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Gegen Völkerrecht und Verfassung

vorgängevorgänge 62-6306/1983Seite 196-197

aus: vorgänge Nr. 62/63 (Heft 2-3/1983), S. 196-197

 Etwa 480 Richter und Staatsanwälte versammelten sich am 4./5. Juni 1983 in Bonn zu einem ersten »Forum für den Frieden« und verabschiedeten einen Aufruf an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, der folgenden Wortlaut hat:

Die beim »Forum für den Frieden« versammelten Richter und Staatsanwälte haben sich mit der geplanten Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenwaffen aus völkerrechtlicher und verfassungsrechtlicher Sicht befaßt. Außerdem haben sie sich mit den Planungen zum Aufbau einer Wehrgerichtsbarkeit beschäftigt.

1. Die neuen Atomwaffen unterscheiden sich von allen bisherigen Waffensystemen dadurch, daß sie nur zum Ersteinsatz taugen und auch nur dazu bestimmt sind. Die versammelten Richter und Staatsanwälte halten ihre Stationierung für völkerrechts- und verfassungswidrig:

a) Artikel 2, Ziffer 4 der Charta der Vereinten Nationen verbietet die Drohung mit Gewalt gegenüber anderen Völkern. Das Haager Landkriegsrecht verbietet den Einsatz von »Giftwaffen« sowie von Waffen, die geeignet sind, »unnötig Leiden zu verursachen«; es erklärt das Territorium neutraler Staaten für unverletzlich. Die 4. Genfer Konvention von 1949 verpflichtet kriegführende Staaten, die Versorgung der Zivilbevölkerung aufrechtzuerhalten. Militärische Angriffe dürfen sich nicht gegen Zivilpersonen richten.

b) Die geplante Stationierung ist mit dem in Artikel 2, Absatz 2 Grundgesetz verankerten Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit unvereinbar. Die neuen Waffen sind nicht geeignet, im Kriegsfall das Territorium der Bundesrepublik Deutschland zu verteidigen — es sei denn um den Preis der Vernichtung allen Lebens in unserem Land. Die geplanten Waffensysteme können auch nicht die von den sowjetischen Raketen ausgehende Bedrohung verringern; denn als Waffen des ersten Einsatzes reizen sie zum atomaren Präventivschlag und erhöhen damit das Risiko der atomaren Vernichtung um ein Vielfaches. Gleichzeitig wird die Gefahr eines auf Grund technischer Pannen ausgelösten Atomkrieges unvorstellbar vergrößert.

c) Die geplante Stationierung ist unvereinbar mit dem in der Präambel des Grundgesetzes, in Artikel 1, Absatz 2, Artikel 9, Absatz 2 und vor allem Artikel 26 Grundgesetz niedergelegten Verfassungsgebots der Friedensstaatlichkeit.

d) Weiter bedeutet es eine durch Artikel 24 Grundgesetz nicht gedeckte unerträgliche Preisgabe der Souveränität unseres Staates, daß die Entscheidung über den Einsatz der auf unserem Boden stationierten Massenvernichtungswaffen allein dem amerikanischen Präsidenten anvertraut wird.

e) Die Richter und Staatsanwälte halten eine gesetzlich verankerte Beteiligung der betroffenen Bürger bei der Stationierung von Atomwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen entsprechend den Anhörungspflichten beim Bau ziviler Atomanlagen für unerläßlich. Sie regen an, die Vorschläge für eine konsultative Volksbefragung aufzugreifen.

2. Die versammelten Richter und Staatsanwälte sind bestürzt darüber, daß ohne gesetzliche Grundlage, wie Artikel 96, Absatz 2 Grundgesetz sie fordert, seit 1962 eine Wehrgerichtsbarkeit aufgebaut wird und daß sich hieran zahlreiche, nach einem verborgen gehaltenen Verfahren ausgewählte Richter, Staatsanwälte und Beamte beteiligt haben. Die bekanntgewordenen Planungen und Planspiele lassen den Schluß zu, daß vor den Wehrgerichten kein rechts-staatliches Verfahren stattfinden wird. Bei einem auf die Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland beschränkten Krieg wäre die ordentliche Gerichtsbarkeit in der Lage, auch Wehrstraftaten angemessen zu ahnden. Eine besondere Wehrgerichtsbarkeit ist überflüssig und kann als Vorbereitung auf einen Angriffskrieg mißdeutet werden. Kein Richter und Staatsanwalt darf sich an solchen verfassungswidrigen »Übungen« und Vorbereitungen beteiligen.

3. Die Richter und Staatsanwälte fordern alle Bundestagsabgeordneten auf, irreparablen Schaden vom deutschen Volk und seiner Rechtsordnung abzuwenden. Sie halten die Nichtstationierung für erforderlich, damit endlich Abrüstung in Ost und West möglich wird.

Verhindern Sie die Stationierung neuer Atomwaffen, und beenden Sie die Einübung von Wehrgerichtsbarkeit durch Streichung der dafür vorgesehenen Haushaltsmittel.

4. In nächster Zeit sind vielfältige Formen gewaltfreien Widerstands gegen die widerrechtliche Stationierung zu erwarten. Die juristische Bewertung dieser Handlungen darf nicht bei der Einordnung als formaler Regelverstoß stehen bleiben. Auf dem Spiel steht nicht nur unsere Verfassungs- und Rechtsordnung, sondern die physische Existenz unseres Volkes.

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