entwickelten Formen von Kooperation sind ein Stück Realität, zugleich unser Utopia. Als Ansatz zu einer zukünftigen anderen Form zu leben ist diese Kooperation soetwas wie gelebte Hoffnung. Dieses »Utopia in uns« gibt uns die notwendige Kraft, den Sisyphuskampf um formale Rechte zu führen und als Bürgerrechtsorganisationen für die Realisierung von Menschenrechten zu streiten. Deshalb dürfen wir diese neue Form, miteinander zu leben nicht preisgeben, wenn wir hart bedrängt werden, oder dann wenn wieder Leiter mit Führungsansprüchen oktroyiert wer-den. Viele Autoritäre meinen jetzt wieder ihre Stunde sei gekommen. Sie müssen auf das stoßen, was man Kooperation oder Arbeitsdemokratie nennen kann, auf eine feste Zusammenarbeit in dem Wissen, damit eine andere Form des Zusammenlebens zu begründen.

7. Die Freistel­lung von Arbeit und eine andere Verwendung des öffent­li­chen Unter­stüt­zungs­sys­tems

Die skizzierte Mentalitätsveränderung kann nur dann gegen Gegentendenzen geschützt werden, wenn die Auswirkungen der ökonomischen Krise in der Form struktureller Arbeitslosigkeit nicht auf die Jungen oder Alten abgewälzt werden. Solange eine Produktionsweise nicht überwunden werden kann, die solche Krisen produziert, muß die Arbeitnehmerschaft insgesamt lernen, um den Besitz von Arbeitsplätzen zu kämpfen. Es geht darum, neue Formen der Verteilung von Arbeit zu finden. Gegenüber der in der Tradition der Herrenmenschentums stehenden Versuche, die strukturelle Arbeitslosigkeit durch das Abschieben von Ausländern zu mindern (ich halte diesen Versuch zum Scheitern verurteilt), müssen neue Konzepte von Teilzeitbeschäftigung, von rotierender Freisetzung jedes Arbeitnehmers für begrenzte Zeiträume geprüft und entwickelt werden. Die Ersetzung menschlicher Arbeit durch Maschinen darf nicht zum Verhängnis werden, sondern muß positiv gewendet werden. Sozialdemokraten sind unter anderem auch deshalb gescheitert, weil sie nicht in der Lage waren, andere Formen der Verwendung des öffentlichen Unterstützungssystems zu entwickeln.

Wenn es richtig ist, daß in der Bundesrepublik die Wachstumsraten der vergangenen Jahrzehnte nicht mehr zu erzielen sind (und daran zweifelt wohl niemand), und wenn es richtig ist, daß wir in der Bundesrepublik langfristig mit einer — wie es heißt — strukturellen Arbeitslosigkeit rechnen müssen, dann kommt alles darauf an, die Entstehung einer Gesellschaft zu verhindern, in der die einen einen Arbeitsplatz besitzen, die anderen keinen. Die Gewerkschaften meinen, die Spaltung in Arbeitsplatzbesitzer und Arbeitslose durch den richtigen Kampf um die 35-Stunden-Woche verhindern zu können. Viele Unternehmer, Behördenvertreter und Politiker meinen die Probleme der Arbeitslosigkeit aufkosten der Alten durch frühere Verrentung lösen zu können. Angesichts der rapid fortschreitenden Rationalisierung, die gegenwärtig mehr Arbeitsplätze vernichtet als schafft, ist zu bezweifeln, daß diese Wege zu spürbaren Erfolgen führen. Vielleicht gilt das auch für das von Peter Grottian entworfenen Modell einer Teilzeitbeschäftigung, das von den Gewerkschaften — soweit bekannt ist — leider noch immer abgelehnt wird.

Wenn für eine lange Zeit solche Strategien nicht zur Beseitigung der strukturellen Arbeitslosigkeit führen und wenn es beim gegenwärtigen Stand des Bruttosozialprodukts in der Bundesrepublik gesamtwirtschaftlich möglich ist, zwei bis drei Millionen Arbeitslose ausreichend zu unterstützen, dann kommt alles darauf an zu erreichen, daß die einen mit ihren Problemen nicht allein gelassen werden und die anderen (die Arbeitsplatzbesitzer) die Not der anderen nicht wie bisher verdrängen können. Eine solche Selbstbetroffenheit der Arbeitsplatzbesitzer ist zu erzielen, wenn das für den Bereich der Politik entwickelte Rotationsprinzip auch auf den Besitz des Arbeitsplatzes ausgedehnt oder (man kann es auch umgekehrt formulieren) wenn Arbeitslosigkeit rotiert. Das hieße: je-der Arbeitnehmer wird in regelmäßigen Abständen — sagen wir einmal: alle 7 oder 10 Jahre für einen begrenzten Zeitraum von seiner Arbeit freigestellt; er behält den festen Anspruch, in den ehemaligen Arbeitsbereich zuzückzukommen und bekommt einen Unterstützungsbeitrag. Damit wäre Arbeitslosigkeit kein individuelles Schicksal mehr, kein Makel, sondern eine für alle gleichmäßige Freistellung von Arbeit, die anderen zugutekommt. Jeder wäre in gleicher Weise betroffen, Arbeitslosigkeit würde nicht auf die Jungen oder Alten abgewälzt, das, was die Not gebietet, könnte produktiv gewendet werden hin zu einer veränderten Einstellung zur Arbeit (die langfristig sicher auf uns zukommt), aber auch zur Weiterbildung zur Regeneration oder als Vorstufe zum Leben als Rentner oder Pensionär. Wir können uns die Phantasielosigkeit der vergangenen Jahre in der Verwendung der allgemein zur Verfügung stehenden Subsistenzmittel nicht mehr leisten!

8. Es gibt keine Bürger­rechts­be­we­gung in der Bundes­re­pu­blik

Eine Schwierigkeit der Bürgerrechtsorganisationen in der gegenwärtigen Situation besteht darin, daß diese Vereinigungen verhältnismäßig klein sind und daß sie es bisher nicht vermocht haben, eine Bürgerrechtsbewegung zu entfalten. Punktuell haben bestimmte Medien oder Einzelne in den Medien die Aufgabe übernommen, an die Stelle der fehlenden Bürgerrechtsbewegung zu treten. Oft waren die bestehenden Bürgerrechtsorganisationen (Gustav Heinemann-Initiative, die Humanistische Union, die Liga für Menschenrechte, das Komitee für Grundrechte und Demokratie und der Republikanische Anwaltsverein) aufgrund ihrer spezifischen Arbeit, ihrer von kleinen Expertengruppen ausgearbeiteten Untersuchungen Voraussetzung dafür, daß die Medien Bürgerrechtsfragen aufgreifen konnten. Doch die Massenwirksamkeit, die durch diese Medien bewirkt wurde, ging teilweise auch aufkosten des Wachstums der Bürgerrechtsorganisationen. Die Stärke der Bürgerrechtsorganisationen zeigt sich nicht in irgendwelchen Kongressen, sondern darin, ob sie in der Lage sind, in kleinen Arbeitsgruppen — wie in einem Labor — frei von den Schranken der Interessenten Analysen und Modelle vorzuIegen, die neue Perspektiven zeigen.

Vielleicht kann es in der gegenwärtigen Situation eine solche umfassende Bürgerrechtsbewegung nicht geben, möglicherweise ist es einer solchen, an den Menschenrechten orientierten Politik zu eigen, sich in eine Vielzahl von Richtungen und Gruppierungen aufzuspalten. Aber geht es nicht auch um Bürgerrechte, wenn Anwälte den Strafverteidigertag immer ernster nehmen, wenn Richter, sich zu einem Richterratschlag treffen, wenn Staatsanwälte und Richter, die der ÖTV-Gewerkschaft angehören, sich mit einer Anzeige zu Wort melden, wenn wir seit längerer Zeit neue Töne aus der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen hören oder wenn die Green Peace-Leute eine Aktion machen? 

9. Bürger­rechts­ak­ti­onen und Bürger­rechts­po­litik in der Bundes­re­pu­blik

Der Kampf um die Realisierung der Freiheiten, die durch die Menschenrechte umrissen werden, zeigt, daß es keine bestimmte, in jeder Situation gültige Aktionsform dafür gibt, sondern daß die Wahrnehmung von Bürgerrechten nur dann erfolgreich ist, wenn diese der spezifischen Kräftekonstellation der Zeit entsprechen und wenn es aufgrund einer besonderen Aktionsphantasie gelingt, auf diese Weise einen Teil des Volkes oder der öffentlichen Meinung zu gewinnen. Dabei ist die Inanspruchnahme von Freiheitsrechten ein Lernprozeß, der durch die Erfahrungen vorausgegangener Aktionen gespeist wird. Die Geschichte der Bundesrepublik zeigt, daß solche Lernprozesse stattfinden: In den fünfziger Jahren vermochten die Protestkundgebungen gegen die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik nahezu nichts auszurichten gegenüber der davon abgehobenen Auseinandersetzung im Bundestag und vor dem Bundesverfassungsgericht. Die 1958 von Sozialdemokraten, Freien Demokraten und Gewerkschaften initierte Kampagne »Kampf dem Atomtod« sollte und vermochte außerparlamentarischen Druck für die innerparlamentarische Opposition schaffen; doch dieser mehr oder weniger noch von Apparaten organisierte Protest wurde abgeblasen, nachdem das Bundesverfassungsgericht die in einigen sozialdemokratisch regierten Ländern zur, Frage der Stationierung von Atomwaffen in der Bundesrepublik vorgesehene Volksbefragung verbot und als sich nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 1958 zeigte, daß sich außerparlamentarischer Protest nicht unmittelbar in Wahlerfolge umsetzen läßt. Die Folge war das Entstehen der ersten Ansätze einer autonomen Außerparlamentarischen Opposition in der Ostermarschbewegung und bei Studenten um den Sozialistischen Deutschen Studentenbund. Im Widerstand gegen die Restauration im Bereich der Justiz und Kultur entstand damals die Humanistische Union.

Die lediglich punktuelle Betätigung des Einzelnen durch den Besuch an Protestveranstaltungen wurde jetzt erweitert: Beim Ostermarsch in der Form der Teilnahme an einem dreitägigen Marsch, in der Spiegel-Affäre und zu Beginn der Auseinandersetzung um die Notstandsgesetzgebung durch die Bereitschaft, sich durch Unterschriftsaktionen besonders zu exponieren.

Die in der Auseinandersetzung um die Notstandsgesetze entstandene Verfassungsbewegung hatte spezifische Voraussetzungen: Sozialdemokraten besaßen gegenüber einer Notstandsverfassung im Bundestag die Sperrminorität und wollten sich nicht offen gegen die Gewerkschaften stellen. In dieser Situation entstand eine Zusammenarbeit zwischen linken Sozialdemokraten in den Gewerkschaften und Intellektuellen mit dem Ziel, die möglichen Gefahren der Notstandsgesetze konkret deutlich zu machen. Das Kuratorium »Notstand der Demokratie« markierte die Bereitschaft von Otto Brenner und anderen Gewerkschaftern sogar unabhängig vom DGB Aufklärung und damit politischen Druck auf die SPD durch Massenveranstaltungen auszuüben. Der Kampf gegen die Notstandsgesetze ist ein Weg von Unterschriftsaktionen und Resolutionen über Kundgebungen und Kongresse zum »Sternmarsch« auf Bonn, änderen massenhaften Demostrationen und zu vielen auf betrieblicher Ebene durchgeführten Warnstreiks. Zu-gleich gab es ein spezielles Zusammenspiel von außerparlamentarischer und innerparlamentarischer Notstandsopposition. Diese Auseinandersetzung hinterließ solche Spuren, daß Sozialdemokraten nach nur wenigen Protesten das Vorhaben aufgaben, eine »Vor-beugehaft« einzuführen.

Dieser Höhepunkt schlug um in eine Lähmung im Kampf um die Bürgerrechte während der ersten Jahre der sozial-liberalen Koalition: Auf der einen Seite stand (wie sich bald zeigen sollte) ein zu großes und ungerechtfertigtes Vertrauen in die Rechtspolitik von Liberalen und Sozialdemokraten; auf der anderen Seite entstanden immer neue Gruppierungen, die so handelten als hätten sie den Satz zum Programm erhoben: »Freiheitsrechte, das ist nicht viel, Sozialismus ist das Ziel!« Zugleich operierte die Union sowohl auf der Ebene des Bundes als auch der Länder als streitbare Partei für »Law and Order«. Die Lähmung der bürgerrechtlichen Positionen führte 1972 zum »Extremistenbeschluß« und zu den »Sicherheitsgesetzen«. Nur wenige haben damals die Kompetenzerweiterung für Verfassurigsschutz, Bundeskriminalamt und Bundesgrenzschutz analysiert im Blick auf die damit verbundenen Gefahren für die Freiheitsrechte.

Die Kampagne gegen die Berufsverbote wurde teilweise ausschließlich auf die juristische Argumentation beschränkt: »Verfassungswidrigkeit der Berufsverbote« stand gegen den Vorwurf der »Verfassungsfeindlichkeit«. Aus Opposition gegen diese Verkürzung orientierten sich viele auf den großen Kongressen gegen die verfassungsrechtliche Entwicklung nicht an den im Grundgesetz verbürgten Freiheitsrechten, sondern wandten sich unspezifisch gegen »politische Unterdrückung« und Repression. Die fehlende Analyse wurde häufig ersetzt durch die Darstellung immer neuer Fälle von Repression. In dieser Phase erlangte die Humanistische Union besondere Bedeutung: sie verband den Kampf um Bürgerrechte mit dem Widerstand gegen den politschen Akt innerstaatlicher Feinderklärung.

Neben bürgerrechtliche Protesterklärungen und spezifische Versuche der Einflußnahme gegen die Einschränkung von Verteidigerrechten, traten bald Aktionen der Strafverteidiger in den Terrorismusprozessen. Ich erinnere an den Sitzstreik von Anwälten vor dem Bundesgerichtshof und die Reaktionen darauf. Der langwierige Abwehrkampf um Menschenwürde, Leben, Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte von Inhaftierten, denen politisch motivierte Straftaten zur Last gelegt wurden, hat wesentlich zu einer Rückbesinnung auf die Menschenrechte beigetragen.

Als Versuch, sich ein Menschenrecht offensiv zu nehmen, kann die Aktion bekannter Frauen angesehen werden, die sich in einer Anzeige im »stern« selbst bezichtigen, eine Straftat im Sinn des § 218 StGB begangen zu haben. Durch solche Aktionen und das tatsächliche Verhalten unzähliger Frauen wurde der Weg zur Fristenregelung geebnet. Die dazu erfolgte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts machte dann deutlich,
daß Menschenrechte nicht dagegen gefeit sind, politisch verwendet zu werden: Gegen die freie Entfaltung der Persönlichkeit — auch für die Frau — stellte das Bundesverfassungsgericht nicht nur das Grundrecht auf Leben auch für den Embryo in den ersten Wochen nach der Zeugung (mit der Freiheit für den Gesetzgeber, die Trennlinie zwischen beiden Rechten zu bestimmen), sondern mittels eines vom Gericht konstruierten »Wertsystems der Grundrechte« das angeblich verfassungsrechtliche Gebot, Schwangerschaftsunterbrechungen strafrechtlich zu verfolgen.

Derart begründete Entscheidungen und auch das Versagen des Bundesverfassungsgerichts, in der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus das Prinzip der Waffengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung zu wahren, verstärkte einerseits das, was dann «Rechtsnihilismus« genannt wurde, und begründete andererseits auch ein neues An-knüpfen an die Menschenrechte in ihrem ursprünglichen Sinn als »unveräußerliche Rechte«. Die Form, in der vor dem umstrittenen Russell Tribunal die »Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik« mit unerwartet großer Unterstützung und Anteilnahme untersucht wurde, demonstrierte diese neue Zuwendung zu den Menschen-rechten. Auf dieser Basis entstand das »Komitee für Grundrechte und Demokratie«. Etwa zur gleichen Zeit besann man sich am linken Rand der Sozialdemokratie auf Gustav Heinemann sowohl als großen demokratischen Juristen als an Abrüstung und Friedenspolitik orientierten Politker.

Auch in der gegenwärtigen Situation ist die Form verschieden, in der sich die verschiedenen Bürgerrechtsorganisationen äußern oder in der sie agieren. Aufmerksamkeit verdienen vorallem die neuen Formen der Einwirkung: Demonstrationsbeobachtung (mit prägnanten dokumentarischen Veröffentlichungen), »Patenschaften« mit Hausbesetzern oder Initiativen »Bürger beobachten Polizei« und gewaltfreie Aktionen des »Widerstehens« (civil disobedience).

10. Gewalt­freies Widerstehen (ziviler Ungehorsam) ist ein Bürgerrecht

Zwar gibt es für Bürgerrechtsaktionen in der Bundesrepublik keine allzeit gültige Aktionsform, doch für eine an den Bürgerrechten orientierte Politik ist es von entscheidender Bedeutung, ob es ihr auch in der Bundesrepublik gelingt, im Unterschied zum verfassungsrechtlichen Widerstandsbegriff nach Art. 20 Abs. 4 Grundgesetz durchzusetzen, daß Aktionen, wenn sie »friedlich und ohne Waffen« erfolgen, dabei allerdings Ordnungswidrigkeiten oder dergleichen darstellen, als Ausübung des Grundrechts auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit anerkannt zu werden.

Wenn sich viele Menschen unter freiem Himmel versammeln, wird die öffentliche Ordnung in der Regel in dieser oder jener Form tangiert: Straßen und Plätze werden unpassierbar, Verkehr muß umgeleitet werden usw. Das Grundrecht rechtfertigt solche Verletzung niederrangigen Rechts, bei der spontanen Demonstration sogar ohne vorherige Anmeldung. In ähnlicher Weise müssen auch begrenzte Regelverletzungen im Rahmen einer »gewaltfreien Aktion« angesehen werden. In den Vereinigten Staaten ist es der
Bürgerrechtsbewegung gelungen, neben und im Unterschied zum Widerstandsrecht die rechtliche Konstruktion des »civil disobedience« durchzusetzen oder zu erreichen, daß derartige Aktionen nicht mehr diskriminiert werden.

Ein Bürgerrecht auf gewaltfreies Widerstehen bedeutet keine Verrechtlichung des Ungehorsams. Die Verletzung der Straßenverkehrsordnung bleibt eine Ordnungswidrigkeit; aber diese Verletzung ist kein Angriff auf den Rechtsstaat. Aktionen des gewaltfreien Widerstehens bleiben im Bereich einer Grauzone und sind mit den symbolischen Absperrungen gegen Streikbrecher zu vergleichen. Auch diese Aktionsform konnte erst langsam durchgesetzt werden.

In der Bundesrepublik dagegen wird sowohl von Politikern, Gerichten und Sicherheitsorganen als auch von einigen Demonstranten, der Unterschied zwischen dem gewaltfreien Widerstehen im Sinn des zivilen Ungehorsams und dem verfassungsrechtlichen Widerstand bewußt verwischt. Dabei wird die Doppeldeutigkeit des Wortes »Widerstand« im Sinne von »Widerstehen«, Standhalten, Opponieren einerseits und im Sinn des Widerstandsrechtes als legitime Gegenwehr zur Wiederherstellung der von den Regieren-den gebrochenen Legalität andererseits ausgenutzt. So interpretieren Politiker und Polizeiinstanzen des gewaltfreie Widerstehen, sogar »Ungehorsam« in der Form des Hungerstreiks als Angriff auf den Staat, um auf diese Weise diese Form des Opponierens zu diskriminieren, zu illegalisieren und zu eleminieren. Auf der Seite der Demonstranten gibt es bei einigen eine Romantik des Widerstandes und der Militanz, die »gewaltfreien Widerstand« zur Vorstufe oder Einübung zum »wirklichen« Widerstand und zur Revolution zu machen sucht.

  • Wer daran festhält, Aktionen des zivilen Widerstands als  gewaltfreien Widerstand zu bezeichnen, muß wissen, daß er sich damit in Frontstellung nach zwei Seiten begibt.

  • Wer auf die starke, emotionalisierende Kraft des Wortes »Widerstand« vertraut,  muß wissen, daß umgekehrt der gebrochene Widerstand ebenso resignierend wirken und die Kraft rauben kann, überhaupt noch zu »widerstehen«, zu opponieren.
  • Die gewaltfreie Aktion des zivilen Widerstehens eine Gegenwehr, die mehr Mut  und Selbstüberwindung kostet als Reaktionen der Gewalttätigkeit.
  • Gerade deshalb, weil es so schwer ist, einen Polizeieinsatz gegen eine gewaltfreie  Aktion des Widerstehens zu ertragen, ist diese spezifische Aktionsform an  besondere Voraussetzungen gebunden:
  • Diese gewaltfreie Aktion einer Opposition ist keine Allzweckwaffe; ist vielmehr  letztes Mittel für den Fall, daß andere Formen eines spezifischen Protestes, der auf Gewissensgründen beruht, nicht zur Kenntnis genommen werden: der hohe  Einsatz wird geleistet, um einer partiellen Rechtsverletzung entgegenzutreten, um  fundamentale Rechte durchzusetzen oder um Leben, Gesundheit und Lebensraum zu schützen.
  • 11. Bürger­rechts­or­ga­ni­sa­ti­onen sind verbin­dendes Element zwischen­punk­tu­eller Bürger­rechts­ak­ti­onen

    Die Arbeit der Bürgerrechtsorganisationen ist das stetige, integrierende und verbindende Element zwischen punktuellen Bürgerrechtsaktionen; Bewegungen wie die Initiative gegen die Volkszählung und andere Knotenpunkte des Kampfes um Bürgerrechte beleben die Arbeit der Bürgerrechtsvereinigungen, die sich ihrerseits bemühen müssen, das jeweils entfachte Feuer nicht verglimmen zu lassen.

    Gerade die Reaktionen auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts über die Aussetzung der Volkszählung zeigt, wie schnell die Flutwellen einer geseIlschaftlichen Bewegung in sich zusammenfallen können. Bürgerrechtsorganisationen gewährleisten demgegenüber Kontinuität. Aber sie zerfallen, wenn sie sich auf Organisationshuberei beschränken und keine neuen Aktionen entfachen können. Bürgerrechtsorganisationen sind soetwas wie permanente Bürgerinitiativen, um den Anspruch der Menschenrechte durchzusetzen. Wer in diesem begrenzten politisch-gesellschaftlichen Sektor, die Mühe der Detailarbeit auf sich nimmt, tut dies entweder auf Grund eines altliberalen (großbürgerlichen) Habitus, er zieht seine Kräfte aus den immer neuen Verletzungen der freiheitlichen demokratischen Ordnung bzw. des in den Menschenrechten niedergelegten Anspruchs oder er kämpft für die Freiheitsrechte als Voraussetzung dafür, eine andere Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens herbeizuführen. Die begrenzten Möglichkeiten der Einflußnahme, die es — trotz allem — in den vergangenen Jahren für Bürgerrechtsorganisationen noch gab, sind gegenwärtig allerdings auf ein Minimum geschwunden. Das haben viele noch nicht akzeptiert, die weiterhin Eingaben produzieren als sei nichts geschehen.

    Doch die veränderte Situation darf nicht dazu führen, daß die Bürgerrechtsorganisationen sich auf eine Politik des bloßen Protestes beschränken, auf die allsatt bekannten Forderungen: »Weg mit dem… -Gesetz!« Ebensowenig dürfen sie sich festlegen auf die verbleibenden begrenzten Möglichkeiten der Einflußnahmen, die am Ende nichts anderes sind als die SPD-Politik des »kleineren Übels«. Die Bürgerrechtsorganisationen werden sich nur dann in den kommenden Jahren als relevanter gesellschaftlicher Faktor erweisen, wenn es ihnen gelingt, Proteste in solcher Sprache zu formulieren, daß sie als Gegenposition akzeptiert werden müssen und damit durch Inhalt und Form Einfluß haben. Das heißt: Absage sowohl an den Wortradikalismus als an die allzukleinen pragmatischen Schritte des Dabeiseinwollens.

    Politik in den nächsten Jahren bedeutet das Bohren von harten Brettern. Wir brauchen langen Atem und auch die Fähigkeit, Niederlagen ertragen zu können. Unsere Produktivkraft beruht auf Kooperation und Solidarität. Kraft gibt uns auch unser Eintreten für Menschenrechte. Das ist mehr als eine Verfassungsposition. Das meint auch das alte Lied, in dem es heißt: »erkämpft des Menschenrecht«.

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