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Zwischen­be­mer­kungen zum Volks­zäh­lungs­boy­kott

aus: vorgänge Nr. 62-63 (Heft 2-3/1983), S. 8-11

»Aufgeschoben ist nicht aufgehoben« (Sprichwort)

»Wo ein Adler nicht fort kann, findet eine Fliege noch zehn Wege.« (deutsches Sprichwort)

Die Fernsehkommentare am 13. April 1983, dem Tag, an dem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den Vollzug des Volkszählungsgesetzes 1983 im Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerden aussetzte, klangen beunruhigend. Staatsräson wurde beschworen. Über die vermeintliche Schlappe des Staates tröstete man sich mit der Spekulation auf eine das Gesetz als verfassungskonform bestätigende Entscheidung des Gerichts in der Hauptsache und mit der Hoffnung auf die Vergeßlichkeit und unkritische Verläßlichkeit der Bürger.

Bestätige das BVerfG das Gesetz, so werde auch das Volk sich beruhigen und begreifen, daß es nur seinem Wohle dient. Die Pressekommentare der nächsten Tage waren differenzierter, doch schlugen sich auch in ihnen noch die Emotionen der Tage vor dem Karlsruher Richterspruch nieder. Während »Süddeutsche Zeitung« und »Frankfurter Rundschau« in abwägenden Kammentaren [1] die Entscheidung des BVerfG begrüßten, weil sie weiteren Schaden vom Staat abwendete, sah der Leitartikler der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung [2] darin »eine Niederlage des Staates«, ihm beigebracht von einem gemischten Trupp von Gegnern, offenbar eine wenig bedachte Äußerung des Bundesinnenministers Zimmermann (CSU) aufgreifend, der — allerdings vor dem Beschluß des BVerfG — Boykott-Aufrufe gegen die Volkszählung als »Angriffe auf den demokratischen Rechtsstaat« bezeichnet hatte. [3]

Wenn die Perspektive sich so verzerrt, das aus besorgten Bürgern flugs Staatsfeinde werden können, ist es gut, eine Denkpause einzulegen. Die Parteien der Regierungskoalition im Bundestag hätten sie gewähren können, sie. haben ihre Chance nicht genutzt. Die Verfassungsrichter waren klüger. Sie haben es mit ihrer mutigen Entscheidung ermöglicht, eine Zwischenbilanz zu ziehen:

1. Die Kampagne gegen die Durchführung des Volkszählungsgesetzes 1983 ist keineswegs die erste Massenbewegung, die sich in der Bundesrepublik quer durch alle Schichten der Bevölkerung gegen ein Gesetz entwickelte, erkennbar von weit mehr als der Hälfte des Volkes getragen. Doch ist sie die erste Bewegung dieser Art, die mit dem Beschluß des BVerfG einen zumindest vorläufigen Erfolg verbuchen kann. Gegen die seit 1959 von den NATO-Staaten (Vorbehalte gab es nur in Frankreich) und BundeskanzIer Adenauer betriebene Wiederbewaffnung der Bundesrepublik gab es erheblichen Widerstand in der Bevölkerung, der sich u.a. in Großdemonstrationen, einer illegalen, da verbotenen Volksbefragung (die dennoch immerhin über 9 Millionen Nein-Stimmen erbrachte) und zahlreichen Einzelaktionen manifestierte, doch bekanntlich ohne Erfolg.

Auf erhebliche Ablehnung stießen auch die Notstandsgesetze, die 1968 gegen eine beachtliche parlamentarische und außerparlamentarische Opposition durchgesetzt wurden. Ähnliche, in ihrer Auswirkung möglicherweise unser aller Leben bedrohende Ehtscheidungen stehen bevor, so insbesondere die Stationierung neuer weitreichender Raketen mit atomaren Spreng-köpfen zur Durchführung des NATO-»Doppelbeschlusses« sowie die Auseinandersetzung mit der Frage, ob und wie lange die Bundesregierung untätig bleiben kann gegen die Anlage von Giftgas-Depots, wie sie in Rheinland-Pfalz angelegt wurden [4], um nur diese beiden Beispiele anzuführen. Die Bürger der Bundesrepublik Deutschland sind — wohl in ihrer Mehrheit, wie die beeindruckende Ausbreitung der Friedensbewegung zeigt — nicht mehr bereit, ein Ausmaß an eigener Bedrohung hinzunehmen, das in keiner vernünftigen Relation mehr zur Verteidigung des Landes steht und sie wer-den sich der konkreten Bedrohung ihres Lebens zunehmend bewußter, durch militärische Maßnahmen der genannten Art ebenso wie etwa durch Umweltvergiftung.

Diesen Bedrohungen gegenüber erscheint die Durchführung einer Volkszählung als relativ harmloser Eingriff. Gleichwohl ist es kaum Zufall, daß sich gerade daran Unbehagen, Ängste und Widerstand entzündet haben, und zwar, wie man bemerken konnte, unabhängig von Stand, Herkunft, gesellschaftlicher Schicht, bei Bankern ebenso wie bei Studenten, bei Kaufleuten wie bei Rentnern. Die persönlichen Daten und sei es auch nur die Frage nach dem Weg zur Arbeitsstätte — haben Individuationswert. Auch ist die Datenspeicherung heute für jedermann anschaulich, die atomare Vernichtung Europas (trotz Fernsehen) noch nicht in gleichem Maße. Jeder Hausfrau wird täglich die Datentechnik vorgeführt: wenn die Kasse im Supermarkt die verschlüsselten Preise automatisch liest und ausdruckt, im Warenhaus die Schecks ausschreibt und wenn sie am Wochenende mittels Codekarte und Geldautomaten von ihrem Konto abheben kann. Nicht die Datenerhebung als solche (obwohl auch sie schon peinlich sein kann, insbesondere in Orten, in denen der Nachbar die Daten sammelt, sondern die jederzeitige Verfügbarkeit der Daten und die Möglichkeit der Deanonymisierung haben die sensibilisierten Bürger zu Datenverweigerern gemacht. Und darin liegt eine, die wesentliche Entscheidung des BverfG [5] für die Bürger: Sie haben konkret erfahren, daß sie sich wehren können gegen als ungerecht empfundene Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht und daß sie beim höchsten deutschen Gericht ernstgenommen werden mit diesen Ängsten.
Die Entscheidung des BVerfG, die Ausführung des Volkszählungsgesetzes auszusetzen, ist daher geeignet, das Vertrauen der Bürger in den Staat zu festigen, ein Vertrauen, das zuvor allerdings durch die Entscheidung des Gesetzgebers, an dieser Ausführung der Volkszählung trotz der aufgekommenen Bedenken zum festgesetzen Termin festzuhalten, erheblich erschüttert wurde. Das BVerfG hat mit seiner Entscheidung in ganz erheblichem Maße zur Stärkung der Demokratie und zum Ansehen des Rechtsstaates beigetragen.

2. Abwegig, ja geradezu widersinnig ist das Argument, die Entscheidung des BVerfG bedeute eine »Niederlage des Staates«. Man hat diese Klage nicht gehört, als das BVerfG andere Gesetze beanstandete und definitiv für verfassungswidrig erklärte, so die Fristenregelung beim Schwangerschaftsabbruch, die Neuregelung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung, das Staatshaftungsgesetz, das sogar in vollem Umfang kassiert wurde. Die vorläufige Suspendierung eines Gesetzes, um die zur eingehenden Prüfung der erhobenen und — wie das Gericht festgestellt hat — nicht offensichtlich unbegründeten Rügen von Grundrechtsverletzungen erforderliche Zeit zu schaffen, kann niemals eine »Niederlage des Staates« begründen. Sie dient im Gegenteil der effektiven Durchsetzung der Grundrechtsgarantien der Verfassung und damit dem Ansehen des Staates als Rechtsstaat. Und auch dann, wenn die Verfassungsbeschwerden erfolgreich sein sollten, erleidet der Staat keine »Niederlage«.

Niemand wird dem Gesetzgeber vorwerfen, er habe, als er das Volkszählungsgesetz 1983 einstimmig beschloß, vorsätzlich die Verfassung verletzen wollen. Ernst Benda, Präsident der BVerfG, stellt in einem soeben erschienenen Handbuch des Verfassungsrechts [6] völlig zu recht klar: »Der Gesetzgeber mag bei der Beurteilung der Verfassungsrechtslage irren und dann durch das Bundesverfassungsgericht korrigiert werden. Hieraus mangelnde Verfassungstreue des vor dem Gericht Unterlegenen herzuleiten, ist… nicht gerechtfertigt, jedenfalls wenn die Prüfung der verfassungsrechtlichen Frage, die der Entscheidung voraus ging, mit hinreichender Sorgfalt vorgenommen worden ist« [7]. Hinreichende Sorgfalt kann dem Gesetzgeber im vorliegenden Fall zwar nicht attestiert werden, doch hat er offensichtlich während der Beratung des Gesetzes die verfassungsrechtliche Problematik nicht erkannt. Zur Entschuldigung mag ihm immerhin dienen, daß auch Verfassungsrechtler offenbar erst sehr spät und lange nach Verkündung des Gesetzes dessen verfassungsrechtliche Brisanz erkannt haben, die zu einem nicht unerheblichen Teil mit außerrechtlichen Bedingungen zusammenhängt, nämlich dem Fortschritt der Datentechnik in den letzten Jahren.

Repräsentanten des Staates allerdings, die einen Autoritätsverlust befürchten, wenn ihnen angesonnen wird, einmal getroffene Entscheidungen aufgrund besserer Einsicht zu  revidieren, ja überhaupt in Erwägung zu ziehen, sie seien besserer Einsicht fähig, offenbaren einen vorkritischen Autoritätsbegriff [8]. Er ist jedenfalls nicht der des Grundgesetzes, der nicht nur formell der demokratischen Legimitation bedarf. Im demokratischen Staat muß es möglich sein, getroffene Entscheidungen auch stets wieder in Frage zu stellen. Das Argument von Bundesinnenminister Zimmermann [9], er habe das noch aus der Zeit der sozialliberalen Koalition stammende Volkszählungsgesetz als Verfassungsminister durchzuführen, weil es einstimmig von Bundestag und Bundesrat beschlossen sei, erweist sich so als Scheinargument. Die Bundesregierung hätte natürlich — nachdem ernsthafte verfassungsrechtliche Bedenken gegen das Gesetz aufgekommen waren — in einem Initiativantrag zumindest anregen können, das Inkrafttreten des Gesetzes ein Jahr hinauszuschieben und so die Autorität des um die Ängste des Bürgers besorgten Staates gestärkt.

3. Aus der Begründung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts läßt sich wohl schließen, daß die Bedenken des Gerichts grundsätzlicher Natur sind. Denn das BVerfG hat die Suspendierung des Vollzugs des Gesetzes einstimmig beschlossen. Lediglich die Entscheidung darüber, daß auch die Erhebung nicht durchgeführt werden dürfe, erfolgte nur mit einer Mehrheit von 5 zu 3 Stimmen, während die Minderheit meinte, die Erhebung sei zulässig, nicht aber die Verarbeitung der Daten.

Die Bundesregierung scheint die Entscheidung des BVerfG über die Verfassungsbeschwerden abwarten zu wollen, ehe sie das Volkszählungsgesetz ändert. Bisher liegt lediglich — soweit bekannt — ein Gesetzentwurf der Fraktion der Grünen vor, der noch vor dem Spruch des BVerfG im Deutschen Bundestag eingebrachl worden war und auf eine Aufhebung des Volkszählungsgesetztes 1983 abzielt [10].

Allerdings besteht die Gefahr, daß Teile des Volkszählungsgesetzes 1983 durch andere gesetzliche Maßnahmen ersetzt und so obsolet werden. So kann der »Melderegister-Abgleich« ohne Schwierigkeiten abgekoppelt werden. Die Bundesländer können dann aufgrund ihrer Meldegesetze eigene Erhebungen anstellen, die im Endergebnis für die Betroffenen ebenso gravierend sind wie der Melderegister-Abgleich über die Volkszählung. So kann nach Art. 20 des Bayerischen Meldegesetzes vom 24.3.1983 die Meldebehörde vom Wohnungsgeber oder seinem Beauftragten Auskunft darüber verlangen, welche Personen bei ihm wohnen oder gewohnt haben. Es könnte also sein, daß der Freistaat Bayern nun aufgrund dieser gesetzlichen Grundlage eine Befragung der Hauseigentümer durchführt oder zumindest schon einmal vorbereitet für den Fall, daß der Melderegister-Abgleich über das Volkszählungsgesetz vom BVerfG beanstandet wird. Allerdings könnten auch insoweit die in den Verfassungsbeschwerden gegen das Volkszählungsgesetz 1983 erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken durchgreifen, so daß wohl auch die Bundesländer die abschließende, Entscheidung des BVerfG abwarten werden.

Verweise

1 Kerscher in SZ, Reifenrath in FR je vom 14.4.1983.
2 Friedrich Karl Fromme in FAZ vom 14.4.1983.
3 Vgl. »Der Spiegel« Nr. 13 vom 28.3.1983, S. 45.
4 Vgl. hierzu: Däubler, Stationierung und Grundgesetz, rororo aktuell Nr. 5018.
5 jetzt abgedruckt in NJW 1983, 1307.
6 Benda/Maihofer/Vogel (I-ISg.) Handbuch des Verfassungsrechts, zahlreiche Mitarbeiter, Verlag Walter de Gruyter, XII, 1448 Seiten, Subskriptionspreis bis 31. Juli 1983 DM 198 danach DM 268. Eine Besprechung des Werks wird in den vorgängen erscheinen.
7 aa0 S. 1333f.
8 Vgl. Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches I, 441.
9 wie Fn. 3 S. 34.
10 BT-Drucks. 10/15.

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