Nach den Wahlen zum Europaparlament – Rechtsruck in der EU?
Vom 6. bis zum 9. Juni 2024 haben die Bürger*innen der EU die Abgeordneten für die zehnte Legislaturperiode des Europäischen Parlaments (EP) gewählt. Wie erwartet, kam es dabei zu einem signifikanten Rechtsruck; entgegen den Befürchtungen fiel dieser teilweise aber geringer aus als die Voraussagen aus der Meinungsforschung (Joannin 2024: 1).
In Deutschland konnte sich die AfD von elf auf 15 Prozent steigern; der Erfolg ist nicht zuletzt auch den Jungwähler*innen zuzuschreiben, die erstmals in Deutschland bereits ab 16 Jahren wahlberechtigt waren. Bei den Nachbarn sah es nicht viel besser, ja teilweise sogar dramatischer aus: In Frankreich gelang es dem Rassemblement National, sich mit nahezu 32 Prozent der Stimmen als stärkste Kraft im dortigen Parteienspektrum zu etablieren, sodass Staatspräsident Emmanuel Macron die Nerven verlor, kurzerhand die Nationalversammlung auflöste und Neuwahlen ansetzte (Joannin 2024: 1). In Italien konnten die Fratelli d’Italia gegenüber den nationalen Wahlen um vier Prozentpunkte auf nahezu 29 Prozent zulegen; gegenüber der vorherigen Europawahl steigerten sie ihren Anteil auf mehr als das Vierfache. In den Niederlanden kam die Rechtsaußen-Partei der Freiheit von Geert Wilders auf fast 18 Prozent. In Polen erreichte die PiS-Partei (Recht und Gerechtigkeit) fast das gleiche Ergebnis wie das Regierungsbündnis (36 zu 37 Prozent); außerdem erzielte eine Partei rechts der PiS zwölf Prozent.i In der Summe sind im neu gewählten EP rund 26 Prozent der Abgeordneten dem rechten und rechtsextremen Spektrum zuzurechnen; sie erreichen damit eine Stärke, die es bisher so noch nicht gab.ii
Betrachtet man die Ergebnisse im Einzelnen, gibt es aber auch kleinere Lichtblicke. In Schweden fielen die Schwedendemokraten um mehr als zwei auf 13 Prozent zurüc.kiii In Italien rückte der PD (Demokratische Partei) mit 24 Prozent in die Nähe der Fratelli d‘Italia. Zudem stürzte die rechtsgerichtete Lega von 34 auf nur noch 8,5 Prozent ab. In Ungarn fiel die Fidesz-Partei von Victor Orbán um sieben Prozentpunkte zurück, erreichte aber immer noch satte 45 Prozent.iv
Als ein gewisser Lichtblick, wenngleich mit Schatten, ist auch die Wahlbeteiligung zu werten, die sich 2024 – ebenso wie zuvor schon 2019 – bei knapp 51 Prozent stabilisieren konnte, während sie bei den Europawahlen von 2009 und 2014 mit 43 Prozent einen Tiefpunkt erreicht hatte. Problematisch ist dagegen, dass die Wahlbeteiligung zwischen den Mitgliedstaaten stark schwankt: Während Belgien mit 89 Prozent den Spitzenreiter bildet, liegt sie in Kroatien bei 21 Prozent. Deutschland bewegt sich mit 65 Prozent im oberen Mittelfeld.v Die notorisch geringe Wahlbeteiligung zum EP gilt gemeinhin als ein Indiz, dass es sich um second-order-Wahlen handelt, also um Wahlen von zweitrangiger Bedeutung. Diese Situation scheint sich aktuell zu verändern: Die EU-Thematik ist mittlerweile hoch politisiert, und entsprechend ist das Interesse an den Wahlen gewachsen. Allerdings geht es dabei meist nicht um die Frage, was genau von welchen Parteiengruppierungen im EP vertreten wird; vielmehr steht das Für und Wider der europäischen Integration im Vordergrund. Diese grundlegende Systemfrage ist zwar nicht neu: In früheren Jahren konnte die Wählerschaft aber kaum eine Partei finden, die sich gegen die EU positionierte. Durch das Auftreten der Rechtsparteien wurde die Systemfrage dagegen enorm befeuert, indem diese zu großen Teilen den Austritt aus der EU oder deren weitgehende Renationalisierung propagieren, was offensichtlich viele Wähler*innen anspricht. Wissenschaftler*innen konnten daher auch nachweisen, dass die zunehmende Politisierung der EU die rechten Parteien besonders begünstigt (Beaudonnet/Gomez 2024).
Wichtig für die Funktionsweise des EP ist die Frage, wie die strikt nach nationalen Wahlsystemen und Parteien zustande kommenden Wahlergebnisse auf der europäischen Ebene zur Bildung von Parteiengruppierungen und Fraktionen führen (Tömmel 2014: 164-67). Das ist ein schwieriges Unterfangen der Kompromiss- und Konsensfindung, denn das EP setzt sich aus weit über 100 nationalen Parteiendelegationen zusammen. Die Zusammensetzung der Fraktionen erweist sich als dementsprechend fragil, was unter anderem in häufigen Wechseln von Abgeordneten zwischen den Fraktionen während einer laufenden Legislaturperiode zum Ausdruck kommt. Allein aus Deutschland konnten in diesem Jahr 15 Parteien mindestens einen Sitz im EP gewinnen, denn das Bundesverfassungsgericht hatte 2011 in einem fragwürdigen Urteil die Fünf-Prozent-Hürde für die Europawahlen als verfassungswidrig erklärt und damit aufgehoben. Unter anderem führte es als Begründung an, die Aufgabenstellung des EP rechtfertige die Hürde nicht, denn es habe ja keine Regierung zu wählen oder zu unterstützen (BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 09.11.2011, 2 BvC 4/10)vi. Da Deutschland 96 Abgeordnete des europäischen Parlaments stellt, können Parteien bereits mit weniger als einem Prozent der Stimmen ein Mandat im EP erringen. Bei den diesjährigen Wahlen ist das acht deutschen Splitterparteien gelungen,vii womit die ohnehin schon große politische Fraktionierung des EP weiter verstärkt wird und diese Kleinstparteien zumeist als Fraktionslose keinerlei Einfluss ausüben können. Lediglich mit völlig verzerrten Darstellungen des EU-Systems schürt beispielsweise die PARTEI, die sich als Satire-Partei versteht, euroskeptische Stimmungen, auch wenn sie nicht als rechts zu bewerten ist.
Insgesamt umfasst das neu gewählte EP acht Fraktionen; fünf sind dem demokratischen, drei dem rechten und rechtsextremen Spektrum zuzurechnen. Hinzu kommen noch Fraktionslose, die „non-inscrits“ (vgl. Tabelle 1). Jede Fraktion zeichnet sich intern durch große Heterogenität aus. So ist die deutsche Christdemokratie nicht ohne weiteres mit französischen Republikanern oder der spanischen Volkspartei kompatibel, bilden aber mit vielen weiteren nationalen Delegationen eine Fraktion: die Europäische Volkspartei (EVP). Hinzu kommt, dass die EVP-Fraktion rechten Parteien großzügig die Mitgliedschaft ermöglicht hat, so beispielsweise Forza Italia, der Berlusconi-Partei, sowie Fidesz, der Partei von Ungarns Regierungschef Orbán, die allerdings die EVP 2021 verließ. Damit konnte sie sich dauerhaft als größte Fraktion des EP etablieren, allerdings nur um den Preis ihrer internen Inkohärenz. Ähnlich heterogen sieht es bei der Fraktion Progressive Allianz der Sozialdemokraten (S&D) sowie den Liberalen aus, die seit kurzem unter dem Namen Renew Europe (RE) firmieren. Zwei weitere, kleinere Fraktionen der Grünen (Grüne/EFA, Europäische Freie Allianz) sowie der Linken (VEL/NGL, Vereinigte Europäische Linke/Nordische Grüne Linke) sind etwas weniger, aber immer noch heterogen.
EVP | Europäische Volkspartei | 188 |
S&D | Progressive Allianz der Sozialdemokraten | 136 |
RE | Renew Europe | 77 |
Grüne/EFA | Grüne/Europäische Freie Allianz | 53 |
GUE/NGL | Vereinigte Europäische Linke/Nordische Grüne Linke | 46 |
PfE | Patrioten für Europa | 84 |
EKR | Europäische Konservative und Reformer | 78 |
ESN | Europa der souveränen Nationen | 25 |
NI | Non-inscrits, Fraktionslose | 33 |
Summe | 720 |
Tab. 1: Abgeordnete im EP nach Fraktionen.
Quelle: Offizielle Webseite des EP: https://www.results.elections.europa.eu/de/.
Im Vergleich zu den genannten fünf demokratischen Fraktionen des EP sind die rechten und rechtsextremen Gruppierungen wesentlich stärker fraktioniert und teilweise grundlegend zerstritten. Würden sie mit ihrem Anteil von insgesamt 187 Sitzen zusammengehen, könnten sie mit der derzeit stärksten Fraktion im EP, der EVP, gleichziehen (vgl. Tabelle 1). Traditionell formieren sie sich aber mindestens in zwei, faktisch zumeist drei Fraktionen, die zudem jeweils auch im Inneren sehr heterogen sind und sich fast nach jeder Wahl umbilden und häufig auch umbenennen. Das liegt einerseits an sehr unterschiedlichen politischen Positionen innerhalb des rechten und rechtsextremen Spektrums. Andererseits wollen sich diese Parteien auf der nationalen Ebene häufig als moderat präsentieren, weswegen sie die Nähe zu anderen, als radikaler wahrgenommenen Parteien meiden (McDonnell/Werner 2017).
Besorgniserregend ist zudem, dass es Orbán nach der letzten Parlamentswahl im Handumdrehen gelungen ist, eine neue Fraktion zu bilden, der sich in kürzester Zeit acht nationale rechte Parteiengruppierungen angeschlossen haben und die mit 84 Sitzen die bisher größte rechtsextreme Fraktion sowie die drittgrößte aller Fraktionen des EP darstellt (vgl. Tabelle 1). Zur Erinnerung: Die rechte Fidesz-Partei war bis 2021 Mitglied der EVP-Fraktion. Einem drohenden Ausschluss kam sie durch den Austritt zuvor; seitdem fungierten die Fidesz-Abgeordneten als fraktionslos, ein Status, der mit zahlreichen Einschränkungen der Parlamentsarbeit verbunden ist. Nach der Wahl 2024 gelang es ihnen, unter dem Namen Patrioten für Europa (PfE) mit inzwischen zwölf weiteren nationalen Parteiendelegationen, unter anderen dem Rassemblement National, eine starke Rechtsextreme im EP zu konstituieren. Neben der PfE ist auch die schon seit längerem bestehende Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) dem rechten Spektrum zuzurechnen, auch wenn sie sich selbst eher als konservativ sieht und entsprechend bezeichnet. Bei den letzten Wahlen konnte sie 78 Sitze erringen und somit den vierten Platz im EP vor den Liberalen belegen. Ihre Stärke beruht vor allem auf Abgeordneten der Fratelli d’Italia sowie der polnischen PiS. Allerdings ist sie mit insgesamt 27 nationalstaatlichen Parteien wesentlich stärker fraktioniert als die PfE. Eine weitere Fraktion hat sich unter dem Namen Europa der Souveränen Nationen (ESN) mit insgesamt 25 Sitzen gebildet. Ihren Kern stellen 15 AfD-Abgeordnete, allerdings ohne ihren Spitzenkandidaten Maximilian Krah, der zuvor auf Drängen von Marine LePen aus der Fraktion Identität und Demokratie (ID) wegen der Verharmlosung von Nazi-Verbrechen und anderer Skandale ausgeschlossen wurde. Da sich die meisten Parteiendelegationen der ID inzwischen der PfE-Fraktion angeschlossen haben, hat sich die ID aufgelöst. 33 Abgeordnete sind derzeit als Fraktionslose übriggeblieben; dazu gehören Krah, aber auch die sechs Abgeordneten des Bündnisses Sarah Wagenknecht (BSW). Zwar bemüht sich Wagenknecht, eine eigene Fraktion ins Leben zu rufen, zuletzt mit zwei eher rechten Parteien aus Tschechien und der Slowakischen Republik, bisher jedoch ohne Erfolg. Denn die Hürden zur Bildung einer Fraktion sind hoch – mindestens 23 Mitglieder aus sieben Staaten sind erforderlich. Für das BSW mit seiner Mischung aus linken und eher rechten Positionen sind zudem die Schnittmengen mit anderen Parteiendelegationen sehr gering.
Fragt man, was die rechten und rechtsextremen Parteiengruppierungen zusammenhält und vor allem, was sie spaltet, dann ist es die Haltung zu Russland und speziell seinem Angriffskrieg gegenüber der Ukraine, an der sich die Geister scheiden (Becker/von Ondarza 2024a; 2024b). Während die EKR bisher größtenteils Giorgia Melonis Linie folgt und mit starker Unterstützung von Polens PiS-Partei die Russlandpolitik der EU mitträgt, sind die Mitglieder der PfE zumeist explizite Unterstützer*innen der russischen Positionen. Dies gilt noch mehr für die ESN-Fraktion. Einig sind sich dagegen alle rechten Fraktionen in ihrer Ablehnung von Geflüchteten und Migrant*innen und der Befürwortung einer entsprechend harten Abschottungspolitik der EU, in der Ablehnung der Europäischen Union beziehungsweise der Forderung nach deren Renationalisierung sowie in der Leugnung des Klimawandels und infolgedessen der Bekämpfung des European Green Deals, dem Kernprojekt der Europäischen Kommission seit dem Amtsantritt von Ursula von der Leyen (CDU) als deren Präsidentin.
Grundsätzlich könnte man meinen, dass ein 26-Prozent-Anteil der rechten und rechtsextremen Parteien im EP kein Beinbruch sei; die übrigen Fraktionen bildeten ja in jedem Falle noch eine satte Mehrheit. Eine solche Einschätzung blendet allerdings die besondere Funktionsweise des EP aus. Denn diesem Parlament steht keine Regierung gegenüber, und dementsprechend gliedert es sich auch nicht in Mehrheitsparteien, die die Vorlagen der Exekutive unterstützen, und Oppositionsparteien, die eine kritische Gegenposition einnehmen und diese möglichst öffentlichkeitswirksam vertreten. Seine gesetzgebenden Funktionen übt das EP in der Regel in Zusammenarbeit mit und auch im Gegensatz zum Rat und der Kommission aus. Während die Kommission die Gesetzestexte erarbeitet und vorlegt, haben Rat und EP darüber zu entscheiden. Beide Seiten müssen also jeweils einer entsprechenden Vorlage zustimmen, können sie aber auch abändern oder durch ein Veto gänzlich zu Fall bringen (Tömmel 2014: 125-131). Das beinhaltet komplizierte Kompromissbildungsprozesse sowohl innerhalb von Rat und EP als auch zwischen ihnen und letztlich auch mit der Kommission, die das Recht hat, einen Gesetzesvorschlag gänzlich zurückzuziehen, wenn die Entscheidungsorgane ihn zu weitgehend verändern oder gar verwässern. In vielen Fällen benötigt das Parlament für seine Zustimmung oder auch ein Veto eine absolute Mehrheit seiner Abgeordneten, das sind derzeit 361 Stimmen. Traditionell war diese Mehrheit durch ein Zusammengehen von EVP und S&D gegeben, da die beiden Fraktionen über mehr als die nötige Anzahl der Sitze verfügten. Häufig stimmten dann aber auch noch Liberale und Grüne zu, sodass es zu breiten Mehrheiten kam und damit zu einer gestärkten Legitimation der entsprechenden Beschlüsse. Das wiederum beinhaltet, dass solche breit unterstützte Positionen des Parlaments im Rat mehr Gewicht hatten und insofern Kompromisse näher an den Präferenzen des EP erzielt werden konnten. Es versteht sich, dass das Zustandekommen solcher Mehrheiten aber auch Kompromisse im Inneren zwischen den Fraktionen erforderlich machte. Seit der Wahl von 2019 verfügen die beiden großen Fraktionen nicht mehr über genügend Sitze für eine absolute Mehrheit, sondern sind mindestens auf eine weitere Fraktion angewiesen. Diese Situation hat sich durch die Wahlen von 2024 verschärft, indem Konservative, Sozialdemokraten und Liberale mit insgesamt 401 Sitzen die absolute Mehrheit nur geringfügig übersteigen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es im EP keinen Fraktionszwang gibt – angesichts des Fehlens einer Regierung wäre ein solcher auch nicht durchsetzbar –, sodass bei Abstimmungen immer mit Abweichler*innen zu rechnen ist. Um sicher zu gehen, dass man die nötige Mehrheit erreicht, müssen also zusätzliche Fraktionen gewonnen werden. Das erfordert komplizierte Kompromisse und beinhaltet, dass die kleineren Fraktionen links der Mitte eine größere Verhandlungsmacht bei der Erarbeitung einer gemeinsamen Position haben. Umgekehrt bedeutet dies, dass die EVP-Fraktion versucht sein könnte, die vielbeschworene Brandmauer nach rechts zu durchlöchern oder gar einzureißen, um so einen Kompromiss zu erzielen, der näher an ihren Präferenzen liegt.
Einen Vorgeschmack auf ein solches Szenario gab es bereits im Februar 2024, noch unter der vorherigen Legislaturperiode. Die von der Leyen-Kommission hatte als Teil ihres Green Deals ein ehrgeiziges Gesetz vorgelegt, die „Verordnung über die Wiederherstellung der Natur“, kurz Renaturierungsgesetz genannt (Verordnung (EU) 2024/1991; Pollek/Lenschow 2024). Trotz längerer Verhandlungen im EP und einer starken Verwässerung der ursprünglichen Gesetzesvorlage konnte die Frontstellung unter den Abgeordneten nicht beseitigt werden. Unter dem Eindruck der Bauernproteste wollte die EVP-Fraktion und insbesondere ihr Vorsitzender Manfred Weber (CSU) das Gesetz grundsätzlich verhindern. Insider vermuteten sogar, dass es Weber dabei auch um die Gewinnung der neu gebildeten niederländischen Partei Bauer.Bürger.Bewegung (BBB) für seine Fraktion ging, ein Kalkül, das nach der Wahl 2024 aufging. Die EVP-Fraktion kalkulierte aber auch den Schulterschluss mit den rechten Fraktionen ein, denn diese wollten als Klimawandel-Leugner das Gesetz ebenfalls zu Fall bringen. Nur weil ein Teil der Abgeordneten der EVP nicht mit ihrer Fraktion stimmte, konnte das Renaturierungsgesetz am 27. Februar 2024 mit knapper Mehrheit vom Parlament angenommen werden.viii Leider hat es vor kurzem einen neuen und dieses Mal erfolgreichen Fall einer gemeinsamen Abstimmung von EVP und den drei rechten Fraktionen gegeben. Wieder ging es um ein Gesetz im Rahmen des Green Deals: das sogenannte Waldschutzgesetz. Das Gesetz war bereits 2023 von Rat und EP angenommen worden; lediglich sein Inkrafttreten sollte um ein Jahr verschoben werden. Die EVP setzte jedoch darüber hinaus eine erhebliche Abschwächung des Gesetzes durch; zusammen mit den rechten Fraktionen und den fünf FDP-Abgeordneten im EP erzielte sie dafür eine knappe Mehrheit (Schulz 2024: 4).
Dieser Fall, bei dem sich Konservative und Rechte gegen die Mitte-Links-Parteien positionierten, deutet an, dass es mit der starken Rolle des EP gegenüber Kommission und Rat, die auf breiten Mehrheiten von Fraktionen um die politische Mitte getragen wurde, bald ein Ende haben könnte. Stattdessen könnte sich zunehmend eine Rechts-Links-Polarisierung herausbilden, die, anders als solche bisherigen Polarisierungen auf der nationalen Ebene, auf der konservativen Seite die extreme Rechte einschließen könnte. Das würde auch bedeuten, dass Themen wie Umweltschutz, Menschenrechte oder Rechtsstaatlichkeit, bei denen das EP traditionell als Vorreiter im europäischen Kontext fungierte, bald nicht mehr progressiv vertreten werden könnten. Denn gerade auch die Abgeordneten der EVP-Fraktion hatten bisher mehrheitlich solche Werte unterstützt.
Noch ist es allerdings nicht so weit. Während Liberale, Sozialdemokraten sowie die Grünen explizit gegen jegliche Zusammenarbeit mit den Rechtsfraktionen Stellung bezogen haben, meint die EVP, man könne doch zumindest fallweise und unter bestimmten Bedingungen mit der EKR zusammenarbeiten. Als Kriterien für eine solche Zusammenarbeit führte sie drei an: „pro EU, pro Ukraine, pro Rechtsstaatlichkeit“ (Becker/von Ondarza 2024b: 2). Diese Einstellung stützt sich im Wesentlichen auf die Haltung der Fratelli d’Italia und ihrer Chefin Meloni, die in Europa-Fragen die meisten Aktivitäten der Mehrheit mitträgt, insbesondere die Russland- und Ukraine-Politik. Dabei wird ausgeblendet, dass Meloni in der EU eine harte Migrationspolitik einfordert und auf der nationalen Ebene den Abbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit konsequent vorantreibt. Ebenso wird ausgeblendet, dass die EKR nicht nur von Meloni getragen wird, sondern auch von zahlreichen kleineren Rechtsparteien, die in Europafragen durchaus extremere Standpunkte vertreten. Dennoch wurde die EKR nach den jüngsten Wahlen vom EP mit zwei Vizepräsidenten-Positionen sowie drei Ausschussvorsitzenden aus ihren Reihen belohnt, während die beiden anderen rechten Fraktionen (bisher noch) von solchen Ämtern ausgeschlossen sind (Becker/von Ondarza 2024b: 6).
Die Stärke des EP hängt aber nicht nur von seiner eigenen Zusammensetzung ab, sondern auch von jener der übrigen europäischen Organe: der Kommission, dem Rat und dem Europäischen Rat (Becker/von Ondarza 2024b: 8). Insbesondere in Letzterem haben sich die Gewichte seit einer Reihe von nationalen Wahlen verschoben: So sind von 27 Regierungschefs drei eindeutig dem rechten Spektrum zuzuordnen (die Staats- oder Ministerpräsident*innen von Ungarn, Italien und den Niederlanden); an weiteren vertretenen Regierungen sind rechte Parteien maßgeblich beteiligt. Deren Zahl könnte sich weiter erhöhen, wenn man auch bevorstehende nationalstaatliche Wahlen in den Blick nimmt. Entsprechend sind auch die Ministerräte besetzt. Angesichts dieser Situation wäre die Vertretung von Mitte-Links-Positionen, selbst wenn sie im EP mehrheitlich zustande kämen, vergleichsweise wirkungslos, denn die Räte haben in den meisten Fragen nach wie vor die Oberhand, und oft ist das EP zu Kompromissen mit ihnen gezwungen, wenn es überhaupt zu einer Gesetzgebung kommen soll.
Hinzu kommt, dass auch die Kommission in gewissem Maße in die rechte Richtung rückt. Das liegt nicht nur daran, dass konservative und rechtsgerichtete Regierungen entsprechende Kommissar*innen in das Kommissionskollegium entsenden, die das Gremium entsprechend nach ihren Vorstellungen beeinflussen oder sogar dominieren können. Auch Kommissionspräsidentin von der Leyen rückt in ihren Positionen tendenziell von denen ihrer ersten Amtszeit ab. Standen bei ihr bisher Problemlösung und Pragmatismus im Vordergrund, während sie Parteipositionen, vor allem die ihrer Herkunftspartei, kaum als handlungsleitend einnahm (Müller/Tömmel 2022), so vertritt sie nunmehr des Öfteren konservative Haltungen oder kommt ihnen entgegen. Dies wird besonders in der Migrations- und Flüchtlingspolitik deutlich, bei der sie eine härtere Linie vertritt und auch den Schulterschluss mit Meloni nicht scheut. Von der Leyen hat den Willen zur Zusammenarbeit mit Meloni auch indirekt bekräftigt, indem sie dem designierten italienischen Kommissar Fitto ein einflussreiches Portfolio sowie die Position eines Exekutivvizepräsidenten der Kommission zugedacht hat (Becker/von Ondarza 2024b: 6).ix Gegen Orbán als Ratspräsidenten im zweiten Halbjahr 2024 geht sie allerdings strikt mit Boykottmaßnahmen vor. Aber auch das Kernstück ihrer ersten Amtsperiode, den European Green Deal, schwächt sie unter erheblichem politischen Druck tendenziell ab. Ob solche Schritte taktischen Kalkülen oder Überzeugungen geschuldet sind, ist unklar. Ob es so gelingen kann, gemäßigtere Rechte einzubinden, oder umgekehrt, die demokratischen Mitte-Rechts-Parteien ins Autoritäre abdriften – etwa in der Migrations- und Flüchtlingspolitik –, bleibt abzuwarten.
Fest steht jedenfalls, dass es für das EP in Zukunft immer schwieriger werden wird, seine bisherige Rolle eines „Gewissens Europas“ weiterhin auszuüben. Denn die scheinbare Schwäche des EP, dass es keiner Regierung gegenübersteht und somit auch bisher intern nicht deutlich polarisiert war, bildete in der Vergangenheit immer seine Stärke (Tömmel 2014: 285-288). Nur so konnte es gegenüber der Kommission, dem Rat und in gewissen Fragen sogar dem Europäischen Rat eine starke Position einnehmen und daher viele Dinge zu Gunsten der Bürger*innen Europas wenden oder sogar durchsetzen. Konkrete Beispiele sind etwa häufige Verschärfungen umweltpolitischer Maßnahmen, Eintreten für die Einhaltung von Menschenrechten in den internationalen Beziehungen, Stärkung der sozialen Dimension innerhalb der EU sowie zuletzt die konsequentere Durchsetzung des Rechtsstaatsprinzips gegenüber der ungarischen Regierung, einschließlich der Zurückhaltung von Fördermitteln. Auf diese Weise konnte es als echte Volksvertretung agieren, indem es die gemeinsamen Interessen der Bürger*innen Europas in die europäischen Entscheidungsprozesse einfließen ließ. Denn die Abgeordneten des EP sind nur ihrem eigenen Gewissen verpflichtet – ein Prinzip, das auch für nationale Parlamente gilt, aber aufgrund der parteipolitischen Polarisierung und dementsprechend dem Fraktionszwang dort nur selten zum Tragen kommt – und deshalb können sie wesentlich freier als Abgeordnete in den Mitgliedstaaten für das Gemeinwohl der europäischen Bürger*innen eintreten. Eine erstarkte Rechte im EP wird dieses Gemeinwohl demgegenüber völlig anders definieren.
Abschließend stellt sich die Frage, was man angesichts der Lage tun könnte. Die Liste der bisherigen Versäumnisse der demokratischen Parteien ist lang, auch wenn hier einzuräumen ist, dass die politischen Problemlagen hoch komplex sind und die Politik sie nicht so einfach lösen kann. Trotzdem sollen ein paar Kernpunkte hier genannt werden. Erstens, es reicht nicht aus, eine Brandmauer gegenüber rechten Parteien und Fraktionen hoch zu ziehen. Es muss endlich eine explizite inhaltliche Auseinandersetzung mit diesen Parteien und ihren teilweise abstrusen Positionen stattfinden, um zu verdeutlichen, dass diese nicht das Gemeinwohl der Bürger*innen vertreten und schon gar nicht die Rechte sogenannter kleiner Leute. Das müsste zweitens begleitet werden von einer verbesserten Kommunikation über die Vorhaben, Maßnahmen und Entscheidungen der Europäischen Union, auch und besonders ob und inwieweit sie dem Wohl der Bürger*innen zugutekommen. Zum Dritten wäre es wichtig, die breite Öffentlichkeit besser über die Besonderheiten des politischen Systems der EU zu informieren: dass die Kommission keineswegs eine nichtgewählte Regierung ist, sondern lediglich die Institution, die die Gesetzesvorlagen und teilweise auch weitere Integrationsschritte vorschlägt, jedoch nicht über sie entscheiden kann; dass die entscheidungsbefugten Organe, einerseits Europäischer Rat und Ministerräte als Vertretungen der nationalen Regierungen, andererseits das EP als Vertretung der Völker Europas sehr wohl demokratisch legitimiert sind, erstere als indirekt gewählte Staatenvertretungen, letzteres als direkt gewählte Volksvertretung. Damit könnte den Märchen und falschen Behauptungen vom undemokratischen EU-System oder dem autoritären Superstaat, die neuerdings ausgerechnet die rechten Parteien verbreiten, aktiv entgegengetreten werden. Viertens wäre auch zu verdeutlichen, dass langwierige Entscheidungsprozesse und Kompromisse nicht Zeichen von Schwäche sind, sondern Notwendigkeiten in einem politischen System, das gemeinsames Handeln von 27 Mitgliedstaaten mit sehr unterschiedlichen ökonomischen, politischen und sozialen Strukturen und Traditionen möglich macht. Fünftens wäre aber auch zu verdeutlichen, dass es Grenzen der Handlungsfähigkeit der EU gibt, dass es zu dysfunktionalen Beschlüssen oder zu Nicht-Entscheidungen kommen kann, und dass selbstverständlich auch gewisse demokratische Defizite im System bestehen. Es versteht sich, dass die Bearbeitung all dieser Themenbereiche nicht alleine von der Politik geleistet werden kann; vielmehr sind dazu auch die Medien, die Institutionen der politischen Bildung sowie die Zivilgesellschaften der Mitgliedstaaten gefragt.
Zugegeben, diese Liste von Punkten ist sehr lang und nur sehr schwer in der politischen Praxis zu realisieren; aber man wird nicht um sie herumkommen, wenn man die Demokratien der Mitgliedstaaten und auch das in der Welt einmalige Gebilde der Europäischen Union bewahren will. Denn die EU hat sich in mehr als 70 Jahren Integration keineswegs zu einem Superstaat entwickelt; vielmehr bietet sie eine Arena, um die Konflikte und Friktionen zwischen den beteiligten Staaten und ihren Bürger*innen auf friedlichem Wege auszutarieren und so gemeinsames Handeln zu ermöglichen. Dabei ist zu betonen, dass bei weitem nicht alles perfekt ist in der Union; aber ohne sie stünden die Staaten und auch die Bürger*innen Europas wesentlich schlechter da.
Prof. Dr. Ingeborg Tömmel, Dr. rer. pol., habil., ist emeritierte Professorin für Internationale und Europäische Politik der Universität Osnabrück. Wichtigste Buchveröffentlichungen: Das politische System der EU, 4. Aufl. 2014; Women and Leadership in the European Union (zus. mit Henriette Müller), 2022. Sie arbeitet zu Systemfragen, Politikgestaltung und Leadership der EU.
Literatur
Becker, Max/Ondarza, Nicolai von 2024a: Geostrategie von Rechtsaußen: Wie sich EU-Gegner und Rechtsaußenparteien außen- und sicherheitspolitisch positionieren (= SWP-Aktuell, H. 8, März 2024).
Becker, Max/Ondarza, Nicolai von 2024b: Begrenzte rechte Neuordnung im Europäischen Parlament. Die Rekonfiguration der Rechtsaußenfraktionen im EU-Parlament nach den Wahlen 2024 und ihre Auswirkungen (SWP-Aktuell, H. 46, September 2024).
Beaudonnet, Lauri/Gomez, Raul 2024: The imbalanced effect of politicization: How EU politicization favours Eurosceptic parties, in: European Union Politics, Jg. 25, H.2, S. 354-375.
Joannin, Pascale 2024: A push to the right, but the out-going majority coalition is set to be re-elected (= Schuman Paper Nr. 792), https://www.robert-schuman.eu/en/european-issues/752-a-push-to-the-right-but-the-outgoing-majority-coalition-is-expected-to-be-renewed.
McDonnell, Duncan/Werner, Annika 2017: Respectable radicals: why some radical right parties in the European Parliament forsake policy congruence, in: Journal of European Public Policy, Jg. 25, H. 5, S. 747–763.
Müller, Henriette/Tömmel, Ingeborg 2022: Ursula von der Leyen as President of the European Commission, in Müller, Henriette/Tömmel, Ingeborg (Hrsg.): Women and Leadership in the European Union, Oxford, S. 311-330.
Pollex, Jan/Lenschow, Andrea 2024: When talk meets actions – return to commission leadership in EU environmental policy-making with the European Green Deal, in: Journal of European Public Policy, DOI: 10.1080/13501763.2024.2402866.
Schulz, Sven Christian 2024: Die Brüsseler Brandmauer bröckelt, in: Frankfurter Rundschau von 16./17.11.2024, S. 4.
Tömmel, Ingeborg 2014: Das politische System der EU, 4. überarbeitete und erweiterte Auflage, München.
Anmerkungen
i Alle Zahlen zu den Nachbarländern von der offiziellen Webseite des EP: https://www.europawahl-bw.de/europawahl-2024-ergebnisse-laender#c112634.
ii Alle Zahlen von der offiziellen Webseite des EP: https://www.europawahl-bw.de/europawahl-2024-ergebnis.
iii Offizielle Webseite des EP: https://results.elections.europa.eu/de/nationale-ergebnisse/schweden/2024-2029/.
iv Zahlen siehe Endnote 1 und https://www.europawahl-bw.de/europawahl-2024-ergebnisse-laender#c112634.
v Alle Zahlen von offizieller Webseite des EP: https://results.elections.europa.eu/de/wahlbeteiligung/.
viii Siehe Webseite Abgeordnetenwatch: https://www.abgeordnetenwatch.de/eu/9/abstimmungen/gesetz-zur-wiederherstellung-der-natur-finale-abstimmung.