Beitragsbild Abschiebediplomatie: Aktuelle Abschiebedebatten und politische Aushandlungsprozesse über den nationalen Tellerrand hinaus
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Abschie­be­di­plo­ma­tie: Aktuelle Abschie­be­de­batten und politische Aushand­lungs­pro­zesse über den nationalen Tellerrand hinaus

Auf europäischer Ebene führt die Debatte nach einem verschärften, das heißt reduzierten Asylrecht, zu Anstrengungen der Auslagerung von Abschiebungen. Das verursacht ein Legitimitätsdefizit. Denn seit 2015 können die EU und ihre Mitgliedsstaaten Menschenrechte nicht mehr als Vermarktungsargument für außenpolitische Migrationsfragen nutzen. Forderung an Länder weiterhin Geflüchtete aufzunehmen und neben Infrastrukturen auch gesellschaftliche Teilnahme zu fördern, werden als inkonsistent oder heuchlerisch wahrgenommen. Mit der europäischen Suche nach einem neuen Konsens in der Flüchtlingsfrage, der sich wegbewegt von humanitärer Verantwortung und hin zu einem sicherheitspolitischen Fokus, wird die Legitimität der EU untergraben. Der illiberale Wandel der EU und vieler Mitgliedsstaaten, so Lisa Borrelli in ihrem Beitrag, lässt die liberale Stimme verstummen. Sie wird inkonsequent und schafft eine Doppelmoral.i

Einleitung

Auf europäischer Ebene ist Abschiebung ein Dauerthema: Vor jeder politischen Wahl, nach jeder stark mediatisierten Straftat, welche durch eine Person ohne europäische Staatsangehörigkeit ausgeübt wird, präsentieren sehr viele Akteur*innen aus Medien und Politik eine hohe Empörung bezüglich der aktuellen Zahl von Abschiebungen. In einem solchen Kontext kommt es auch zu Diskussionen, wie diese Zahl noch erhöht werden kann. Auch mit Blick auf geopolitische Krisen und Kriege bewegt sich der Diskurs um Asylzahlen und mögliche Rückführung sowie um finanzielle Hilfen und Sachleistungen, die an andere Länder vergeben werden, um mobile Gruppen fernzuhalten. Nach den rechtspopulistischen Entwicklungen der vergangenen Jahre (Askanius/Mylonas 2015), die in diversen europäischen Staaten verzeichnet werden können, aber auch mit dem globalen Kurs hin zu Konzepten illiberaler Demokratie (Cooley/ Nexon 2022), ist es wenig überraschend, dass der Trend im Bereich der Migrationspolitik restriktiver wird, auch wenn ehemalige Parteien der „Mitte“ federführend sind. Polen beispielsweise möchte aktuell zeitweise das Asylrecht aussetzen – in einer Regierung geführt durch das Dreierbündnis der liberalkonservativen Bürgerkoalition (KO), dem christlich-konservativen Dritten Weg und dem Linksbündnis Lewica. Damit lehnt sich diese Forderung an eine Entscheidung Finnlands an, welche seit Mai 2024 das Asylrecht aufhebt, vertreten durch die Mitte-Rechts Koalition, die seit 2023 im Amt ist. Während diverse NGOs gegen diese Strategien Protest einlegen, ist eine Reaktion von Brüssel aber eher nicht zu erwarten.

Stattdessen ist auch auf europäischer Ebene die Debatte nach einem verschärften, das heißt reduzierten Asylrecht, aktuell. Die Kommissionspräsidentin der Europäischen Union, Ursula von der Leyen, teilte gerade erst einen Brief an die 27 Staats- und Regierungschef*innen, in dem Abschiebezentren außerhalb Europas vorgeschlagen werden (Kelnberger 2024). Hier solle man von der angelaufenen Auslagerung Italiens nach Albanien lernen (Schmid 2024). Albanien vermerkt ein regeres Interesse und Besuche diverser Mitgliedsstaaten, um die Prozeduren kennenzulernen. Zudem soll – so von der Leyens Wunsch – die Entscheidung „sicherer Drittstaaten“ in Zukunft auf der Ebene der EU beschlossen werden, um Einigkeit zu schaffen. Die Abschiebeentscheide würden so vereinheitlicht. Da aktuell nur jede*r fünfte sogenannte Ausreisepflichtige auch tatsächlich abgeschoben wird, kursieren weitere politische Forderungen nach Reduzierung von Unterstützung, Sozialleistungen vor allem, und einer Ausweitung von Abschiebehaft. Leistungskürzungen, Haft und Sanktionen stehen in Bezug auf Abschiebedebatten daher hoch oben in der politischen Agenda. „Kompromisslosigkeit“, so die Äußerung von Österreichs Innenminister Gerhard Karner, wird gefordert.

In diesen Diskursen fehlt der Blick auf die praktische Umsetzung, die von Polizei und Migrationsbehörden erwartet wird, sowie auf die menschenrechtlichen Aspekte, die Abschiebungen als gewaltvolle und traumatisierende Praxis anerkennen. Es geht wenig um Rechte oder Ansätze, die nicht erst bei Mobilität greifen. Stattdessen finden sich im politischen Diskurs Fantasien staatlicher Souveränität und Herrschaftsausübung sowie die Reproduktion eines imaginierten nationalen Körpers, der durch die unerwünschte Anwesenheit fremder Körper destabilisiert wird (Musolff 2023).

Der vorliegende Beitrag skizziert aktuelle europäische Abschiebedebatten in Bezug auf Externalisierung und Versuche der EU sowie ihrer Mitgliedsstaaten, Migration an und über die Außengrenzen hinweg zu verlagern. Dabei wird aufgezeigt, dass ebendiese Anstrengungen der Externalisierung ein Legitimitätsdefizit erschaffen. Denn spätestens seit 2015 und dem langen „Sommer der Migration“ können die EU und ihre Mitgliedsstaaten liberale Werte und Menschenrechte nicht mehr als Vermarktungs- und Verkaufsargument für außenpolitische Migrationsfragen nutzen. Forderung an Länder weiterhin Geflüchtete aufzunehmen und neben Infrastrukturen auch gesellschaftliche Teilnahme zu fördern, werden – so auch generelle Forschung zu „hypocrisy“ – als inkonsistent und somit scheinheilig oder heuchlerisch wahrgenommen (Greenhill 2010; Longo/Panebianco/Cannata 2023). Die Erwartung, dass zum Beispiel Libanon oder Jordanien, welche weitaus höhere Zahlen Geflüchteter beherbergen, weiterhin mobile Personengruppen aufnehmen, auch bei schwindender finanzieller Unterstützung durch Dritte, ist entsprechend unsicher.

Nach einem theoretischen Exkurs in den sogenannten hypocrisy gap, welche Inkonsistenz (Heuchelei) als banal-alltägliches Verhalten in (politischen) Organisationen erklärt, soll vor allem auf die diplomatische Ebene von Abschiebungen eingegangen werden. Als Beispiel dieser Aushandlungen von Rückkehr fungiert Syrien, da der europäische Diskurs immer offener von einer sichereren Lage in Teilen des Landes ausgeht (Pascoe 2024). Begleitet wird dies mit Kritik nichtstaatlicher Akteur*innen, welche ein Aufweichen des Non-Refoulement-Prinzips befürchten. Abschließend wird aufgezeigt, dass das internationale Gerangel um Deutungshoheit (wer darf wann und wie abgeschoben werden), jedoch nicht nur sozialstaatlich und menschenrechtlich geregelte Normen unterwandert, sondern auch klar eine imaginäre, fiktive Gemeinschaft (vgl. imagined communites nach Anderson [1983] 2006) schafft, welche von „außen“ abgeschottet werden soll.

Abschie­be­di­plo­matie und Hypocrisy – Welche Legitimität braucht die EU?

Bisherige Forschung an der Schnittstelle zu Diplomatie und Migration (siehe hier der Begriff migration diplomacy; Adamson/Tsourapas 2018) unterstreicht, dass Migrationspolitik nicht nur allein Mittel zum Zweck ist – beispielsweise, wenn durch eine Drohung der Grenzöffnung finanzielle Entwicklungshilfe, also Hilfen in einem anderen politischen Bereich, erhalten wird. Vielmehr ist der Bereich in seiner Relevanz so gewachsen, dass Migration zum Zweck selbst geworden ist (Tsourapas 2017). Diplomatische Strategien zielen daher oftmals mit konkreten Mitteln und Prozessen auf die Verwaltung von Mobilität ab. Sie sind charakterisiert durch interaktive Prozesse, beinhalten bilaterale Abkommen und Kooperationsprogramme sowie auch Strategien, welche sanktionieren (Laube 2019). Diplomatische Akteur*innen nehmen bestimmte Positionen ein, vertreten diese nach außen, propagieren diese, können aber intern divergierende Ziele verfolgen.

Im Bereich Migration spielen internationale Abkommen und Rechte eine wesentliche Rolle, wie beispielsweise die Genfer Flüchtlingskonvention oder die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. In der Theorie werden diese durch die unterzeichnenden Parteien vertreten und deren Inhalte gefördert. Dies betrifft auch die EU. Zwar kann diese selbst nur schwer Normen kohärent und konsequent fördern, da strategische Interessen der individuellen Mitgliedstaaten häufig divergieren und in Spannungen zueinander liegen (Longo/Panebianco/Cannata 2023). Dennoch wird die EU durch andere Staaten als ein Akteur wahrgenommen. Entsprechend können divergierende Strategien zwischen der EU und ihren Mitgliedsstaaten für Kritik sorgen.

Um ein Verständnis für divergierende Haltungen in der Migrationsdiplomatie zu erhalten, bietet sich eine Analyse von nach außen getragenen Handlungen über einen gewissen Zeitraum an, verbunden mit der Beobachtung tatsächlich ergriffener Maßnahmen. Ein Forschungsstrang arbeitet mit dem Begriff der Hypocrisy, im Folgenden inkonsistentes Verhalten genannt, welcher eine Inkonsistenz zwischen Gesagtem, Entscheidungen und Aktionen beschreibt (vgl. zu organization of hypocrisy Brunsson 1991). Diese Inkonsistenz wird durch Akteur*innen und Organisationen genutzt, um mit widersprüchlichen Werten in ihrem Umfeld umzugehen und sie auszuleben (Longo/Panebianco/Cannata 2023). Während wir als Akteur*innen zwar davon ausgehen, dass Gesagtes mit einer Aktion oder einem Ausgang des Geschehens übereinstimmt, ist Inkonsistenz dennoch ein fundamentaler Bestandteil unseres Verhaltens. Während inkonsistentes Verhalten nicht immer das Resultat taktischer Entscheidungen sein muss, kann diese auf politischer Ebene jedoch weitreichende Folgen haben.

Kelly Greenhill (2010) konkretisiert politisch inkonsistentes Verhalten (political hypocrisy) als politische Heuchelei, in welcher die politischen Akteur*innen das Engagement ihres Staates bezüglich einer bestimmten Moral (oder den Appell an dieser) übertreiben: „Political hypocrisy entails the exaggeration by political actors of their state’s commitment to morality” (Greenhill 2010: 132). Dies führt zu potenziellen Kosten (hypocrisy costs), die aufkommen können, wenn Akteur*innen beispielsweise das Verfolgen liberaler Werte und internationaler Normen einfordern, selbst jedoch diese nicht einhalten.

„[S]ymbolic political costs […] can be imposed when there exists a real (or perceived) disparity between a professed commitment to liberal values and/or international norms, and demonstrated state actions that contravene such a commitment.” (Greenhill 2010: 132)

Symbolische Kosten sind Legitimitätsverlust, ein Verlust von Glaubwürdigkeit und somit auch politischer Macht. Sanktioniert wird durch ein öffentliches Bloßstellen durch Netzwerke und andere Akteur*innen, die das inkonsistente Verhalten aufdecken. Während dies Greenhill (2010) zufolge zu Scham einer Regierung führt (vgl. Keck/Sikkink 1998) und im Idealfall zu einem Verhaltenswechsel in die ursprünglich vertretene Richtung, sieht es im aktuellen Diskurs um Abschiebungen anders aus.

Einigkeit in der Normauf­wei­chung – Return Hubs in und außerhalb der EU

Der generelle Diskurs um Migration und Mobilität ist nämlich von einem diversen Stimmgewirr, welches sich um Seenotrettung, Schleuser*innen und Menschenhandel, aber auch Situationen in sogenannten Drittstaaten dreht, auf einen scheinbaren Konsens zu Abschiebung abgeflaut. Asylverfahren sollen ausgelagert werden. Dazu kommen nun Ideen für Abschiebezentren außerhalb der EU – so schafft eine Person es gar nicht erst auf europäischen Boden. Dies geht weiter als die geplanten Lager an den EU-Außengrenzen, welche Teil der in diesem Jahr beschlossenen europäischen Asylrechtsreform sind. Die Idee ist, Personen mit geringer Anerkennungsquote schnell wieder abschieben zu können. Dies soll in zwei Jahren in die Tat umsetzbar sein. Von der Leyens Brief vom 15. Oktobers 2024 geht weiter: Sie unterstützt die Position bezüglich Giorgia Melonis Albanien-Deal in dem Moment, in welchem das erste italienische Marineschiff den Hafen von Shengjin in Albanien erreicht. Während sich die Kommission zu Beginn des Deals eher verhalten zeigte und auf die Einhaltung internationaler und EU-Rechte pochte, wächst nun somit das Interesse daran und an einer etwaigen Prüfung, wie man nachziehen kann, zum Beispiel durch einen Deal mit Rwanda (Kelnberger 2024). Der Richtungswechsel ist nicht plötzlich, hat aber klar seine Ausrichtung gewechselt. Nach Angela Merkels Aussage „Wir schaffen das“ im Jahr 2015, die eine gemeinsame Verantwortung suggeriert und somit ähnliche Anstrengungen aufzeigt, wie andere Länder außerhalb der EU mit hohen Migrationszahlen, ist die heutige Einstellung eine grundsätzlich andere. Wird jedoch keine Verantwortung für Asylsuchende übernommen, jedoch weiter außenpolitisch für den Verbleib von Geflüchteten zum Beispiel in der Türkei, dem Libanon oder Jordanien, plädiert, kommt es zu Inkonsistenz.

Inkonsistentes Verhalten zeigt sich noch klarer im diskursiven Verhalten von Edi Rama, Albaniens Ministerpräsident. Sprach er sich 2018 noch klar gegen EU-Asylzentren in Albanien aus und beschrieb das Vorhaben als Versuch, „verzweifelte Menschen irgendwo abzuladen wie Giftmüll, den niemand will“ (Turkia 2018; Lynch 2023), ist wenige Jahre später von diesen klaren Worten nicht mehr viel zu finden. Der Diskurs hat sich verändert, jedoch – zumindest aktuell – nur für Italien. Albaniens Öffnung für Asylauslagerung basiert – so Rama – auf einer solidarischen Haltung gegenüber Italien. Italien hat sich im Gegenzug für einen EU-Beitritt Albaniens stark gemacht, was jedoch nicht der Hauptgrund für die Unterstützung in der Asylhandhabe sein soll. Dabei betont Rama in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament am 19. September 2024 nochmals, dass das Abkommen „exklusiv“ mit Italien und aus „unconditional love“ enstanden sei (Jones 2024). Mit der Rhetorikänderung, die von einer Ablehnung der Auslagerung zu einer Zustimmung zu Asylzentren führt, sinkt jedoch auch Ramas Glaubwürdigkeit.

Mit den Zentren umgeht Italien die EU-Asylverfahrensrichtline, welche erst bei Anträgen an der Grenze gilt, nicht jedoch in internationalen Gewässern. Auslagerung als Abschreckungseffekt ist gewünscht, auch wenn dieser in anderen Abschreckungshandlungen in der Flüchtlingspolitik bisher in keiner Weise nachgewiesen werden konnte. Spätestens seit 2015 ist der vielseitige Diskurs also einem Zweierlei gewichen: Sicherheit und Externalisierung. Beide Diskurse schaffen eine neue Legitimität. Zwar prangern andere Staaten – besonders außerhalb der EU – die inkonsistente Handlung der EU an (Kaschowitz/Baravi 2024; Keshen/Safi 2023), diese verändert jedoch nun ihre Haltung. Sie folgt – statt einer offiziellen Unterstützung helfender Maßnahmen für Geflüchtete und verdeckter Unterstützung von autoritären Regimen, beispielsweise in Libyen (Tranchina 2020) – einer nun häufiger offen gezeigten finanziellen Unterstützung für externe Sicherheit (Kaschowitz/Baravi 2024).

Syrische Geflüchtete im Migra­ti­ons­dis­kurs

Kurz vor den Europawahlen 2024 sicherte von der Leyen dem Libanon eine Milliarde Euro zur Bewältigung der „Flüchtlingskrise“ zu. Diese Art von Unterstützung existiert bereits seit 2011, wurde nun aber besonders betont und inhaltlich adaptiert. Grenzmanagement und Sicherheit sind nun klar benannt (Directorate-General for Neighbourhood and Enlargement Negotiations 2024). In einem Interview mit Nick Alipour von Euractiv bezeichnet der SPD-Bundestagsabgeordnete Helge Lindh „dass die Kommissionsabkommen größtenteils ‚Scheckbuchdiplomatie sind, mit Fokus auf Geldtransfers an autoritär geprägte Regierungen’“ (Alipour 2024). Der taktische Wechsel von humanitärer Unterstützung für Geflüchtete zu Sicherheit und Grenzmanagement mag ein Versuch der EU sein, ihr inkonsistentes Verhalten anzupassen. Dies hat jedoch verheerende Konsequenzen für Geflüchtete, da ihre Prekarität noch weiter verstärkt wird. Schwindende Unterstützung für Unterbringung und Lebensmittel und eine Verlagerung von monetärer Hilfe für Grenzkontrollen signalisieren, dass ihre Anwesenheit nun auch international hinterfragt wird.

„Dass die Europäische Union eine solche vermeintlich „freiwillige Rückkehr“ (wie es von der Leyen auch bei ihrem Besuch im Libanon formulierte) unterstützt, bietet Spielraum für andere Kräfte, die schon lange versuchen, syrische Flüchtlinge für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.“ (Kaschowitz/Baravi 2024)

Ebenso zeigen Keshen und Safi (2023) auf, wie libanesische Parteien sich gegenüber europäischer Politik positionieren. Konkret nutzen sie das Beispiel Dänemarks, das 2019 Teile Syriens (Damaskus und Rif Damaskus) als sichere Rückkehrorte erklärten. Noch hat keine Abschiebung stattgefunden, viele syrische Geflüchtete verloren jedoch ihren temporären Aufenthaltsstatus und mussten und müssen diesen Verlust nun auf bürokratisch langen Wegen anfechten (Lindberg 2021). Dänemarks Positionierung liefert ein gutes Beispiel für das inkonsistente Verhalten der EU und einiger, wenn nicht der meisten Mitgliedsstaaten. Zunächst folgten auf Dänemarks Entscheidung, Abschiebungen nach Syrien zu ermöglichen nicht nur von Nicht-Regierungsorganisationen negative Reaktionen. Der Danish Immigration Service verurteilte die dänischen Asylbehörden (Danish asylum authorities), die Gewährung temporären Schutzes syrischer Geflüchteter aus Damaskus aufzuheben (ECRE 2021). Auch der UNHCR wiederholt zunächst den Aufruf, nicht nach Syrien abzuschieben. Das Europäische Parlament äußerte sich bezüglich seiner Positionierung mit einem Verweis auf das Non-Refoulement Verbot nach Genfer Flüchtlingskonvention und Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Dazu verwiesen sie auf internationale Organisationen und merkten an, dass dänische Behörden der Kommission versichert hätten, keine zwangsweisen Abschiebungen durchzuführen (European Parliament 2021).

„While the decision to return must always be an individual one, the European Union shares UNHCR’s assessment that conditions for safe, voluntary and dignified return are not in place in Syria at present and that there could be security risks for certain individuals returning to Damascus, which has also been pointed out in the European Asylum Support Office’s Country Guidance on Syria.“ (EEAS 2021)

Im Jahr 2024 ist die Haltung der Europäischen Kommission nicht mehr allzu klar, sondern zurückhaltend. Zypern drängt die Europäische Kommission, Syrien für sicher zu erklären (Human Rights Watch 2024). Mit Strategien wie Erpressung (vgl. Tsourapas 2019) kann weiterhin Druck aufgebaut werden. Erst im Mai dieses Jahres drohte der Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah mit einer „Flut“ syrischer Geflüchteter aus dem Libanon nach Europa (All Arab News 2024). Ähnlich tat es die Türkei (und andere Länder), wobei die Drohung „eine Welle von Migrant*innen auf Europa loszulassen“ 2016 noch eiskalt von offizieller Seite aus Brüssel abgetan wurde. „This will not help Turkey’s credibility in the eyes of European citizens. Europe will not be blackmailed“ (Beesley/Pitel 2016).

Ob der nun angedrohte Druck dazu führen könnte, dass man sich in der Rückführungsfrage alternativ mit dem syrischen Regime arrangiert, bleibt abzuwarten. Dennoch führt ein sich ausdehnendes Verständnis von regionaler Sicherheit in Syrien dazu, die Beziehungen zwischen Europa und dem Assad-Regime zu normalisieren.

Die unklare Positionierung bezüglich Rückkehr und finanzieller Veränderungen von Seiten der EU befeuern Ressentiments gegenüber syrischen Geflüchteten in der Region dazu noch weiter. Staaten, wie der Libanon sehen eine Doppelmoral westlicher Geldgebender. Es zeigt sich, dass Abschiebedebatten nicht in einem europäischen Vakuum stattfinden, sondern auch von weiteren internationalen Akteur*innen und nichteuropäischen Staaten abhängen. Eine Externalisierung – die Nach-außen-Verbschiebung von Grenzen über die europäischen hinaus – kann daher nicht einfach als reine Aktion europäischer Akteur*innen angesehen werden. Ein simples „Kaufen“ von Staaten ist nicht möglich, wie die Beispiele der Türkei, Jordanien oder des Libanons gezeigt haben.

Kaschowtith und Bavari (2024) zeigen so beispielsweise auf, wie von der Leyens monetäre Ankündigung negative Reaktionen schürt. Das Gefühl von Bestechung breitet sich aus und verschärft negative Gefühle gegenüber Geflüchteten. Die Anspannung zwischen der libanesischen Bevölkerung und syrischen Geflüchteten wächst. Gleichzeitig erlaubt die finanzielle Geldspritze eine Stärkung libanesischer Sicherheitskräfte und somit eine Schwächung internationalen Rechts. Durch den offiziellen „Kurswechsel“ der EU – hin zu Grenzziehung und Auslagerung und weg von humanitärer Hilfe sowie Aufbau – folgen daher keine Sanktionen. Vielmehr findet eine Normalisierung statt, welche den Positionswechsel (keine Abschiebung nach Syrien hinzu möglicher Abschiebung) stillschweigend akzeptiert.

Der Richtungswechsel Dänemarks zeigt sich inzwischen auch auf gerichtlicher Ebene in anderen Ländern. Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Nordrhein-Westfalen sieht in seiner Entscheidung vom 16. Juli 2024 (AZ 14 A 2847/19.A – asyl.net: M32602) keine individuelle Lebensgefahr für Zivilpersonen in Syrien, auch zielgerichtete Menschenrechtsverletzungen seien nicht zu befürchten (Feneberg/Pettersson 2024). Damit reiht sich das Gericht in einen gesamteuropäischen Diskurs ein.

Fazit

Mit der europäischen Suche eines neuen Konsenses, welcher sich wegbewegt von humanitärer Verantwortung und hin zu einem sicherheitspolitischen Fokus auf sich selbst, wird die Legitimität der EU untergraben. Der illiberale Wandel der EU und ihrer Politik (siehe hier auch Polen oder Ungarn) lässt die liberale Stimme, welche gegenüber weiteren Staaten und Akteur*innen angewendet wird, verstummen. Sie wird inkonsequent und schafft eine Doppelmoral, welche so auch wahrgenommen wird. Anstatt, dass die offene Kritik gegenüber der hypocrisy für Scham und Anpassung und eine Rückbesinnung auf bestimmte Normen sorgt, werden diese nun einfach verändert und angepasst. Der Diskurs um Abschiebungen aufgrund von Sicherheit und Erhaltung nationaler Systeme ignoriert internationale Abkommen und Normen, und er verändert ihre Interpretation. Dänemark erhielt so nur kurzzeitig Kritik für seine Entscheidung und wird heute eher bestärkt. Wenn also die Lücke zwischen nach außen getragener Position und tatsächlicher Handlung zu groß wird, können wir beobachten, dass politische Akteur*innen diese Handlung nicht (mehr) revidieren. Vielmehr passen sie ihre Position an, ähnlich dem Motto „der Zweck heiligt alle Mittel“. Die Kritik an der Diskrepanz zwischen Position und Handlung hat somit nur noch wenig Effekt. Damit geschieht eine Normalisierung rechtlich zweifelhafter Handlungen (Refoulement und Push-Backs), welche vermehrt europäisch getragen werden, was autoritäre Regime zusätzlich stärkt und demokratische Werte wie die universelle Menschenwürde vermehrt in den Hintergrund rücken lässt (Dandashly/Noutcheva 2022).

Es geht also nicht darum, die Inkompetenz der EU, einen gleichförmigen Konsens zu finden, aufzuzeigen. Vielmehr wird deutlich, dass das Erreichen eines Konsenses durch Aufweichung und Abschaffung von humanitären Normen sehr wohl möglich ist. Einigkeit und Einklang liegt in der Ausgrenzung. Damit bestärkt der aktuelle Diskurs eine Differenzierung zwischen „wir“, einer imaginierten Gemeinschaft, und „anderen“, denen gegenüber man sich absichern muss.

 

Dr. Lisa Marie Borrelli, Jahrgang 1988, Sozialwissenschaftlerin, studierte Sozialwissenschaften mit Nebenfach Sozialpsychologie an der Universität Köln. Seit 2022 ist sie assoziierte Professorin am Institut für Soziale Arbeit der Fachhochschule und Höheren Fachschule HES-SO Siders.

 

Literatur

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Anmerkungen

i Der vorliegende Beitrag ist im Zusammenhang mit dem durch das Swiss Network for International Studies geförderte Projekt „Tracing Syrian Refugee Return Dynamics across South/North Divides“ entstanden.

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