Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 247/248: Zukunft der Bildung

AfD versus Verfas­sungs­schutz

Während noch vor zehn Jahren die Verfassungsschutzbehörden als Geheimdienste in weiten Teilen der Bevölkerung, der Wissenschaft und teilweise auch in der Politik mit Skepsis betrachtet wurden und immer wieder Aufgaben- und Befugniserweiterungen für die Verfassungsschutzbehörden vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt wurden, hat sich inzwischen eine Wende vollzogen, seitdem die Verfassungsschutzbehörden den Rechtsextremismus, insbesondere die AfD, ins Auge gefasst haben. Der „Verfassungsschutz“, so Till Müller-Heidelberg in seinem Beitrag, schützt aber nach wie vor nicht die Verfassung und ist immer noch nicht der Verbündete einer demokratischen Gesellschaft. Dazu analysiert er die Rechtsprechung im Streit zwischen AfD und dem „Verfassungsschutz“ sowie die Argumentation der Verfassungsschutzbehörden zum Volksbegriff der AfD, dem Extremismusbegriff und der Delegitimierung des Staates durch die AfD. Müller-Heidelberg kommt zum Ergebnis, dass das Vorgehen des „Verfassungsschutzes“ am Ende sogar der AfD helfen könnte.

 

Die Kernaufgabe der Verfassungsschutzbehörden in Bund und Ländern ist § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 des BVerfSchG zufolge „die Sammlung und Auswertung von Informationen, insbesondere von sach- und personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen über Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind“.

Am 25. Februar 2021 erklärte das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) die AfD als „Verdachtsfall“, weil es hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür gebe, dass sie gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen verfolge. Das Landesamt für Verfassungsschutz Thüringen hat die dortige AfD sogar bereits für „gesichert rechtsextremistisch“ erklärt, was der Auffassung der Verfassungsschutzbehörden zufolge identisch ist mit verfassungsfeindlichen Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung.

Während noch vor zehn Jahren die Verfassungsschutzbehörden als Geheimdienste in weiten Teilen der Bevölkerung, der Wissenschaft und teilweise auch in der Politik mit Argwohn und Skepsis betrachtet wurden und immer wieder Aufgaben- und Befugniserweiterungen für die Verfassungsschutzbehörden in Bundes- und Landesgesetzen vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt wurden, hat sich eine erstaunliche Wende vollzogen, seitdem die Verfassungsschutzbehörden den Rechtsextremismus ins Auge gefasst haben und vor seinen Gefahren warnen. Nahezu blind wird dem „Verfassungsschutz“ vertraut, der doch selten nur wirklich die Verfassung schützt und insbesondere entgegen dem politischen Sprachgebrauch gerade keine „Sicherheitsbehörde“ ist (BVerfGE 133, 277, 327). Das ist auch erstaunlich, da doch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 27. Februar 2008 zur Online-Durchsuchung durch den nordrhein-westfälischen „Verfassungsschutz“ (in Rz. 223) ausdrücklich festgestellt hat, dass an die Zuverlässigkeit der „Erkenntnisse“ der Verfassungsschutzbehörden wegen ihrer andersartigen Aufgabenstellung – etwa verglichen mit der Polizei – geringere Anforderungen zu stellen sind (BVerfG 27. Februar 2008, Az. 1 BvR 370/07). Seit die AfD als Verdachtsfall rechtsextremistischer Bestrebungen seitens des BfV behandelt wird und die Klage der AfD dagegen vor dem VG Köln und dem OVG NRW erfolglos geblieben ist (OVG NRW, Urt. v. 13.05.2024, Az. 5 A 1218/22) versäumt es kaum jemand, in der politischen Diskussion über oder mit der AfD darauf hinzuweisen, dass sie ja gerichtlich bestätigt ein Verdachtsfall für extremistische, das heißt verfassungsfeindliche Bestrebungen, sei.

Wie aber kommen die Verfassungsschutzbehörden und Gerichte dazu? Da lohnt es sich, das 63-seitige Urteil des OVG NRW, in dem auch der Vortrag des BfV ebenso wiedergegeben wird wie die Argumentation der AfD, zu analysieren.

Der Volks­be­griff der AfD

Hauptansatzpunkt in der Argumentation des Bundesamtes für Verfassungsschutz dafür, dass die AfD Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verfolge, ist, dass „in Verlautbarungen der AfD und ihrer Repräsentantinnen und Repräsentanten […] vielfach ein völkisch-abstammungsmäßig geprägtes Volksverständnis zum Ausdruck [komme], das im Widerspruch zum Volksverständnis des Grundgesetzes steht. […] [Die AfD vertrete] Vorstellungen eines ethnisch homogenen deutschen Volkes“ (Bundesamt für Verfassungsschutz 2023: 114f.). In der politischen Diskussion wird dies zusammengefasst im Vorwurf, dass die AfD einen ethnisch-kulturellen völkischen Volkstumsbegriff vertrete, um Menschen mit Migrationshintergrund auszuschließen; dies verstoße gegen die Menschenwürde und damit gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung.

Am 18. Januar 2021 hat die AfD auf ihrer Website eine Erklärung zum deutschen Staatsvolk und zur deutschen Identität veröffentlicht, die auch von der Jungen Alternative für Deutschland, der offiziellen Jugendorganisation der AfD, und dem ehemaligen „Flügel“ unter Björn Höcke unterzeichnet wurde. Darin heißt es:

„Als Rechtsstaatspartei bekennt sich die AfD vorbehaltslos zum deutschen Staatsvolk als der Summe aller Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Unabhängig davon, welchen ethnisch-kulturellen Hintergrund jemand hat, wie kurz oder lange seine Einbürgerung oder die seiner Vorfahren zurückliegt, er ist vor dem Gesetz genauso deutsch wie der Abkömmling einer seit Jahrhunderten in Deutschland lebenden Familie, genießt dieselben Rechte und hat dieselben Pflichten. Staatsbürger erster und zweiter Klasse gibt es für uns nicht.“ (AfD 2021)

Neben der Staatsangehörigkeit gibt es allerdings der Auffassung der AfD zufolge eine „ethnisch-kulturelle Volkszugehörigkeit“, die von entscheidender Bedeutung für die Bewahrung der deutschen Kultur und Identität sei und die, so die der AfD, durch die angebliche Masseneinwanderung aus anderen Kulturen gefährdet ist.

Aber verstößt diese offizielle politische Auffassung – auch wenn man sie für politisch falsch hält – wirklich gegen das Grundgesetz? Wohl kaum. Auch das GG selbst unterscheidet in Art. 116 zwischen der deutschen Staatsangehörigkeit und der „deutschen Volkszugehörigkeit“, kennt also ebenfalls einen biologischen oder kulturellen Volksbegriff neben dem Staatsangehörigkeitsrecht. Art. 116 Abs. 1 GG lautet: „Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder [sic!] als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.“ „Spätaussiedler“ (das sind Personen überwiegend aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, die teils seit Jahrhunderten dort lebten und ihr deutsches Volkstum bewahrt haben), haben nach §§ 7, 15 Staatsangehörigkeitsgesetz einen Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit. Das Bundesvertriebenengesetz (Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge) kennt sogar einen § 6 mit der offiziellen Überschrift Volkszugehörigkeit. Nach Abs. 1 ist „deutscher Volkszugehörigkeit im Sinne. dieses Gesetzes […], wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird.“ Abs. 2 lautet:

„Wer nach dem 31. Dezember 1923 geboren worden ist, ist deutscher Volkszugehöriger, wenn er von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen [sic!] abstammt und sich bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete durch eine entsprechende Nationalitätenerklärung oder auf andere Weise zum deutschen Volkstum bekannt und nach dem Recht des Herkunftsstaates zur deutschen Nationalität gehört hat.“

Eine Unterscheidung zwischen Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und somit zum verfassungsrechtlichen Staatsvolk gehören, und einem ethnisch-kulturellen Volkstumsbegriff nach 1945 ist also keine Erfindung der AfD, sondern im GG und in der deutschen Gesetzgebung fest verankert! Sie ist vielleicht im aktuellen politischen und gesellschaftlichen Bewusstsein nicht verankert und präsent, und man mag sich fragen, was der Volkstumsbegriff heute (außer Fremdenfeindlichkeit) zu einer pluralistischen Gesellschaft beitragen soll. Wer diese Unterscheidung aber politisch aufgreift und propagiert, kann allein deshalb sicherlich nicht als Feind der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bezeichnet werden. Zu Recht argumentiert daher die AfD vor dem OVG NRW (Rz. 123 des Urteils): „Staatsangehörigkeit und Volkszugehörigkeit können auseinanderfallen.“

Dies akzeptiert grundsätzlich ja auch das OVG NRW, wenn es in Rz. 199f. ausführt, warum seines Erachtens dennoch Anhaltspunkte dafür vorliegen sollen, dass die AfD Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verfolgt. Es bestätigt richtigerweise, dass eine Partei, die wie die AfD eine Gefährdung des deutschen Volkstums durch angebliche Masseneinwanderung befürchtet, sich gegen die Migrations- und Einbürgerungspolitik wenden kann, ohne nur deshalb in den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen zu kommen. Der Schwerpunkt der politischen Argumentation und auch der Verfassungsschutzbehörden und -erkenntnisse, dass die AfD wegen ihres volkstümelnden Volksbegriffes verfassungsfeindlich sei, ist also rechtlich nicht haltbar. Man mag dies politisch für falsch oder gar für verwerflich halten – aber verfassungsfeindlich ist es nicht.

Lediglich dann, wenn aus dieser politischen Auffassung abgeleitet würde, dass deutsche Staatsbürger*innen unterschiedliche Rechte haben sollen, dass sie unterschiedlich rechtlich behandelt werden sollen und Rechtsnachteile erleiden müssen, weil sie ausländische Wurzeln haben, würde dies gegen den elementaren Menschenrechtsgrundsatz der Rechtsgleichheit und damit der Auffassung des OVG zufolge gegen die Menschenwürde des Art. 1 GG verstoßen. Das ist aber zumindest nicht der offizielle Inhalt der Politik der AfD, wie unter anderem die oben bereits zitierte Erklärung zum deutschen Staatsvolk und zur deutschen Identität ausweist. Auch das OVG muss in Rz. 211 des Urteils feststellen: „Weder in dem Parteiprogramm noch in sonstigen Veröffentlichungen oder Äußerungen der Klägerin oder ihr zurechenbarer Anhänger finden sich eindeutige Forderungen nach einer rechtlichen Diskriminierung deutscher Staatsangehöriger mit Migrationshintergrund.“ Auch folgende Aussagen der AfD beziehungsweise von AfD-Politikern,

  • „nur wer unsere Sprache spricht, unsere Werte teilt und seine Lebensweise bejaht, soll Deutscher nach dem Gesetz werden können“ (AfD 2021);

  • „Staatsvolk als Gesamtheit aller deutschen Staatsangehörigen ist demnach nicht an sich Träger der deutschen Kultur und Identität, sondern bleibt es nur, wenn nicht zu viele kulturfremde Personen eingebürgert werden“ (AfD 2021). Es gibt folglich nach dem Verständnis der Klägerin deutsche Staatsangehörige, die Träger der deutschen Kultur und Identität sind, und deutsche Staatsangehörige, die dies nicht sind;

  • „unabhängig davon, welchen ethnisch kulturellen Hintergrund jemand hat, wie kurz oder lange seine Einbürgerung oder die seiner Vorfahren zurückliegt, er ist vor dem Gesetz genauso deutsch wie der Abkömmling einer seit Jahrhunderten in Deutschland lebenden Familie, genießt dieselben Rechte und hat dieselben Pflichten. Staatsbürger erster und zweiter Klasse gibt es für uns nicht“ (AfD 2021);

  • nach Aussage von Björn Höcke versteht er unter dem Begriff Volk „die dynamische Einheit aus Abstammung, Sprache, Kultur und gemeinsam erlebter Geschichte“ und er fordert, „die Völker zu bewahren“ (Höcke/Henning 2018);

  • Alexander Gauland zufolge, Ehrenvorsitzender der AfD, bestehe „das elementare Bedürfnis eines Volkes darin, sich im Dasein zu erhalten“;

„stellen für sich genommen keine Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen dar“ (Rz. 221 des Urteils).

Und trotz dieser verfassungsrechtlich richtigen Ausführungen des OVG NRW meint das Gericht dann dennoch in der Rz. 229, aus der „großen Anzahl der gegen Migranten gerichteten Äußerungen, mit denen sie auch unabhängig vom Ausmaß ihrer Integration in die deutsche Gesellschaft systematisch ausgegrenzt und trotz ihrer deutschen Staatsangehörigkeit ihrer vollwertige Zugehörigkeit zum deutschen Volk infrage gestellt wird“, liege es nahe, dass die AfD bei entsprechenden politischen Mehrheiten „auch Maßnahmen ergreifen werde, die deutsche Staatsangehörige mit Migrationshintergrund aufgrund ihrer Abstimmung zu diskriminieren, auch wenn sich die konkreten Ziele, z. B. im Hinblick auf das Wahl- und Aufenthaltsrecht nicht feststellen lassen“. Was ist das denn für eine juristische Logik? Hier hat die politisch aufgeheizte Stimmung die Jurist*innen überwältigt.

Extre­mis­tisch gleich verfas­sungs­feind­lich?

Dies ist auch kein Wunder angesichts der überbordenden „Extremismus“-Debatte.

Denn sowohl Verfassungsschutzbehörden wie Politik sprechen nicht von „Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“, wie es § 3 BVerfSchG formuliert, sondern vom Rechtsextremismus. Die AfD sei ein Verdachtsfall unter dem Gesichtspunkt Rechtsextremismus beziehungsweise sei sie in Thüringen sogar gesichert rechtsextremistisch und deshalb verfassungsfeindlich.

Diesen Begriff gibt es im BVerfSchG, welches die Aufgaben der Beobachtung durch den „Verfassungsschutz“ festlegt, nicht. Denn der Begriff Extremismus ist kein handhabbarer fest umrissener juristischer Begriff, sondern ein politischer Kampfbegriff, wird aber auch in der Sozialwissenschaft genutzt, ohne jedoch als umstrittener Begriff eindeutig definiert zu sein. Juristische Konsequenzen („Verrufserklärung“ durch den Verfassungsschutz, nach Jürgen Seifert) dürfen hieran nicht geknüpft werden. So hat das BVerfG schon in seiner Entscheidung vom 8. Dezember 2010 (Az. 1 BVR 1106/08, Rz. 20) festgestellt:

„Es fehlt dem Verbot der Verbreitung rechtsextremistischen Gedankenguts an bestimmten Konturen. Ob eine Position als rechtsextremistisch – möglicherweise in Abgrenzung zu rechtsradikal oder rechtsreaktionär – einzustufen ist, ist eine Frage des politischen Meinungskampfes und der gesellschaftswissenschaftlichen Auseinandersetzung. Ihre Beantwortung steht in unausweichlicher Wechselwirkung mit sich wandelnden politischen und gesellschaftlichen Kontexten und subjektiven Einschätzungen, die Abgrenzungen mit strafrechtlicher [und folglich generell rechtlicher, T. M.-H.] Bedeutung, welche in rechtsstaatlicher Distanz aus sich heraus bestimmbar sind, nicht hinreichend erlauben. Die Verbreitung rechtsextremistischen oder nationalsozialistischen Gedankenguts ist damit kein hinreichend bestimmtes Kriterium, mit dem einem Bürger die Verbreitung bestimmter Meinungen verboten werden kann.“

Antise­mi­tismus und Bekämpfung des Islam

Neben dem völkischen Volkstumsbegriff, woraus sich eine Rechtsungleichheit von deutschen Staatsangehörigen mit deutscher Volkszugehörigkeit und mit Migrationshintergrund ableiten lassen kann, argumentieren „Verfassungsschutz“ und OVG NRW, der in der AfD anzutreffende Antisemitismus etwa mit seinem Narrativ von einer global agierenden Finanzelite, welche die politisch Verantwortlichen in ihrem Handeln lenke (Bundesamt für Verfassungsschutz 2023: 117) sowie seine Islamfeindlichkeit verstießen gegen die Menschenwürde und stellten daher eine Bestrebung gegen die freiheitlich demokratische Ordnung dar.

Antisemitismus und Islamfeindlichkeit sind verwerflich und müssen politisch und gesellschaftlich bekämpft werden! Aber wieso sind sie verfassungswidrig? Auch Antikommunismus stellt eine Herabsetzung derjenigen Menschen dar, die für den Kommunismus eintreten, auch die Verteufelung des Kapitalismus oder des russischen Präsidenten Putin oder etwa ein kämpferischer Antiamerikanismus mögen berechtigt oder unberechtigt sein – aber verstoßen sie gegen die Verfassung oder die freiheitliche demokratische Grundordnung? Doch wohl eher nicht. Selbst eine „Kritik an der Verfassung und ihren wesentlichen Elementen ist ebenso erlaubt wie die Äußerung der Forderung, tragende Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu ändern“, so das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 24. Mai 2005 (Az. 1 BvR 1072/01 Rz. 72).

Delegi­ti­mie­rung des Staates

Schließlich haben die Verfassungsschutzbehörden während der Demonstrationen gegen staatliche Maßnahmen während der Corona-Pandemie ein neues Feld für ihre Beobachtungsaufgabe der Sammlung von Informationen über Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung erfunden. Anfang 2021 teilte das BfV mit, dass man ab sofort die „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ durch die Corona-Protest-Szene im Blick habe. Auch hiervon ist in den Verfassungsschutzgesetzen natürlich nichts zu lesen, es wird aber auch vom OVG NRW aufgegriffen. Im Verfassungsschutzbericht des Bundes 2023 heißt es:

„Es waren zudem Diffamierungen und Verunglimpfungen sowohl politischer Gegner als auch des Staates und seiner Repräsentantinnen und Repräsentanten festzustellen, die auf eine generelle Herabwürdigung und Verächtlichmachung des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland abzielten. So wurde die Bundesrepublik Deutschland schlechthin wiederholt mit diktatorischen beziehungsweise totalitären Systemen gleichgesetzt, um deren Legitimität insgesamt zu diskreditieren.“ (Bundesamt für Verfassungsschutz 2023: 116).

Im Verfassungsschutzbericht Bund 2022 heißt es zudem:

„So sind beispielsweise Schmähungen etablierter Politikerinnen und Politiker mit Versatzstücken aus extremistischen Verschwörungstheorien als ‚Statthalter des US-Establishments im Vasallenstaat BRD‘ […] festzustellen. Auch Vergleiche zwischen der Bundesrepublik Deutschland und diktatorischen beziehungsweise totalitären Regimen werden regelmäßig verwendet.“ (Bundesamt für Verfassungsschutz 2022: 91)

Doch wo soll die Grenze zwischen scharfer Kritik an der Politiker*innen und staatlichen Ordnungen und ihrer „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung“ verlaufen? Kann sich das von Jahr zu Jahr ändern? Oder von Bundesinnenminister*in zu Bundesinnenminister*in? Hat der „Verfassungsschutz“ vergessen, dass in der Adenauer-Zeit der 1960er Jahre die SPD und der spätere Bundeskanzler Willy Brandt auf Wahlkampfplakaten als „Fünfte Kohorte von Moskau“ bezeichnet wurden? Und was ist mit der Bezeichnung des Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) als „Putin-Versteher“ und „Putin-Unterstützer“? Wenn die AfD die im Bundestag vertretenen anderen Parteien und ihre politischen Repräsentant*innen für unfähig hält, sie ablösen will, sie der Regierung vorwirft, diese verfolge nicht deutsche Interessen, sondern unterwerfe sich den Interessen der USA – so ist das zwar Unfug, aber rechtlich zulässig im politischen Meinungskampf. Der Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) betont, „die Delegitimierung des Staates habe auch zum Werkzeugkasten der DDR-Diktatur“ gehört. Er nennt dazu den § 106 des DDR-Strafgesetzbuchs zur staatsfeindlichen Hetze, der etwa Schriften unter Strafe stellte, „die die staatlichen, politischen, ökonomischen o.a. gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR diskriminieren“ (Beer/ Hollersen 2024).

Mit solchen Neuerfindungen der Beobachtungsobjekte für die Verfassungsschutzbehörden schützt man nicht die Verfassung, sondern stärkt sogar die AfD, die sich durch die Verrufserklärungen des „Verfassungsschutzes“ als Märtyrer inszenieren kann. Zwar mögen manche potenziellen Wähler*innen der AfD davor zurückschrecken, sie tatsächlich zu wählen, wenn sie im Verfassungsschutzbericht als rechtsextremistisch und Feind des demokratischen Rechtsstaats dargestellt wird. Die Masse ihrer Wählenden aber wird sich umgekehrt bestätigt fühlen, dass eben die „politische Elite“ sie als Wählerschaft bekämpft und ihnen zu Unrecht eine Verfassungswidrigkeit vorwirft.

Dass die AfD bekämpft werden muss, steht für mich außer Frage. Aber nicht durch Behörden und Verrufserklärungen bis hin zu Berufsverboten, sondern im politischen und gesellschaftlichen Meinungskampf, in der Auseinandersetzung mit ihr. Die Humanistische Union hat bereits 2013 in ihrem Memorandum Brauchen wir den Verfassungsschutz? Nein! Nachgewiesen, dass der „Verfassungsschutz“ weder die Verfassung noch die freiheitliche demokratische Grundordnung schützt, sondern ihr schadet, dass er nicht zur Sicherheit beiträgt, dass bei seinem Wegfall keine Sicherheitslücken entstünden und dass er abgeschafft gehört (Humanistische Union/Internationale Liga für Menschenrechte/Bundesarbeitskreis Kritischer Juragruppen 2013). Der „Verfassungsschutz“ sollte seine Existenzberechtigung nicht nachweisen dürfen, indem er nach jahrzehntelanger, oft verfassungswidriger Beobachtung des linken Spektrums nunmehr das rechte Spektrum beobachtet und für eine Bestrebung gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung erklärt.

 

Dr. Till Müller-Heidelberg, geb. 1944, ist Jurist mit den Schwerpunkten Europa-, Steuer-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht. Er war langjähriger Vorsitzender der Humanistischen Union und gehört weiterhin deren Beirat an, gehört zu den Gründungsmitgliedern der deutschen Sektion der IALANA (Juristen gegen den Atomkrieg) und ist Beiratsmitglied des Instituts für Weltanschauungsrecht. Bis 2018 war er zudem Mitherausgeber des Grundrechte-Reports und sitzt seit 30 Jahren für die SPD im Rat der Stadt Bingen. Von ihm gibt es zahlreiche Veröffentlichungen zu Demokratie und Rechtsstaat, Grundrechten, Polizei und Verfassungsschutz, zur Trennung von Staat und Kirche und zum kirchlichen Arbeitsrecht.

 

Literatur

Alternative für Deutschland 2021: Erklärung zum deutschen Staatsvolk und zur deutschen Identität, in: AfD.de vom 18.01.2021, https://www.afd.de/staatsvolk/.

Beer, Maximilian/Hollersen, Wiebke 2024: Ein „Fremdkörper in der Demokratie“? Wie der Verfassungsschutz neue Staatsfeinde entdeckte, in: Berliner Zeitung vom 13./14.07.2024, https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/verfassungsschutz-entdeckt-neue-staatsfeinde-li.2233919.

Bundesamt für Verfassungsschutz 2022: Verfassungsschutzbericht 2022, Berlin.

Bundesamt für Verfassungsschutz 2023: Verfassungsschutzbericht 2023, Berlin.

Höcke, Björn/Hennig, Sebastian 2018: Nie zweimal in denselben Fluss. Björn Höcke im Gespräch mit Sebastian Hennig, Lüdinghausen/Berlin.

Humanistische Union/Internationale Liga für Menschenrechte/Bundesarbeitskreis Kritischer Juragruppen (Hrsg.) 2013: Brauchen wir den Verfassungsschutz? Nein! Memorandum, Berlin.

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