Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 247/248: Zukunft der Bildung

Editorial

In Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser befindet sich der Protagonist im Gespräch mit seinem Vater über Freiheit und Würde des Menschen als Subjekt, über die Empörung des Kindes, angesichts der Vormachtstellung der Erwachsenen, die meinten, besser zu wissen, was für das Kind gut sei. Der Vater argumentiert zugunsten von Freiheit und Würde des Menschen: Es gäbe keine Rechtfertigung dafür, was andere Menschen für gut halten, über das zu stellen, was ein Mensch für sich selbst als richtig erachtet. Er kommt zu dem Schluss, die Philosophie kümmere sich nicht um die Kinder, sie habe die Kinder vergessen. Stattdessen überließ die Philosophie die Kinder der Pädagogik, wo sie schlecht aufgehoben seien.

Der hier benannte Widerspruch ist jeder Generation aufs Neue vertraut. Die nachfolgenden Generationen müssen sich die Gegenstände aneignen, mittels derer sie am Leben teilhaben, um die Lebensgrundlagen abzusichern und ihre Freiheitsrechte zu nutzen. Dabei geht es um das Einüben in den Gebrauch der Werkzeuge und in die sozialen Fähigkeiten, die dazu notwendig sind, sie zu nutzen.

Jede Entwicklung der Werkzeuge, jegliche Differenzierung gesellschaftlicher Komplexität stellt je höhere Ansprüche an den Dialog zwischen den Generationen und zwischen Lehrenden und Lernenden. Inzwischen sind diese Prozesse weitgehend institutionalisiert und weit entfernt von der konkret sinnlichen Ebene der Vermittlung des Gegenstandes.

Dem entsprechend wachsen die Probleme institutionalisierter Erziehungs- und Bildungsprozesse. Sie bilden die gesellschaftlichen Verwerfungen recht präzise ab: Armut, Ghettoisierung, gesellschaftlicher Ausschluss, soziale Ungleichheit, Rassismus, Entfremdung und anderes mehr. Und doch ist die Schule für Kinder ein Ort des Lernens, der Begegnung und des Miteinanders, das engagierte Lehrkräfte und Sozialarbeiter*innen unter schwierigen Bedingungen zu ermöglichen versuchen.

In der optimistischen Aufbruchphase der 1960er und 1970er Jahre waren Bildung und Erziehung prominente Themen. Auch die Humanistische Union nahm sich ihrer an. In den folgenden Jahren schwand jedoch das Interesse und schuf günstige Restaurationsbedingungen: Der Bildungsbegriff war in der Bundesrepublik zunehmend dem Verdacht des Elitären ausgesetzt, galt als bildungsbürgerlich und anachronistisch. Die Versuche der Reformation des westdeutschen Bildungswesens zugunsten eines integrativen Schulsystems, das in einer Schule für alle Kinder allen Kindern gemeinsame Möglichkeiten einräumen sollte, scheiterte weitgehend, nicht zuletzt an der antikommunistischen Kritik an einer vermeintlichen „sozialistischen Einheitsschule“. Die vom Deutschen Bildungsrat zwischen 1966 und 1975 entworfene zukunftsweisende Bedarfs- und Entwicklungsplanung der deutschen Bildungslandschaft benötigte 50 Jahre, um nach harschen bildungspolitischen Auseinandersetzungen weitgehend im Sande zu verlaufen. Nach wie vor befindet sich Deutschland an der Spitze der Länder, in denen die soziale Herkunft eines Kindes seine Bildungserfolge beziehungsweise seine Misserfolge bestimmt. Das reicht über die Schulen bis in die Universitäten, wenn wir uns ansehen, wie sehr der Bildungsgrad der Eltern determiniert, ob man einen Hochschulabschluss oder gar eine Promotion erfolgreich abschließt. Dadurch wird das Recht auf Bildung, verbrieft durch Art. 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie Art. 13 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte – beide von Deutschland ratifiziert – vielseitig verletzt.

Parallel zu dieser Entwicklung vollzieht sich gegenwärtig ein Prozess des neoliberalen Umbaus des gesamten Bildungswesens. Personalmangel, Mängel der Ausstattung und die Häufung sozialer Probleme in öffentlichen Schulen bewirken einen Rückzug derer, die sich eine Privatschule leisten können. Das führt zu einer Tendenz der Privatisierung von Schulen und damit zur Herausbildung einer exklusiven Schullandschaft. Daneben besteht ein öffentliches Schulwesen, das weiterhin selektiv handelt und ständisch organisiert ist: Neben Grundschulen im Bereich der öffentlichen Schulen, gibt es in mehreren Bundesländern noch Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien. Daneben in einigen Bundesländern Oberschulen und Gymnasien, Gemeinschaftsschulen, Integrierte Gesamtschulen und Kooperative Gesamtschulen. Den Schulen gemeinsam ist ein eklatanter Personalmangel und ob dessen Unterrichtsausfälle – dies jedoch ebenso abhängig von der sozialen Lage der Kinder, die eine Schule besuchen: Der Personalmangel nimmt mit den sozialen Problemen einer Schule zu. Er ist es auch, der Rufe nach weniger qualifizierten pädagogischen Fachkräften laut werden lässt. Im Bereich der frühkindlichen Bildung ist dies bereits Praxis. Gleichzeitig nehmen wir an Hochschulen wahr, dass die finanzielle Ausstattung der Lehrstühle in besonderem Maße vom Wettbewerb um externe Drittmittel bestimmt ist und dabei die Lehre oft genug ins Hintertreffen gerät.

Die Abkehr vom Begriff der Bildung und die Favorisierung des Begriffes der Kompetenz, die in den Schulen und Ausbildungsstätten zu entwickeln sei, erschwerte es, eine möglichst universelle intellektuelle und körperliche Bildung und Ausbildung des Menschen zu realisieren. Eine derartig gestaltete Bildung muss philosophische und wissenschaftliche, mathematische und künstlerisch-ästhetische Bildungsinhalte, Sport, Gymnastik, Wettkämpfe, Rhetorik und natürlich die sittliche Erziehung umfassen, wie auch die Kenntnisse, die notwendig sind, um an der gesellschaftlichen Gestaltung aktiv teilzuhaben und diese auch zum Besseren zu verändern.

Daher wollen wir uns in diesem Doppelheft der vorgänge fragen, wie es um die Zukunft der Bildung in Deutschland bestellt ist. Dies gilt es einerseits empirisch zu tun, andererseits auch, was das normative Ideal der Bildung betrifft und wie sich diese menschenrechtlich konform und humanistisch (in einem modernen Sinne) entwickeln sollte – und teilweise auch schon könnte.

Wir beginnen den Heftschwerpunkt zur Zukunft der Bildung mit einem Block zu philosophischen und bildungstheoretischen Fragen, um nach geeigneten Konzepten für eine gute Zukunft der Bildung zu suchen. Den Anfang macht Wolfram Grams, der dafür argumentiert, die Konzepte Bildung und Erziehung wieder zusammenzudenken, um dem Prinzip der Inklusion im Menschenrecht auf Bildung gerecht zu werden. Daran anschließend plädiert Karl-Heinz Dammer dafür, den Bildungsbegriff nicht mehr als Gegensatz zum Kompetenzbegriff zu verstehen. Letzterer wird im öffentlichen Diskurs als Gegenteil des zur Muße befähigten Bildungsbürgertums verstanden. Doch diese Dichotomie ließe sich unter gewissen Bedingungen auflösen, da beide Begriffe zu einseitig seien. Georg Feuser wiederum meint in seinem Beitrag, dass es für eine gerechte Bildung gelte, die Pädagogik so zu transformieren, dass sie didaktisch einen Unterricht zu realisieren vermag, der eine Einheit von Mensch und Welt als auch die humanistische Einheit von Individuellem und Sozialen konstituiert. Auch dazu bräuchte es eine weitgehende Inklusion im Bereich der Bildung.

In diesen Artikeln spielen auch immer wieder die Bildungsungleichheit und die Ökonomisierung von Bildung sowie Erziehung eine Rolle. Genauer beschäftigt sich das Doppelheft im folgenden Block mit dieser Beziehung. Marc Fabian Buck beobachtet in seinem Aufsatz die Durchsetzung einer Marktlogik im Feld der Bildung (von der Schule bis zur Universität), nach der diese zur Ware wird. Dies werde zur Triebfelder für soziale Ungleichheit und führe dazu, dass schließlich Bildung nicht mehr als öffentliches Gut (und Menschenrecht) begriffen wird. Martina Kübler berichtet, woher die Reproduktion von Bildungsungleichheit kommt, und gibt Einblick, auf welche Weise Organisationen wie ArbeiterKind.de darauf hinwirken, dass staatliche Institutionen und Hochschulen die Hürden im Bildungssystem reduzieren und dafür sorgen, dass Bildung künftig keine Frage der sozialen Herkunft mehr ist.

Wenn Bildung die soziale Ungleichheit nicht reproduzieren soll, so soll sie auch gleichzeitig zu politischer Gleichheit führen – im Sinne einer demokratischen Erziehung, aber auch der Mitbestimmung in der Schule. Darum geht es im anschließenden Themenblock. Dabei beleuchtet Ulrich Schneider, was eine antifaschistische Erziehung ausmacht, indem er die jahrzehntelangen Debatten um das Thema in der Bundesrepublik rekonstruiert. Gemeint ist damit mehr als nur die historische Aufarbeitung des deutschen Faschismus, sondern eine Erziehung zu einer demokratischen Grundhaltung. Reinhard Stähling wiederum diskutiert, wie Schüler*innen ihr Recht auf Widerstand an Schulen gegen Diskriminierung und Grundrechtsverletzungen (etwa gegen migrantische Mitschüler*innen) gewaltlos praktizieren können. Bernd Overwien fragt, wie Bildung – trotz immer noch unzureichender Strukturen – jungen Menschen Kompetenzen zur Bewältigung einer unsicheren Zukunft mit auf dem Weg geben kann: mit einer Bildung für nachhaltige Entwicklung im demokratischen Sinne. In seinem Beitrag analysiert Werner Sacher, wie es rechtlich um Eltern- und Schülervertretungen in den Bundesländern bestellt ist, aber zeigt auch die Schwächen in der Wirklichkeit auf. Die Schwächen ließen sich nur mit einem Bündel an Maßnahmen, wie Elternbildungs-, Qualifizierungs- und Fortbildungsangebote für Elternvertreter*innen beseitigen. Ernst Fricke geht in seiner Kritik an der mangelnden Mitbestimmung von Eltern in Bayern weiter und hält Elternbeiräte in Bayern für ein rechtliches Nullum. Dies müsse geändert werden. Er rekonstruiert, ausgehend von den 1970er Jahren Gerichtsentscheidungen, die für das bayerische Schulrecht in Fragen der Mitbestimmung relevant sind.

Im daran anschließenden Block zu weiteren grundrechtlichen und pädagogischen Problemen der Bildung legt Ernst Fricke mit David Häring nach: Insbesondere die Anforderungen an nichtdiskriminierende und inklusive Bildungssysteme werden noch nicht überall erfüllt. Das hat insbesondere die Corona-Pandemie verdeutlicht. In ihren Beitrag argumentieren Fricke und Häring daher, dass die Verwirklichung des Rechts auf Bildung nicht nur eine rechtliche Verpflichtung, sondern auch eine gesellschaftliche Chance ist. Abgerundet wird der Schwerpunkt durch einen Aufsatz von Ralf Lankau: Der Anspruch an einen umfassenden Bildungsbegriff und -prozess werde auch durch den Siegeszug neuer Informationstechnologien in den Schulen bedroht. So könnte das Prinzip des Dialogs zwischen Lehrenden und Lernenden – die lebendige Beziehung – ersetzt werden durch die Kommunikation mit dem Automaten. Lankau vertritt dagegen eine „pädagogische Wende“.

Daneben bietet die vorliegende vorgänge-Ausgabe wieder Beiträge, die sich abseits des Schwerpunktes mit aktuellen bürgerrechtlichen Fragen befassen. Rosemarie Will und Philip Dingeldey sprechen im Interview mit dem Soziologen Steffen Mau über dessen neues Buch Ungleich vereint. Dies wird ergänzt um eine Analyse der drei Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen im Jahr 2024: Dieter Segert beleuchtet, welche Konsequenzen die Wahlerfolge der AfD für Demokratie haben und wie andere Parteien Wähler*innen zurückgewinnen könnten. Till Müller-Heidelberg analysiert die Rechtsprechung im Streit zwischen AfD und dem „Verfassungsschutz“ sowie die Argumentation der Verfassungsschutzbehörden zum Volksbegriff der AfD, dem Extremismusbegriff und der Delegitimierung des Staates durch die AfD. Um den „Verfassungsschutz“ geht es auch im Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Konstantin von Notz, der Vorsitzender im parlamentarischen Kontrollgremium zur Kontrolle von Nachrichtendiensten ist. Hartmut Aden und Philip Dingeldey haben mit ihm über die neue Bedeutung von Nachrichtendiensten und deren Kontrolle gesprochen. Lisa Borelli untersucht die aktuelle Abschiebedebatten und politische Aushandlungsprozesse in Europa und der EU. Zwei weitere Beiträge beschäftigen sich mit den Wahlen des Europäischen Parlaments 2024: Ingeborg Tömmel analysiert die Wahlen und die Fraktionsbildung. Sie vermutet, dass sich eine Rechts-Links-Polarisierung herausbildet, die auf der konservativen Seite die extreme Rechte einschließen könnte. Birgit Sauer betrachtet den Rechtsruck im Europaparlament im Kontext des Neoliberalismus und der materiellen Krise der neoliberalen Akkumulationsweise, welche zur Krise der bürgerlich-patriarchalen kapitalistischen Hegemonie und der politischen Autorität führt.

Zudem finden Sie in dieser Ausgabe auch Rezensionen: zum Dokumentarfilm War and Justice und Daniel Loicks Buch Die Überlegenheit der Unterlegenen. Die Redaktion wünscht Ihnen eine anregende Lektüre dieses Doppelheftes und freut sich stets auf Feedback.

Wolfram Grams und Philip Dingeldey

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