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Sozial­de­mo­kratie und Bürger­rechte zwischen 1966 und 1982

aus: vorgänge Nr. 62-63 (Heft 2-3/1983), S. 35-42

Geht man in die Geschichte zurück, so ergibt sich ein Paradox. Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung kämpft, etwa zu Zeiten des Kaiserreichs, für die volle Verwirklichung der Bürgerrechte, ihre umfassende Geltung für jedermann und jede Frau, und begreift diesen Kampf zugleich als einen Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft, gegen die bürgerliche Klassenherrschaft. Die volle Verwirklichung der Bürgerrechte erschien ihr nur in der sozialistischen Gesellschaft möglich, für die sie eintrat. Die Bürgerrechte waren also als umfassende Menschenrechte verstanden. Sie waren nicht nur als bürgerliche Schutzrechte gegen Staatseingriff, sondern als menschenrechtliche Ansprüche an die Vergesellschaftung insgesamt adressiert. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sollten in der neuen Gesellschaft zur selbstverständlichen Qualität des alltäglichen Umgangs der Menschen miteinander und ihrer Teilhabe an der demokratischen Regelung der öffentlichen Angelegenheiten werden.

Menschenrechte greifen damit in ihrem Anspruch über den engeren Rahmen bürgerlicher Rechtsansprüche gegenüber Staat und Gesellschaft hinaus und bestimmen die Qualität der politischen Kultur einer Gesellschaft – wenn sie verwirklicht werden. Sie enthalten damit ein utopisches Moment, etwas, das in der bürgerlichen Gesellschaft keinen Platz hat und angesichts der systemkonstituierenden Konkurrenz aller mit allen auch keinen Platz haben kann. Aber dieser »Überschuß« war in den Proklamationen der bürgerlichen Revolutionen von allem Anfang an enthalten, wie der Ruf nach »Brüderlichkeit« zeigt, der sich eben nicht auf ein bürgerliches Recht gegenüber dem Staat, sondern auf eine neue Qualität der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Menschen untereinander bezog.

»Brüderlichkeit« kann nicht durch ein bloßes Schutzrecht in Gesetzesform garantiert werden. Sie erfordert eine neue Gesellschaft, in der Konkurrenz durch Solidarität als systemkonstituierender Mechanismus abgelöst werden sollte. Sozialismus war die Chiffre dafür, seitdem die sozialdemokratische Arbeiterbewegung die Forderung der bürgerlichen Revolution aufgenommen und ihre vollständige Realisierung für alle Menschen zur Forderung gemacht hatte.

Mit dem Aufgeben der systemüberwindenden Perspektive in der Politik der Sozialdemokratie —von der Sonntags- und Programmrhetorik soll hier nicht die Rede sein — verschwindet auch die ‚Brüderlichkeit` aus der politische Perspektive. Die sozialdemokratische Politik richtet sich in den gegebenen Verhältnissen ein, sie will es allenfalls ‚besser‘ machen. Anerkannt aber bleibt von ihr die bürgerliche Trennung von Politik und alltäglichem Leben. Freiheit und Gleichheit, letztere häufig als Gerechtigkeit pragmatisch interpretiert, sollen in der Politik und durch Politik gewährleistet werden. Brüderlichkeit und mit ihr eine mögliche neue Qualität der Alltagskultur wird folglich nicht als politische Kultur, sondern bestenfalls als moralischer Anspruch an die Solidarität des Einzelnen begriffen. Er soll, vor allem in Krisenzeiten, sich solidarisch verhalten und seine Ansprüche reduzieren zugunsten derer, denen es noch schlechter geht. Soweit zum historisch begrenzten Rahmen der sozialdemokratischen Perspektive am Ende einer langen Geschichte, die man zumindest erwähnen muß, wenn es darum geht, die Verwirklichung der begrenzten Ansprüche der Bürgerrechte in der Politik der Sozialdemokratie kritisch zu wägen.

Der »Sündenfall« der SPD bei den Notstands­ge­setzen

Am Anfang stand nicht die Brandtsche Formel »Mehr Demokratie wagen« (1969), sondern der Wehnersche Impuls von 1960: Regierungsbeteiligung um jeden Preis. Das wird häufig vergessen, vor allem von Sozialdemokraten, muß aber heute Berücksichtigung finden. Als Brandt »mehr Domokratie wagen« proklamierte, hatte die Sozialdemokratie bereits die Notstandsgesetze mit ihren wesentlichen Einschränkungen der Grundrechte und einige andere problematische Gesetze und Maßnahmen mitverantwortet. Der sozialdemokratische Justizminister der großen Koalition hieß Gustav Heinemann, der aus der Regierung Adenauer einst als Innenminister zurückgetreten war, weil er die »Wiederbewaffnung« der Bundesrepublik nicht mitverantworten wollte. Nun aber ermöglichten die Notständsparapraphen nicht nur im »Verteidigungsfall« (also bei äußerer Bedrohung), sondern auch im »Spannungsfall«, also bei einem objektiv nicht operationalisierten Zustand, dessen Vorliegen der Bundestag nach Art. 80a Absatz 1 GG feststellt, »zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes… Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes beim Schutze von zivilen Objekten z.B. Baustellen von Wiederaufbereitungsanlagen, Entlagerungsstätten, Startbahnen…) und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer« einzusetzen. Damit ist unter sozialdemokratischer Mitverantwortung, quasi als Einstand in die Regierung und als Nachweis der Regierungsfähigkeit, die »Funktion der Bundeswehr als Instrurnent zur Kontrolle innergesellschafticher Widersprüche legalisiert« worden (J. Seifert). Im einzelnen wurden die Schutzfunktionen zentraler Grundrechte, des Post- und Fernmeldegeheimnisses, der Freizügigkeit, der Berufsfreiheit, der Unverletzlichkeit der Wohnung sowie die Eigentumsgarantie (Art. 10 – 14 GG) relativiert.

1969 sollte eine Periode der »inneren Reformen« beginnen, deren Ziel Verbesserung der Lebensqualität für alle, deren Methode Demokratie sein würde. Demokratisierung, Partizipation, Mitbestimmung waren Formeln sozialdemokratischer Rhetorik in der
Brandt-Scheel-Ära, deren Attraktivität in der Verheißung einer Veränderung des autoritären Politikstils und der materiellen Ungleichheit des CDU-Staates bestanden. Auch wenn ein expliziter Bezug auf Grund- und Menschenrechte kein Spezifikum dieser Rhetorik zu Beginn der 70er Jahre war, so schien klar, daß die damit versprochene Politik entscheidende Qualität für die Durchsetzung der vollen Geltung von Grund- und Menschenrechten besitzen würde. Ein Politikansatz, der Strategien der Demokratisierung von Staat und Gesellschaft mit einer Orientierung an einem offensiven Grundrechtsverständnis verbunden hätte, schien manchem möglich, der nicht nur in die Absichten der Sozialdemokratie, sondern auch in ihre Fähigkeit zur gesellschaftlichen Reform Vertrauen hatte. Eine solche Verbindung hätte in angemessener Weise die Grundrechte nicht nur als rechtliche Schutzformel des einzelnen gegenüber staatlichem oder dem Zugriff gesellschaftlicher Machtinhaber verstanden und ausgebaut — was natürlich stets als Voraussetzung jeglicher Grundrechtspolitik notwendig bleibt — sondern sie wäre als »Teilhaberechte« (J. Habermas) des Einzelnen und gesellschaftlicher Gruppen erweitert worden. Teilhabe an der Gestaltung der politischen und gesellschaftlichen Lebensverhältnisse, die über bloße Wahlrechte hinausginge, und Teilhabe an den materiellen und ideellen Resultaten des gesellschaftlichen Reichtums, die angesichts der historisch gewachsenen sozialen und ökonomischen Ungleichheit materielle Umverteilung notwendig gemacht hätte.

Die Realisierung eines solchen Konzepts hätte eine strategische Bestimmung von Sozialreform als Hauptinhalt sozialdemokratischer Regierungspolitik verlangt, in der Sozial- , Bildungs- , Rechts- und letztlich auch Wirtschaftspolitik den einheitlichen Grundsätzen einer wertmäßig bestimmten Reformperspektive entsprochen hätte. Wert-bestimmte Ziele und Strategien der Durchsetzung gehören zusammen; Voraussetzung ist eine realistische Analyse von Ursachen der Defizite und Hindernissen, die einer solchen Sozialreform entgegentreten könnten. Eine solche Politik verlangt insofern eine intellektuelle Durchdringung und theoretische Reflexion als immanenten Bestandteil des politischen Programms, die sie von bloßem aktuellen Krisenmanagement und bloßer situationsbezogener Durchwurschtelei unterscheidet.

Schon die erste Regierungserklärung von 1969 ließ von der Realisierung solcher Anforderungen an eine perspektivische Gesellschaftspolitik wenig erkennen. So sympathisch die dort genannten Ziele auch waren, so auffällig blieb das Fehlen einer Ursachenanalyse und einer politisch genauen Bestimmung der Gründe bisherigen Versagens. Von den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen, die die Inhalte der Politik in zwanzig Jahren CDU-Staat bestimmt hatten und deren Veränderung oder zumindest Berücksichtigung bei der beabsichtigten Reformpolitik entscheidend geworden wäre, war überhaupt nicht die Rede.

Die nur techno­kra­ti­sche Politi­k­auf­fas­sung der SPD in der Regie­rungs­ver­ant­wor­tung

Darin äußerte sich von Anfang an eine technokratisch-gouvernementale Politikauffassung der Sozialdemokratie der 70er Jahre, die bei der Durchsetzung ihrer Ziele vorallem auf Gesetze, Regierungstätigkeit und Verwaltungshandeln orientiert war. Eine Strategie der Mobilisierung von gesellschaftlichen Reformkräften besaß die Sozialdemokratie demgegenüber nicht. Partizipation blieb auf die gesetzlich zugewiesenen und im Rahmen der Institutionen verankerten Mitwirkungsmöglichkeiten beschränkt, wie sie etwa für betriebliche Mitbestimmung im Betriebsverfassungs- und für Bildungspolitik im Hochschulrahmengesetz typisch sind. Darüber hinausgehende Tendenzen, wie sie etwa in linken Strömungen der SPD, z.B. bei den Jusos mit ihrer Vorstellung von »Doppelstrategie« vertreten wurden, fanden in diesem streng auf Institutionen und Staatshandeln beschränkten Politikkonzept keinen Platz. Im Gegenteil wurden sie als Störung und Bedrohung staatlicher Handlungsmöglichkeiten begriffen.

Das sich in dieser Haltung äußernde Mißtrauen der SPD gegenüber spontaner gesellschaftlicher Aktivität von Gruppen wurzelt tief in sozialdemokratischen Traditionen, in denen organisatorische Geschlossenheit und die Legalität parteilichen und staatlichen Handelns als abstrakte aber handlungsbestimmende Wertorientierungen traditionell höher rangieren, als manche inhaltliche Fragen der Politik. Die richtige Politik soll für andere gemacht, die für richtig gehaltenen Ziele sollen für andere, am besten durch Gesetz und gute Verwaltung, realisiert werden.

Sozialdemokratische Politik ist eine Politik für Klienten, Stellvertretungshandeln, ergebnisorientiert. Diese Traditionen geraten in Konflikt mit der oben angesprochenen Demokratisierungs- und Partizipationsrhetorik, wenn deren konkrete Einlösung von Gruppen innerhalb oder außerhalb der Partei eingefordert werden. In Teilen der Bevölkerung, vor allem bei der 68er Generation, und zunehmend dann in den 70er Jahren bei den neuen Bürgerinitiativen und sozialen Bewegungen, stieß diese traditionelle, auf Partei- und Staatshandeln konzentrierte Politikkonzeption auf Widerstand; ein Widerstand, der Form und Inhalte betraf. Wie unausgegoren die überall wiederentdeckten Vorstellungen von direkter Demokratie, Rätedemokratie und plebiszitärer Volksherrschaft im Hinblick auf ihre unmittelbare oder auch grundsätzliche Realisierungsmöglichkeit im modernen Flächenstaat auch immer gewesen sein mögen, ihre spontane und massenweise Verbreitung kann nur als Ausdruck einer wachsenden Unzufriedenheit mit der traditionellen Politikform und ihren Ergebnissen verstanden werden. Die regierende Sozialdemokratie schien in Reaktion darauf immer zu sagen: Warum gerade gegenüber uns dieses Mißtrauen? Jetzt wo wir die Politik machen, den Staatsapparat kontrollieren, die Reformziele bestimmen, jetzt ist dieses Mißtrauen gegenüber Staat und Obrigkeit nicht länger angebracht. Nach dem Selbstverständnis der herrschenden Sozialdemokratie ist der Obrigkeitsstaat offenkundig nur ein Problem bürgerlicher Parteien an der Regierung; sie selbst regierte stets in dem Bewußtsein, daß allein schon diese Tatsache selbst für den einzelnen Staatsbürger und seine Grundrechte alles verändere.

Die defensive Haltung der Sozial­de­mo­kratie in Menschen­rechts­fragen

Dabei liegen in der sozialdemokratischen Tradition selbst Ursachen begründet, die in den 70er Jahren zu einer Verschärfung von Grund- und Menschenrechtsproblemen beitrugen. Durch konservative Zweifel an ihrer Verfassungstreue und Systemloyalität in die Defensive gedrängt, antwortet die Sozialdemokratie traditionell mit einer scharfen Abgrenzung nach links, wobei, ihrem Politikstil entsprechend, die Abgrenzung nicht als inhaltlich offensive Politikauseinandersetzung, sondern in der Form administrativen und exekutiven Handelns vorgenommen wird. Um jeden Zweifel an der eigenen Verfassungstreue auszuräumen, also eigentlich aus der Unsicherheit eines politischen Parvenues gegenüber dem Establishment heraus, grenzt sich die SPD unentwegt ab. Problematisch dabei: sie übernimmt unweigerlich das ihr von konservativer Seite zugestandene Verfassungs- und Demokratieverständnis, um nach rechts und in den bürgerlichen Kreisen den Verdacht der Systemfeindlichkeit abzuwiegeln. Innerparteiliche Abgrenzungsbeschlüsse, das Verbot von Aktionsgemeinschaften mit anderen linken Organisationen, auf der staatlichen Ebene Radikalenerlasse als Folge der SPD-initiierten Ministerpräsidentenbeschlüsse und der Ausbau des innerstaatlichen Überwachungs- und Kontrollapparates folgen dieser Logik.

Damit verbinden sich die ambivalenten Möglichkeiten eines staatsorientierten Reformkonzeptes mit der aus Unsicherheit resulitierenden Kontroll- und Überwachungsmentalität zum sozialdemokratischen »Sicherheitsstaat« (J. Hirsch), wie er sich in den 70er Jahren in der Bundesrepublik in einigen Bereichen entwickelt hat. Unter dem Vorwand, den freien Bürger in der Ausübung seiner Grundrechte zu schützen und seine Möglichkeiten zur demokratischen Entwicklung offenzuhalten, werden letztlich der Staatsapparat selbst, der öffentliche Dienst und die formal gefaßten Institutionen zum Schutzobjekt. In allseitiger Bereitschaft zur Abwehr von Angriffen auf die Verfassung wird dem Staat tendenziell jeder Bürger zum »Sicherheitsrisiko« (W. D. Narr). Jedenfalls kann man ohne sorgfältige Recherche, umfassende Information und ständige Kontrolle kein Vertrauen in ihn aufbringen. Ausbau der Organe »innerer Sicherheit« und Regelanfrage beim Verfassungsschutz verwirklichen diese Entwicklung. »Innere Sicherheit« wird in den 70er Jahren streckenweise zum zentralen innenpolitischen Topos, an dem sich Staatshandeln und öffentliche Diskussion orientieren. Wer sich nicht einschränkungslos auf die richtige Seite stellt, dem öffentlichen Bekenntniszwang zur »freiheitlich-demokratischen Grundordnung« nicht oder nur zögerlich folgt, wer raisonniert und kritisiert, statt sich an der allgemeinen Hatz nach Verfassungsfeinden zu beteiligen, wird selbst verdächtigt. Was Gerichte zunächst nur für Staatsbeamte feststellen, wird in der atmosphärisch aufgeheizten Situation 1977/78 von den Politikern schon als allgemeiner Anspruch an den Bürger formuliert: passive Neutralität gegenüber dem Staat und seinen Organen genügt nicht, gefordert sind aktive Loyalität und öffentliches Bekenntnis.

Dabei hat die SPD nicht nur passiv zugelassen, sondern aktiv gefördert, daß selbst zentrale liberale Grundrechte bürgerlichen Verfassungsverständnisses, wie das Recht auf ordnungsgemäße Verteidigung im Strafverfahren in jeder Phase des Verfahrens, durch das sogenannte »Kontaktsperregesetz« und das Verbot der Mehrfachverteidigung, wie das Recht auf freie publizistische Meinungsäußerung durch den Paragraphen 88a des StGB sowie der Grundsatz des individuellen Schuldverantwortungsprinzips durch den
Paragraphen 129a, der die Mitgliedschaft in einer »terroristischen Vereinigung« regelt, außer Kraft gesetzt wurden.

Die Rechtfertigung schien der SPD in jedem Fall durch den Hinweis auf die Gefährdung der »inneren Sicherheit« durch die terroristischen Aktivitäten der RAF gegeben. Mußte man schon in der aktuellen Situation diese tiefgreifenden Einschnitte in die bürgerliche Rechtsordnung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf das schärfste kritisieren, so zeigt sich heute, wo die aktuellen Anlässe in ihrer historisch begrenzten Dimension relativiert sind, die einheitliche Tendenz dieser Änderungen mit aller Schärfe: in jedem Fall ging es um Ermächtigungen der Sicherheitsorgane des Staates aufkosten von Schutz-und Freiheitsrechten der Bürger.

Als einzelfallbezogene Gesetze in das System des kodifizierten Rechts einmal eingeführt, gelten die Bestimmungen aber über den Fall und die mit ihm gegebene aktuelle Gefährdung hinaus allgemein. Am Beispiel des »Kontaktsperregesetzes« zeigte sich auch, daß die SPD trotz ernster Kritik aus weiten Kreisen der liberalen Öffentlichkeit und von zahlreichen Juristen zu einer Revision nicht in der Lage oder Willens war. Das ist ein Hinweis darauf, daß maßgebliche Kreise in der SPD den Widerspruch zu einem demokratischen Grundrechtsverständnis, der in solchen Regelungen rechtlich kodifiziert worden ist, nicht erkennen konnten, weil sie in grundsätzlich anderer Weise das Verhältnis von Staat, Bürgern und zu schützenden Grundrechten begreifen. Die Verteidigung der Grundrechte ist diesem Verständnis nach primär Aufgabe der Staatsorgane und nicht des politischen Prozesses der Bürger selbst. Der Staat schützt die Grundrechte für und teilweise auch vor den Bürgern. Die Bürger selbst werden entsprechend entmündigt, ihnen werden die Grundrechte allenfalls gewährt, sofern sich das mit den staatlichen Politikzielen vereinbaren läßt. Diese Gewährleistung steht stets unter dem Vorbehalt des »Funktionierens« staatlicher Politik und der Aufrechterhaltung einer staatlich definierten »inneren Sicherheit« und Ordnung.

Dementsprechend passen rechtspolitische Änderungen und der beispiellose Ausbau der Staatsschutzorgane in der sozialliberalen Ära auch fugenlos zusammen. Nicht im Widerspruch zu, sondern als konsequente Verwirklichung sozialdemokratischer Verfassungspolitik vollzieht sich der Ausbau des Bundeskriminalamtes sowie die Ausweitung der Aufgabenstellung der Bundes- und Landesämter für Verfassungsschutz. Verfassungsschutz und Verfassungsentwicklung sind nicht als Bürger- , sondern als Staatsaufgabe begriffen. Sie müssen also im Zwielicht geheimdienstlicher Praktiken von staatlichen Funktionsträgern und nicht von freien Bürgern in der politischen Auseinandersetzung der verschiedenen Auffassungen betrieben werden. Der gesamte politische Willensbildungsprozeß, aus dem der Verfassungskonsens in einer funktionierenden Demokratie sich als Resultat ergeben müßte, wird aus dieser staatsorientierten Perspektive als latente Gefährdung der einmal definierten Verfassungswirklichkeit begriffen. Er muß folglich beobachtet, kontrolliert und gegebenenfalls beschränkt werden. Richtet sich das Augenmerk der »Organe« dabei naturgemäß auf die Randzonen des politischen Spektrums, so bleibt deren Definition doch der der öffentlichen Diskussion entzogenen innerbehördlichen Dezision überlassen. Deshalb reichen Überwachung und Kontrolle auch weit in den Bereich von anerkannten Institutionen, wie »Amnesty International« oder sogar in Veranstaltungen der SPD und der Gewerkschaften hinein. Im Sinne der personellen Tratitionen ist dabei die Einäugigkeit, der stete Blick nach links nicht weiter überraschend. Er ist auch inhaltlich konsequent, wenn Verfassungsschutz wie gezeigt tendentiell zum Staatsschutz sich wandelt, weil rechter Radikalismus, zumeist verbunden mit einem autoritären Staatsbegriff und antidemokratischen Perspektiven, als »Feind« einer selbst an Staatsschutz und nicht an Demokratie zuerst ausgerichteten Polizei- und Verfassungsschutzpraxis kaum zu erkennen ist. Rechts definiert erst die Orientierung an Gewalt die Verfassungsfeindlichkeit und beschreibt die staatliche Interventionsgrenze, während links schon die inhaltlichen Kritiken an Verstaatlichung und Grundrechtsgefährdung als Gefahr erscheinen müssen.

Sozial­li­be­rales Ergebnis: Mehr Staat statt mehr Bürgerrecht

Diese Entwicklungen haben in ihrer Gesamtheit dazu geführt, daß sich die Verhältnisse zwischen Staat, Verfassung und Bürgern grundsätzlich verschoben haben. Die Verfassung wird aus einem Instrument der Bürger gegenüber Staatseingriffen und Einschränkungen seiner Grundrechte, aus einer Garantie seiner politisch-demokratischen Entfaltungsmöglichkeit, aus dem konsensualen Ausdruck seiner kollektiv wahrgenommenen und ausgeübten Volkssouveränität zu einem Mechanismus staatlicher Herrschaft, mit dem die jeweiligen Inhaber staatlicher Macht die Bürger auf die gegebenen Verhältnisse und den von ihnen machtmäßig definierten Status quo verpflichten. Die in der Verfassung garantierten Grundrechte bekommen damit einen Verpflichtungscharakter, auf den sich der Staat gegenüber »seinen« Bürgern beruft, um sie zu grundsätzlicher Loyalität und Unterstützung zu zwingen.

Aus der Festlegung seiner grundrechtlichen Freiheiten werden für den Bürger tiefgreifende Verpflichtungen gegenüber Staat und Gesellschaft, aus der freiheitlichen Verfassung einer zivilen Gesellschaft ein Organisationsstatut des durchstaatlichten Systems. Tendenziell wird eine Opposition gegen die aktuelle Ausübung der Staatsgewalt unter Berufung auf die Verfassung damit zu einem Widerspruch in den Augen der Bürger, zur verfassungsfeindlichen Aktivität aus der Sicht des Staates. Die Verfassung, ein Organisationsstatut des je aktuellen Zustandes politischer Herrschaft, wird zum Ausgrenzungsinstrument gegen Oppositionelle. Gesellschaftliche Konflikte, zu deren friedlicher Regelung die Verfassung vorab neutral von beiden Seiten eines Konfliktes anerkannt sein müßte, werden in dem Konflikt zwischen Staatsorganen und opponierenden Bürgern unmittelbar zu Machtauseinandersetzungen. Die Friedensfunktion der Verfassung denaturiert, die Berufung auf die Verfassung wird auf Staatsseite zu einem Konfliktmittel neben anderen, dessen Funktion zur Aufrechterhaltung der »inneren Sicherheit« der bestehenden Ordnung an die Seite von Polizei und Verwaltung tritt. Taktische Opportunität entscheidet allein über den jeweiligen Einsatz des Mittels. Die Instrumentalisierung der Verfassung zum staatlichen Konfliktmechanismus gegenüber opponierenden Bürgern berührt auch die Frage der Gewaltenteilung, durch die nach der ursprünglichen Sicht demokratisch-republikanischer Tradition die Freiheit des Bürgers gegenüber monopolitisierter Macht geschützt werden sollte.

Einzelfälle, in denen Gerichte der herrschenden Macht in die Parade fahren, können nicht darüber hinwegtäuschen, daß insbesondere auch das Bundesverfassungsgericht mit seiner an »Funktionsfähigkeit« des Status quo orientierten Rechtssprechung weniger ein Instrument der Kontrolle der Einhaltung von Grundrechten, als vielmehr Teil des die Grundrechte zu politischen Imperativen gegen den Bürger umformulierenden gesamtstaatlichen Apparates geworden ist. In brenzligen Fällen, wie jetzt jüngst im Falle der Volkszählung, besteht die Funktion der Verfassungsgerichtssprechung darin, die mit einem etatistischen Verständnis der Grundwerte vereinbare Verfahrensbestimmung zu entwerfen, mit der die inkriminierte Volkszählung dann doch »verfassungsgemäß« durchgeführt werden kann. Ist die Prozedur einmal abgeschlossen, wird auch sichtbar werden, wie die Gerichtsbarkeit an der Ausgrenzung von Opposition teilnimmt: wer nach dem Karlsruher Spruch an seiner Opposition festhält, kann sich nach Logik der herrschenden Meinung auf die Verfassung und seine dort festgelegten Grundrechte nicht mehr berufen. Sein Widerstand wird verfassungswidrig und muß mit den entsprechenden Sanktionen rechnen. Faktisch wird der opponierende Bürger also seiner Berufungsmöglichkeit auf die Grundwerte enteignet, während diese mit höchstrichterlicher Legitimation zur Verfahrens- und Durchführungsordnung staatlich-administrativen Handelns verkommen.

Die zurückliegenden Jahre der sozialliberalen Koalition sind in diesem Sinne in der Entwicklung der Bundesrepublik keineswegs unter die programmatische Formel von »Mehr Demokratie wagen« zu stellen. Vielmehr hat die staatszentrierte Politikkonzeption der SPD die Kluft zwischen grund- und menschenrechtsorientiertem gesellschaftlichen Handeln der Bürger und dem etablierten politischen System vertieft. Tendenziell zerfällt die Verfassungswirklichkeit im Hinblick auf die Grundrechte zunehmend in zwei Komponenten, wird doppelbödig. Dem spontanen, an Grundwerten orientierten Rechtsgefühl vieler Bürger steht das offizielle Grundrechts- und Verfassungsverständnis der Staatsorgane gegenüber, mit dem sie noch jede Maßnahme gegen Widerstand sozialer Bewegungen oder einzelner durchzusetzen und zu rechtfertigen wußten.

Eine an der Verwirklichung von Demokratie als gesamtgesellschaftlichem Wert- und Organisationsprinzip orientierte Politik muß über diese Spaltung besorgt sein und gegen die Reduzierung von Demokratie auf den staatlichen Sektor, auf die von ihm garantierten Verfahren und gesetzten Regeln opponieren. Die Aneignung der Grundrechte als Bürgerrechte, als Rechte der Mitglieder einer Gesellschaft, die sie in gesellschaftlicher Praxis pflegen und entfalten, bekommt in solcher Situation unweigerlich einen antistaatlichen, antiinstitutionellen Charakter von Widerstand. Die SPD, in der Zeit ihreri Regierung stets gewiß, daß Demokratie und Grundrechte auch in ihrer verstaatlichten Version bei ihr bestens aufgehoben und garantiert wären, kann nun in der Opposition darüber nachdenken, wieweit diese Perspektive prinzepiell richtig oder falsch war — und nicht nur, weil es nun andere sind, die über den Regierungsapparat verfügen.

Hoffentlich ist sie noch lernfähig.

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