
Der Osten ist anders als der Westen und bleibt es auch noch lange: Ein Interview mit Steffen Mau zu seinem neuen Buch "Ungleich vereint"
ROSEMARIE WILL [RW] Was will Ihr neues Buch Ungleich vereint sein, und was soll es bewirken?
STEFFEN MAU [SM] Im Hinblick auf eine gesellschaftliche Wirkung des Buches bin ich eher zurückhaltend. Es wäre anmaßend zu glauben, dass die Welt sich wegen meines Buches grundsätzlich anders organisiert. Ich möchte damit allenfalls Teil einer Debatte sein, in der es kreuz und quer geht und in der es viele Widersprüche und Deutungskämpfe gibt. Da möchte ich mit meiner soziologischen Kompetenz zeigen, warum es so schwierig ist, dass sich zwei Gesellschaften miteinander verbinden und warum die Ausgangsthese der deutschen Wiedervereinigung, dass sich die Unterschiede im Laufe der Zeit auspendeln werden, eine falsche Erwartung gewesen ist. Stattdessen können wir jetzt eine Aushärtung oder Sedimentierung von Unterschieden beobachten.
[RW] Ich finde es jedoch schade, dass die Thematik der Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland aus Ihrem Buch Triggerpunktei ausgeklammert ist. Bewirkt dieses Ausklammern nicht, dass diese Konfliktlinie aus dem Fokus der bundesdeutschen Gesellschaft verschwindet?
[SM] Das Thema passt in die Systematik der Triggerpunkte nicht sonderlich gut. In den Triggerpunkten werden generische Konflikte behandelt. Solche Konflikte haben einen dauerhaften und verallgemeinerbaren Charakter und finden in anderen Gesellschaften ähnlich statt. Beim Konflikt zwischen Ost- und Westdeutschland reden wir aber über einen deutschen Sonderfall. Außerdem ist die Prägewirkung dieses Konflikts für die deutsche Gesellschaft geringer als man denken würde. Wenn man Menschen in Deutschland befragt, wie groß die Konflikte zwischen Ost und West sind, dann landet dieser soziale Konflikt im Vergleich zu anderen auf Platz fünf oder sechs. Als viel bedeutsamer gelten den Menschen die Konflikte, die wir in den Triggerpunkten behandeln, wie Migration, soziale Ungleichheit oder Klima. Deswegen habe ich das Thema Ostdeutschland auch ausgegliedert. Ein weiterer Punkt ist auch, dass die Triggerpunkte schon 550 Seiten lang sind, und der Verlag war nicht davon begeistert, hier noch 100 Seiten ergänzen zu lassen.
[RW] Was sind die sozialstrukturellen und demographischen Besonderheiten Ostdeutschlands?
[SM] Ostdeutschland ist aus meiner Perspektive nach wie vor ein Land der kleinen Leute. Im Gegensatz dazu ist die Bundesrepublik eine mittelschichtsdominierte Gesellschaft, die auch ethnisch und kulturell viel pluraler ist als die Gesellschaft Ostdeutschlands. Was die sozialstrukturelle Verfasstheit angeht, sind die Ostdeutschen stärker auf unteren beruflichen Positionen, sie haben kleinere Einkommen und geringere Wohlstandspolster. Es gibt ein anhaltendes Elitendefizit in Ostdeutschland. Manchmal sieht man die Unterschiede nicht besonders gut, weil in Ostdeutschland auch 20 Prozent leben, die aus dem Westen herübergekommen sind, und umgedreht acht Prozent der Leute aus dem Osten in den Westen gegangen sind. Die Ostdeutschen, die in den Westen gegangen sind, sind häufig nachgeordenten beruflichen Positionen, und die Westdeutschen, die in den Osten gekommen sind, nehmen die oberen Positionen ein. Auch die innerdeutsche Vermögensungleichheit kann man gar nicht so ohne Weiteres vergleichen. Die reichsten Ostdeutschen kommen ursprünglich aus Westdeutschland.
[RW] Ist es das, was Sie auch als Überschichtung und Unterschichtung bezeichnen?ii
[SM] Ja, in der Tat. Das hat aber nicht allein mit dem Prozess der Wiedervereinigung zu tun, sondern es hat schon vor dem Mauerbau Abwanderung von Unternehmerfamilien und Angehörigen des Bildungs- oder Wirtschaftsbürgertums gegeben und später der qualifizierten Intelligenz der DDR und nach der Wiedervereinigung eine Abwanderung derer, die relativ gut qualifiziert waren, die offen und flexibel gewesen sind. Es gab also immer einen selektiven Abstrom von bestimmten Berufs- und Bevölkerungsgruppen und ein Verbleiben von Leuten, die tendenziell etwas niedriger im Schichtungsgefüge angesiedelt sind. Durch die Wanderungsbewegungen nach 1989 ist dann noch einmal eine andere Facette dazugekommen.
[RW] Und was ist mit der Demographie?
[SM] Auch bei der Demographie gibt es einen fundamentalen Unterschied. Westdeutschland ist eine Wachstumsgesellschaft. Wenn Sie das mit den Zahlen von 1920 vergleichen, dann hat Westdeutschland um 60 Prozent an Bevölkerung gewonnen. Ostdeutschland ist hingegen geschrumpft und hat nunmehr ungefähr die Bevölkerungszahl von 1905. Zudem hat sich Ostdeutschland in den vergangenen Jahren dezimiert – durch die Abwanderung von vielen Leuten und den Geburteneinbruch von 1989 bis 1992/93 mit über 50 Prozent weniger Geburten. Das ist eine Delle, die sich fortsetzt, weil die damals Geborenen jetzt im Elternalter sind und auch insgesamt weniger Kinder bekommen. Außerdem ist noch immer – das wird sich auch in absehbarer Zukunft nicht ändern – die Zahl der Sterbenden in Ostdeutschland deutlicher höher als die Zahl der Neugeborenen. Selbst wenn wir also keine substanzielle Abwanderung aus Ostdeutschland hätten, würde die Bevölkerungszahl trotzdem weiter sinken. Wenn man außerhalb der ostdeutschen Universitätsstädte, wie Leipzig, Jena oder Rostock, die Zuzug haben, schaut, dann sieht man einen Bevölkerungsrückgang von 30 bis 40 Prozent seit 1990. Das ist ein dramatisches Schrumpfen und führt zugleich zu einer Überalterung der ostdeutschen Gesellschaft. Und es gibt in vielen Landkreisen eine starke Maskulinisierung der Demographie, also einen Männerüberhang. Da ist nicht bezogen auf die gesamte Bevölkerung, weil Frauen in der Regel länger leben und daher in den höheren Jahrgängen in der Überzahl sind, aber vor allem im Alter zwischen 30 und 50 gibt es einen Frauenmangel. Das hat auch damit zu tun, dass die Abwanderung nach 1989 weiblich geprägt war.
[RW] Können Sie dazu Prozentzahlen nennen?
[SM] Ja, die meisten Abwandernden waren unter 30 Jahre, und 60 Prozent derjenigen, die weggegangen sind, sind Frauen gewesen. Bei der Rückwanderung ist es auch so, dass mehr Männer zurückgewandert sind als Frauen, weil sich Frauen erfolgreicher integriert haben.
[RW] Ist das im internationalen Vergleich typisch, dass die Frauenmobilität wesentlich höher ist, oder ist das hier eine Besonderheit?
[SM] Früher hat man immer gesagt, Wanderung sei männlich. Jetzt gibt es seit vielen Jahren die Diskussion zur Feminisierung von Migration. Das findet man überall. Das hat vor allem damit zu tun, dass es mehr Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor als im Industriesektor gibt. In die Industrie sind Männer gegangen, das kennen wir aus der Gastarbeiterzuwanderung. Aber jetzt gehen viele Frauen in Pflegeberufe, im Reinigungssektor, im Tourismus oder werden Nannys. Viele Frauen aus Ostdeutschland konnten sich aber zudem sehr gut in den Arbeitsmarkt einfädeln. Man darf auch nicht vergessen, dass es nach 1990 im Westen eine große Arbeitskräftenachfrage gab, weil es durch die Öffnung der mittel- und osteuropäischen Märkte einen Wirtschaftsboom gab, Plötzlich musste die bundesdeutsche Wirtschaft unglaublich viel produzieren, und da waren die Fachkräfte aus der DDR sehr begehrt. Die ostdeutschen Frauen sind fast alle in den Arbeitsmarkt hineingewandert.
PHILIP DINGELDEY [PD] Treten wir einmal einen Schritt zurück zur Identitätstheorie. Sie geben in Ihrem Buch eine Minimaldefinition einer ostdeutschen Identität, die vergleichsweise vage bleibt. Was ist eine ostdeutsche Identität? Woher kommt sie? Sie haben auch gesagt, der Osten sei keine Erfindung des Westens.iii
[SM] Ostdeutsche Identität ist zunächst ein leerer Signifikant und kann mit unterschiedlichsten Inhalten befüllt werden. Das wird auch von sehr unterschiedlichen Akteuren gemacht. Zudem ist sie generationenspezifisch, und es hängt von verschiedenen Regionen und Formen der politischen Instrumentalisierung ab. Es hat auch popkulturelle Seite. Wir sehen das jetzt in der Literatur und im HipHop – überall gibt es auch Referenzen auf das Ostdeutsche. Es ist eine historische Entwicklung, dass sich inzwischen solche Bewusstseinsformen tendenziell auch von der DDR ablösen. Das ostdeutsche Bewusstsein war ursprünglich eng mit der DDR verknüpft. Man hat angenommen, dass wenn jemand länger in der DDR gelebt hat, dass für diese Person die ostdeutsche Herkunft eine größere Rolle spiele, und für die Generation nach der Wende werde es nach und nach unwichtig. Jetzt sieht man aber bei Leuten, die nach 1990 geboren sind und biographisch mit der DDR nicht verknüpft sind – bei meinen Studierenden zum Beispiel –, dass die Ost-West-Teilung doch für sie eine Rolle spielt – nicht als ganzheitliches Identitätskonzept, sondern als eine Identitätsschicht, ein Element unter anderen. Ich versuche so eine Definition, die sagt: Das Ostdeutsche ist ein spezifischer Erfahrungsraum, der dezidiert nicht westdeutsch ist. Dabei ist das Westdeutsche immer eine Art Referenz, die notwendig ist, um überhaupt eine ostdeutsche Identität auszubilden. Das findet verschiedenste Ausdrucksweisen: ob nun Leute im Stadion von Dynamo Dresden „Ost-, Ost-, Ostdeutschland“ rufen, oder ob man auf der Theaterbühne bestimmte Stücke sieht, in denen ostdeutsche Identität verhandelt wird, oder ob es im Bundeskanzleramt ein Netzwerk von Mitarbeitern gibt, die eine ostdeutsche Herkunft haben. Es gibt also eine riesige Varianz, die sich nicht auf ein Kernelement eindampfen lässt. Wenn man so ein Identitätskonzept ernst nimmt, dann geht es aber um eine Art von Herkunft, Verwurzelung, Zugehörigkeitsgefühl oder ein Merkmalbündel, das einen von anderen unterscheidet. Warum spielt jetzt eine größere Rolle als vor 15 Jahren? Ich glaube, weil es jetzt auch einen größeren Diskurs über Identitätspolitik gibt. Viele machen aus ihren askriptiven Merkmalen etwas, das mit Begriffen der Identitätspolitik politisch verhandelt werden kann, und Ostdeutsche fragen sich, warum sie das nicht auch gemacht haben. Das zweite Argument ist – das kennt man aus der Migrationsforschung –, dass die erste Generation in der Regel versucht, sich einzufädeln und geräuscharm zu sein, fast unsichtbar zu werden. Das wäre übertragen auf Ostdeutschland der Typ Angela Merkel – also das Ostdeutsche nicht zu stark zu betonen. Und dann kommen die zweite und dritte Generationen, die ein Stück weit selbstbewusster auf die Identitätsressourcen zurückgreifen und diese im öffentlichen Raum auch artikulieren. Bei Migrantinnen und Migranten findet man in der zweiten und dritten Generation oft Formen der Rekulturalisierung mit aktiveren und bewussteren Formen des Umgangs mit der eigenen Herkunft. Das kann man ein Stück weit auch für Ostdeutschland beobachten. Für mich ist das verblüffend, wenn mir 25-Jährige sagen, es mache für sie einen Unterschied, ob sie aus Ost- oder Westdeutschland kommen.
[PD] Sie erwähnen auch in Ihrem Buch, dass es regional unterschiedlich ist, die Identität sich also nicht nur auf die Abgrenzung vom Westen bezieht, sondern auch ein regionaler Fokus dominant für die Selbstidentifizierung sein kann. Wo würden Sie sagen – wenn wir versuchen, verschiedene Identitäten im Identitätspolitikspiel zu priorisieren – ist da die ostdeutsche Identität zu verorten? Wie gewichtig ist sie im Vergleich zu anderen Identitäten?
[SM] Ich würde sagen, die ostdeutsche Identität ist eine dünne Identität, aber auch die regionalen Identitäten in Ostdeutschland sind nur in einigen Bundesländern stark ausgeprägt. Letzten Endes sind das aber verschachtelte Identitäten. Man kann alles zugleich sein: Deutscher, Ostdeutscher, Thüringer. Das sind keine abgrenzenden Kategorien. Das ist bei migrantischen Gemeinschaften, wo es stärkere Formen der ethnischen Vergemeinschaftung gibt, ein Stück weit anders. Und zum Ostdeutschen gehört kein religiöses Element. Ein Ostdeutscher kann eine kulturelle Gruppenzugehörigkeit auch ein Stück weit zurückstellen und muss das Ostdeutschsein auch nicht in jedem sozialen Kontext aktualisieren.
[RW] Als Juristin kann ich mit der Identitätsdiskussion nur wenig anfangen – wohl aber mit damit verbundenen Diskriminierungsfällen und -merkmalen. Sie sagen, dass es einen Ossismus als gruppenbezogene Diskriminierung bis auf wenige Ausnahmen nicht gäbe.iv Juristisch reden wir etwa über Frauen als Gruppe und wissen, dass dazu Angehörige ganz verschiedener Schichten gehören, und sagen dann aber trotzdem, dass es eine strukturelle Diskriminierung gibt und machen das etwa an Lohnfragen fest. Ein solches strukturelles Defizit, das diskriminierend wirkt, soll es in Bezug auf Ostdeutsche nicht geben?
[SM] Wenn wir streng juristisch sprechen, dann wissen wir, dass es vom Arbeitsgericht eine Entscheidung gab, dass Ostdeutschsein – jedenfalls arbeitsrechtlich – nicht als Diskriminierungsfaktor zum Tragen kommt. Dann ist trotzdem die Frage: Warum gibt es so wenige ostdeutsche Eliten? Dafür gibt es unterschiedliche Erklärungen. Eine könnte Diskriminierung sein. Dass weniger Leute einer bestimmten Herkunft irgendwo vorkommen, heißt noch nicht, dass sie aktiv diskriminiert werden. Ostdeutsche etwa werden ja nicht aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihrer Herkunft aktiv diskriminiert. Ostdeutsche sind aber betroffen von einer Form der statistischen Diskriminierung. Was sind die Gründe? Das Erste sind ungleiche strukturelle Gelegenheiten. Wenn Sie keine großen Unternehmen oder Behörden in Ostdeutschland haben, sind dort bestimmte Aufstiegskarrieren gar nicht möglich. Sie können etwa als Schüler nicht einfach ein Praktikum bei BMW machen und dann in dem Betrieb weiterkommen. Das Zweite sind Fragen von Habitus und kultureller Passung. Derjenige, der ein bestimmtes Auftreten, eine bestimmte Sprechweise hat, kommt weiter. Das Dritte sind soziale Netzwerke, das Vitamin B. Wenn man eine Gesellschaft der kleinen Leute ist, dann gibt es bestimmte Kontakte nicht, die einem erst Türen zum sozialen Aufstieg öffnen könne. Alle drei Faktoren wirken zusammen. Ich würde sagen, für jemanden, der aus einem Arbeiter- oder Migrationshaushalt aus Offenbach kommt, ist der Aufstieg in den Vorstand eines DAX-Unternehmens genauso unwahrscheinlich wie für einen Ostdeutschen. Das hat etwas mit der Wegstrecke, die man sozialstrukturell zurücklegen muss, zu tun und mit den strukturellen Wahrscheinlichkeiten. Das führt in der Summe zu strukturellen Benachteiligungen.
[RW] Ich denke, in Ihrem Beispiel stimmt das. Ein anderer Fall ist es, wie es etwa an der juristischen Fakultät der Humboldt-Universität ablief: 1990, nachdem sortiert und beurteilt war, wer geht und wer bleibt, haben wir Professoren die Vereinbarung getroffen, dass die neu-berufenen Westprofessoren ihre Mitarbeiter quotieren. Heute schaue ich mir die Quotierung an meiner alten Fakultät an, und jetzt haben wir dort sehr viel weniger ostdeutsche Mitarbeitende als vor 30 Jahren.
[SM] Ich glaube, aus den Faktoren, die ich genannt habe – Netzwerke, kulturelle Passung, strukturelle Gelegenheiten –, kann man eine ganze Menge erklären. Wir haben aber keine wirkliche Untersuchung, die das macht. Wir können auch nicht die Faktoren isolieren und exakt sagen, woran es liegt. Wir sehen insgesamt, dass in mittlerer Position Ostdeutsche schon aufsteigen. Es gab auch einen nachholenden Aufstieg, aber es ist noch kein Gleichziehen. Und in den Spitzenpositionen ist es noch einmal komplizierter. Aber alle Elitenstudien sagen eigentlich, dass die gesellschaftlichen Führungsgruppen sehr geschlossen sind und es einen hohen Grad an Selbstrekrutierung gibt. Das ist relativ unabhängig davon, ob jemand Ost- oder Westdeutscher ist. Wenn Sie einen Ostdeutschen nehmen, ihn in einen bürgerlichen Haushalt in Hamburg-Eppendorf hineinsetzen, dann würde diese Person auch ihre Aufstiegschancen haben. Das ist aber nicht gleichermaßen der Fall für eine Person mit dunkler Hautfarbe. Die wird dann trotzdem noch auf Grundlage der sichtbaren Andersheit diskriminiert. Das ist bei Ostdeutschen nicht der Fall. Man weiß erst einmal gar, wer Ostdeutscher ist und wer nicht. Wenn Sie eine Bewerbungsmappe vor sich haben, dann kann man kaum einschätzen, ob jemand ost- oder westdeutsch ist.
[RW] Einen großen Platz in Ihrem Buch nehmen die Besonderheiten von Politik und Demokratie im Osten ein.v Wie würden Sie die Besonderheiten zum Funktionieren des politischen Systems im Osten im Vergleich zum Westen beschreiben? Und dann geht es immer auch um die Ursachen und Gründe.
[SM] Die Demokratiegeschichte ist in der westdeutschen Bundesrepublik deutlich länger. Das ist ein fundamentaler Unterschied. Zudem hatte man in der BRD in den 1970er und 1980er Jahren die Hochzeit der großen Volksparteien gehabt, die das politische System dominiert haben. Und in Ostdeutschland ist bis heute kein eingewurzeltes und etabliertes Parteiensystem vorhanden. Die Parteien haben dort eine sehr schwache gesellschaftliche Verankerung, wenige Mitglieder und keine parteibezogenen Milieus. Das macht die politische Kultur instabiler. Im Westen erodieren das Parteiensystem und die Mitgliederstruktur auch. Die CDU und die SPD haben auch dort seit Mitte der 1990er Jahre die Hälfte ihrer Mitglieder verloren, aber im Westen gibt es aber noch den langen Schatten der erfolgreichen Parteiendemokratie, der bis heute eine Prägekraft hat. Selbst wenn man im Westen kein Parteimitglied ist, wächst man trotzdem in einem entsprechenden Milieu auf. Kommt man etwa vom katholischen Land oder von einer gewerkschaftsnahen sozialdemokratischen Familie, dann saugt man Dinge auf, ohne notwendigerweise ein Parteimitglied zu sein. Denn die politische Bewusstseinsbildung findet in diesen Kontexten statt. Das gibt es in Ostdeutschland in dieser Form nicht. Mitgliedermäßig sind die Parteien dort Schwächlinge geblieben.
[RW] Ich bin Mitglied der SPD und habe mich sehr lange mit meiner eigenen Partei über die Art des Umgangs mit den Leuten im Osten gestritten. Man sieht bei der SPD, dass sie die sozialen Schichten, an die die Partei im Osten hätte anknüpfen können, verfehlt hat – mit ihrer Politik der Abgrenzung von Links. Würden Sie sagen, es gibt die entsprechenden Milieus oder Berührungspunkte in Ostdeutschland gar nicht? Sie beschreiben das Parteienproblem in Ostdeutschland ausführlich für die SPD und sagen dann, das ist bei der CDU nicht anders.vi Haben die Parteien generell die Frage verfehlt, wie sie mit dem Osten umgehen?
[SM] Man hat immer davon gesprochen, dass es im Osten atypisch ist, denn die Arbeiterpartei in den 1990er Jahren war im Osten die CDU. Die wurde von ostdeutschen Arbeiterinnen und Arbeitern gewählt. Das hat was mit Helmut Kohl und der Wiedervereinigung zu tun. Die CDU hat es ein kleines bisschen mehr geschafft als die SPD, vor allem in Thüringen und Sachsen, auch eigene Milieus auszubilden und Mitglieder zu rekrutieren. Aber das ist immer noch nicht vergleichbar mit der Parteienstruktur im Westen. Neulich hat mir Carsten Linnemann erzählt, dass die CDU in Paderborn, dort ist sein Wahlkreis, fast so viele Mitglieder hat als die CDU im ganzen Land Brandenburg. Da kann man sich vorstellen, was für eine geringe Rolle ostdeutsche CDU-Mitglieder bei Bundesparteitagen spielen. Die ostdeutschen Landesverbände sind in den Bundesparteien sehr schwach und können sich nicht durchsetzen.
[RW] Bei der SPD beispielsweise kommt auch das hauptamtliche Personal in Ostdeutschland aus dem Westen oder wird aus den atypischen ostdeutschen Milieus rekrutiert.
[SM] Ja, das ist auch ein Faktor, der eine große Rolle spielt. Eigentlich war die Wiedervereinigung eine Flächenexpansion der etablierten Parteien. Dabei hat die CDU den strukturellen Vorteil gehabt, dass sie die Ost-CDU vereinnahmen konnte, die SPD hatte keinen entsprechenden Partner, und Bündnis 90/die Grünen hat sich dann mit dem, was von den Bürgerrechtlern geblieben ist, vereint. Das waren extrem unterschiedliche Startbedingungen. Eigentlich hätte die SPD im Osten immer eine erfolgreiche Partei sollen. Man war davon ausgegangen, dass das für sie natürliches Habitat sei und sie sich dort einwurzeln könne, weil sie die soziale Frage, soziale Gerechtigkeit und Sicherung behandelt. Das sind Dinge, die in Ostdeutschland stärker betont wurden sind als im Westen. Und im Osten gibt es auch eine etatistische Orientierung, dass man auf die staatliche Versorgungsleistung schaut. Aber das hat sich für die SPD nicht ausgezahlt, weil sich an die Stelle ein CDU-Paternalismus gesetzt hat, bis hin zu Landesvätern, die einem alles abgenommen und Mentalpflege betrieben haben. Solche Ministerpräsidenten haben versucht, jenseits der Parteipolitik fast präsidial zu regieren. Bestimmte Konflikte sind daher damals auch nicht ausgetragen worden, sondern man hat sie ein Stück weit verdeckt, um viele Leute mitzunehmen. Das war für eine gewisse Zeit wahlpolitisch auch sehr erfolgreich.
[RW] Sie sprechen von Selbstentmachtung der Ostdeutschen.vii Wenn man sich selbst entmachtet, ist jemand da, der die Macht übernimmt. Ab da ist es nicht mehr so interessant, was der Entmachtete beigetragen hat, sondern eher wie es dazu gekommen ist. Da ist die Selbstentmachtung eine Legitimation für die Zustände, die davon ausgelöst wurden, wie eine Überschichtung, und dass es gerade nicht zu einer politischen Selbstorganisation gekommen ist. Bei der Frage von Macht kommt dann raus, dass die Machtverhältnisse gravierend unterschiedlich sind, und die Selbstentmachtung gilt als dessen Legitimation.
[SM] Für mich ist die Selbstentmachtung erst einmal ein neutraler Beschreibungsbegriff, der damit etwas zu hat, dass es die extrem starken Gewinne der Allianz für Deutschland bei der Wahl 1990 gegeben hat – und damit das Handlungsmandat für die Weichenstellung für eine zügige Wiedervereinigung. Das bedeutet automatisch, dass man Teil eines großen Ganzen wird und eine kollektive Selbstorganisation nicht mehr durchführen kann. Und plötzlich sitzen die ökonomisch Potenten und die diskursiv Einflussreichen, aber auch die politisch Mächtigen ganz woanders. Das wäre selbst so gekommen, wenn die DDR nicht politisch delegimitiert oder ökonomisch impotent gewesen wäre, weil die Zahlenverhältnisse ungleich sind. Der Westen majorisiert in gewisser Weise den Osten. Im Osten leben ja jetzt nur noch 13 Millionen Menschen, und 70 Millionen Menschen leben in Westdeutschland. Es gibt manchmal das Image, die Wiedervereinigung als zwei zusammengekommene Hälften zu sehen. Aber der Osten war auch 1989/90 zahlenmäßig kleiner. Aber ja, auch die Strukturen waren andere: Die Ostdeutschen waren Leute, die man erst einmal einfädeln musste, und die Ostdeutschen hatten auch in 1900er Jahren andere Dinge zu tun. Da ging es häufig um ökonomische Überlebenskämpfe, berufliche Umorientierung, Pendelexistenzen, Maßnahmenkarussell. Da sind auch viele in eine passive politische Haltung hineingerutscht, weil sie mit sich zu tun hatten. Es gab auch viele, die haben die neue Freiheit erst einmal genossen, Menschen, die eine Weltreise machen oder sich beruflich verwirklichen und nicht unbedingt die Demokratie mitgestalten wollten, sondern die die persönlichen Konsum- und Freiheitsbedürfnisse befriedigen und sich ausleben wollten. Es gab keinen starken Sog in Richtung politischer Selbstwirksamkeit im vereinigten Deutschland. Es ist meine These, dass der vormundschaftliche Staat der DDR zusammengebrochen ist, aber dann die BRD eine vormundschaftliche Funktion für die Ostdeutschen übernommen hat. Der Westen verspricht bestimmte Dinge, wie Investoren, die kommen sollten, die Infrastruktur sollte sich entwickeln. Damit hat sich der Osten relativ schnell wieder in eine Situation hineinbegeben, in welcher der Kohlpaternalismus gut funktioniert hat – für eine Weile.
[RW] Was Sie so genau mit harten Fakten beschreiben, sind die sozialen, ökonomischen und demokratischen Verwerfungen. Das finden wir stark an Ihrem Buch. Sie sagen, das Demokratiedefizit und die Parteienschwäche seien wesentliche Gründe, dass es mit diesem politischen System nicht funktioniert. Und Sie kommen immer wieder auf das Repräsentationsdefizit im politischen System und in der Wirtschaft zu sprechen. Wo sind aber die Fakten zum Umgang mit der Entmachtung der alten DDR-Eliten? Sie sprechen davon, aber es gibt diese Beschreibung nicht.
[SM] Da muss ich noch einmal rahmen. Das Buch Ungleich vereint hat ja nicht nur eine Beziehung zu Triggerpunkte, sondern auch zu meinem Buch Lütten Klein.viii Letzteres ist eine Sozialstrukturgeschichte Ostdeutschlands, und da spielt die Frage der Elitenrepräsentation eine größere Rolle. Da habe ich das auch mit Daten belegt. Ungleich vereint ist dagegen ein zeitdiagnostisches Buch, in dem ich nicht die ganze historische Entwicklung rekonstruiere, sondern nur punktuell bestimmte entscheidende Weichenstellungen – wie die Wiedervereinigung – sichtbar machen will. Dass es ein Elitendefizit und eine Repräsentationsschwäche in Ostdeutschland gibt, das steht auch in Ungleich vereint.
[RW] Es wird aber nicht mit harten Fakten abgebildet.
[SM] In Ungleich vereint berufe ich mich auf vorhandene Studien. Man muss bei dem Elitendefizit aber dazusagen: Das ist sektoral recht unterschiedlich. Im politischen Sektor gibt es wenig ostdeutsches Elitendefizit – zumindest auf der Ebene von Landes- und Bundesregierung. Auf der Ebene der Ministerialbürokratie gibt es aber eindeutig ein ostdeutsches Elitendefizit. Das hat auch etwas mit der territorialen Form der politischen Repräsentation zu tun. Im Bundestag ist der Anteil von Ostdeutschen so wie er nach Bevölkerungsanteil auch sollte: 18 Prozent. Aber in den anderen gesellschaftlichen Feldern – in der Justiz, in der Wissenschaft, in der Kultur, im Militär, in den Medien, in der Wirtschaft – ist das Elitendefizit der Ostdeutschen eklatant. Zudem haben wir Felder, wo es über die Zeit gar nicht steigt, sondern sogar fällt und Felder, wo das Defizit stagniert. In der Wissenschaft zum Beispiel kann man das sehen: Nur zwei Prozent der Wissenschaftseliten kommen aus dem Osten. Da muss man also differenzieren. Die Politik ist ein Stück weit ein Sonderfall, was die Repräsentation betrifft.
[PD] Sie schreiben in Ihrem Buch auch darüber, warum die AfD in den ostdeutschen Bundesländern besonders erfolgreich ist.ix Das hat auch mit Repräsentationslücken und einem Gefühl der Benachteiligung zu tun. Können Sie die Erfolge, die die AfD gerade bei den ostdeutschen Landtagswahlen eingefahren hat, erklären? Welche multikausalen Faktoren spielen eine Rolle?
[SM] Es gibt eine ganze Palette von Gründen. Der Konfliktraum hat sich verändert: Kulturelle Konflikte und Migrationskonflikte spielen für die Wahlentscheidung eine große Rolle. Da sind die Ostdeutschen anders drauf. Sie waren in der Migrationskrise reservierter und kein zentraler Teil der Willkommenskultur. Dann gibt es generell eine schwache Bindung an die etablierten Parteien. Das schafft Gelegenheiten für andere Akteure, in die Lücke zu gehen und Menschen anzuziehen. Wir haben eine krisenhafte Situation. Wir haben viele ökonomische Veränderungen, die auch von den Polarisierungsunternehmern – wie ich die gerne nenne – angeheizt werden. Wenn man jetzt das Gedankenspiel macht: Stellen Sie sich mal vor, die Stärke der Parteien in Westdeutschland wäre so ähnlich wie in Ostdeutschland, dann würde ich vermuten, dass die AfD auch dort viel stärker wäre. Die AfD ist kein ostdeutsches Phänomen mehr. Der Rechtspopulismus ist ein Problem der westlichen Welt insgesamt. Das heißt, die Stärke der Parteien, obwohl sie schon viel schwächer sind als in den 1970ern, ist in gewisser Weise eine Resilienzbedingung gegen den Rechtspopulismus. Wenn das nicht vorhanden ist, dann sind die Leute erreichbarer über emotionalisierte Ansprache, Ressentimentpolitik und Affekte. Letztlich ist auch das Bündnis Sarah Wagenknecht mit ihrem schnellen Wahlerfolgen ein Ausdruck davon. Die Leute sind politisch sehr ungebunden und wenig eingebettet in ein bestimmtes politisches Programm. Aber man darf dabei auch die Geschichte nicht vergessen, auch die Diktaturgeschichte und die Geschichte der 1990er Jahre, als rechte Strukturen sich im Osten etabliert haben, wo es einen entleerten politischen Raum gab, in den rechte Akteure bewusst hineingegangen sind. Es sind auch viele der Spitzenfiguren der AfD aus dem Westen in den Osten gekommen und haben dort lange Zeit auch Vorarbeit betrieben, auf die die AfD aufbauen kann. Zudem gibt es in Ostdeutschland auch andere grundierende Einstellungen: etwa stärkere autoritäre Einstellungen. Ich bin aber ein Skeptiker der These, dass das alles nur Diktatursozialisierung sei. Denn wir sehen etwa bei der Landtagswahl in Thüringen, dass die, die älter als 70 Jahre sind, viel weniger die AfD gewählt haben, nämlich 18 Prozent, und die, die unter 25 Jahre alt sind, haben mit 36 Prozent die AfD gewählt. Es spielen also andere politische Prozesse und Dynamiken eine Rolle, und die Diktatursozialisierung verblasst als Wirkung mit der Zeit.
[PD] Es gibt auch andere Faktoren, wie dass die AfD wesentlich aktiver auf dem sozialen Netzwerk TikTok ist. Unter Erstwählern werden AfD-Inhalte dort vielmehr angezeigt als die Inhalte aller anderen Parteien zusammen.
[SM] Das ist die Frage, wie man politisch sozialisiert und in einen politischen Kosmos eingehegt wird. Jene, die jünger als 25 sind, nehmen mehrheitlich politische Informationen und Inhalte ausschließlich über TikTok wahr. Und da weiß man um die Reichweitenstärke der AfD, und es gibt rechte Influencer, die 100.000 oder 200.000 Follower haben. Wenn die zentralen Orte der Politisierung die sozialen Medien sind, dann sind es eben nicht mehr die Gewerkschaften, nicht mehr das Vereinswesen und schon gar nicht die anderen Parteien, die prägen. Da muss man sich auch nicht wundern, wenn die AfD dort stark auftritt.
[PD] Kommen wir zum Abschluss. Am Ende Ihres Buches greifen Sie auf, wie man die von Ihnen angesprochenen Probleme abmildern könnte, wie durch Umverteilung die Vermögensunterschiede zwischen Ost und West, etwa mithilfe der Erbschaftssteuer zu minimieren. Dann sagen Sie aber, dass solche Optionen nicht unbedingt realistisch seien und machen eine erstaunliche Wende: Vielleicht sei es Zeit für etwas Neues, für ein Labor für Partizipation in Ostdeutschland. Dabei schlagen Sie insbesondere Bürgerrätex in den ostdeutschen Bundesländern vor.xi Das hat uns irritiert. Wie könnten Bürgerräte die Lösung sein?
[SM] Dann stelle ich die Gegenfrage: Was wäre denn ansonsten die Lösung?
[PD] Sie haben selbst Vorschläge gemacht: die höhere Besteuerung von Erbschaften und Vermögen, um die Vermögensunterschiede auszugleichen oder auch Quoten.xii Gleichzeitig behaupten Sie, dafür gäbe es in Deutschland keinen Fokus, weswegen Sie auf die Bürgerräte ausweichen. Wieso sind Bürgerräte besser oder realistischer als Umverteilungen und Quotierungen?
[SM] Für Umverteilungen und Quoten gibt es keine politische Mehrheit. Wenn es Mehrheiten dafür gäbe, dann wäre das gut und schön. Dadurch würde die AfD aber auch nicht verschwinden, selbst wenn es jetzt mehr sozialpolitische Maßnahmen gäbe. Es ist eine strukturelle Entwicklung in der politischen Kultur. Mein Vorschlag zu den Bürgerräten heißt nicht, dass man andere Maßnahmen nicht treffen sollte. Ich spreche mich für die Verringerung der Ungleichheit aus. Ich versuche aber gleichzeitig das politische Problem zu lösen, das noch einmal eine eigenständige Problematik darstellt. Die Vorschläge stehen nicht in Widerspruch zueinander. Natürlich kann man strukturelle Disparitäten versuchen zu verringern, natürlich ist die Frage der Vermögensverteilung auch für den Fortbestand der Demokratie entscheidend. Aber ich sehe keinen politischen Willen, das auf die Agenda zu setzen. Bei der Frage der Etablierung von Bürgerräten muss man dagegen feststellen, dass wir eine fundamentale Krise der Parteiendemokratie haben, die im Osten derart vorangeschritten ist, dass man die Sorge haben muss, dass da etwas ins Rutschen gerät, was man später nicht mehr einfangen kann. Ich habe für dieses Problem kein Allheilmittel, und es wäre auch naiv zu sagen, Bürgerräte seien das Rezept schlechthin, um die politischen Probleme in Ostdeutschland zu heilen. Aber ich glaube, wir brauchen geistige Lockerungsübungen, um darüber nachzudenken, wie man eigentlich politische Partizipation auch in Form von neuen demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten herstellen und die Selbstwirksamkeit erhöhen kann. Vielleicht kann man so die Distanz zwischen den politischen Eliten und der allgemeinen Bevölkerung verringern und politische Auseinandersetzungen versachlichen. Denn im Moment sind wir in einer Entwicklung, in der es eine Verwilderung sozialer Konflikte gibt. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir das wieder einhegen können. Bürgerräte sind dafür ein Vorschlag, über den man trefflich streiten kann. Aber ich finde den Vorschlag zumindest überlegen gegenüber anderen, wie Volksabstimmungen oder plebiszitären Verfahren, die auch ihre Qualitäten haben, aber die das Problem, um das es mir geht, nicht richtig lösen können.
[PD] Eine solche „geistige Lockerungsübung“ ist doch aber nur eine Simulation von Demokratie und bürgerlicher Entscheidungsmacht. Wenn ich in einem Bürgerrat, so wie er bisher gedacht ist, gelost werde, dann kann das vielleicht meinen politischen Horizont erweitern, und mit sehr viel Glück ist die Deliberation dann auch rational. Aber anders als bei einer Volksabstimmung hat eine Empfehlung eines Bürgerrates nicht unbedingt eine politische Konsequenz oder Verbindlichkeit. Es wird im Grunde nur deliberiert. Solche Empfehlungen müssen ja nicht von den politischen Eliten übernommen werden.
[SM] Das liegt doch daran, dass man diese politische Konsequenz nicht ziehen will. Das ist aber doch ganz einfach: Man kann in die Landesverfassungen schreiben, dass es für die Parlamente eine Befassungspflicht mit den Empfehlungen eines Bürgerrates gibt oder eine Begründungspflicht, wenn man die Ergebnisse nicht umsetzt. Landesverfassungen werden andauernd geändert, und da kann man Öffnungsklauseln für Bürgerräte auch einbeziehen, genauso wie man Volksabstimmungen in den Verfassungen verankert hat.
[RW] Zum Vergleich: Die Diskussion über plebiszitäre Elemente ist auf kommunaler und Landesebene gut vorangekommen. Aber auf Bundesebene hakt es. Ich sehe zudem, wie die Repräsentationsgeschichten in der Frage der Quotierung nach Männern und Frauen scheitern. Wenn schon das – Volksabstimmungen und Quoten – misslingt, wie sollen dann Bürgerräte gelingen?
[SM] Ich habe noch keinen Bürgerrat gesehen, der aus der Perspektive einer Person, die an sachlichen Fragen und pragmatischen Entscheidungen interessiert ist, Unsinn hervorgebracht hat. Sieht man sich die Resultate an – auch auf Bundesebene den Bürgerrat zu Ernährungspolitik –, dann fragt man sich eher, warum das nicht umgesetzt wird.
[PD] Genau das ist der Punkt der Simulation.
[SM] Eben, und das kann man ändern.
[RW] Aber Parlamente ändern das ja gerade nicht.
[SM] Das ist eine Machtfrage. Das ist kein Nachteil eines Bürgerrates selbst, sondern es mangelt an der Bereitschaft derer, die in der Politik die Macht haben, solche Änderungen zuzulassen. Aber ich glaube, angesichts der Dramatik der Ereignisse und der Veränderung werden auch viele in den etablierten Parteien zu der Überzeugung gelangen, dass wir etwas tun müssen. Wie soll es etwa in Zukunft noch möglich sein, dass wir Parteien als Akteure mit Gestaltungskraft haben, die eine zentrale Rolle in der politischen Willensbildung spielen, wenn fast niemand mehr Mitglied in diesen Organisationen sein wird? Die politische Kultur vor Ort kann durch die Parteien dann nicht mehr gestaltet werden. Darum müssen die Parteien selbst ein Interesse haben, solche Öffnungsprozesse – ob in ihrer parteilichen Beteiligungsform oder in anderen Formen der politischen Entscheidung – zu ermöglichen. Mein Diskussionsanstoß ist dazu nur eine Anregung. Ich glaube, wir müssen solche Impulse aufnehmen, denn die Dramatik der Ereignisse jetzt gerade nach den Landtagswahlen sollte uns vor Augen führen, dass das Entwicklungen sind, die bundesweit eintreten können. Im Moment haben wir aber keine Idee, keine strategischen Mittel und vielleicht auch kein politisches Personal, von dem wir mit annehmen können, dass sie die jetzige Entwicklung umkehren könnten. Darum müssen wir darüber nachdenken, wie wir unsere Demokratie innovieren können – und zwar so, dass wir das parlamentarische System und die Parteiendemokratie nicht schädigen, aber mit einem Anbau ergänzen, von dem wir dann sehen können, ob er funktioniert.
[RW] Ihr Plädoyer für die Bürgerräte ist sehr leidenschaftlich. Warum plädieren Sie dann nicht mit einer ähnlichen Leidenschaft dafür, zugleich an die Wurzeln der Ungleichheit zwischen Ost und West zu gehen, sondern konstatieren dazu nur pragmatisch, dass hierzu eben der politische Wille fehle?
[PD] Ergänzend könnte man sagen, dass der politische Willen noch bei beidem fehlt: Bürgerräten und der Bekämpfung der Ungleichheit.
[SM] Es war ein Resultat der Triggerpunkte, dass die Mobilisierungsfähigkeit bei sozialen Fragen extrem gering ist. Wir haben eine Veränderung von vertikalen Klassenkämpfen hin zu horizontalen Statuskämpfen, wie Insider gegen Outsider. Das ist eine dramatische Veränderung in der Art und Weise, wie unsere Konflikte strukturiert sind. Ich habe keine Lösung, wie man das wieder in die klassischen Verteilungskonfliktlogiken überführen kann. Wir haben also eine Veränderung des sozialen Konfliktes in einen ethnifizierten Konflikt, in dem wir nur noch die Fragen der Ressourcenkonkurrenz auf Migrantinnen und Migranten oder auch zwischen Niedriglohnbeziehenden und Bürgergeldempfangenden beziehen. Im Gegensatz dazu sehen die Parteien aber sehr wohl, dass die Parteiendemokratie in der Krise ist und man andere Ansätze diskutieren müsste.
Anmerkungen:
i Mau, Steffen/Lux, Thomas/Westerheuser, Linus 2023: Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, Berlin.
ii Mau, Steffen 2024: Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt, Berlin, S. 44f.
iii Ibid., S. 11f./72-75.
iv Ibid., S. 80f.
v Ibid., S. 39-52/89-124.
vi Ibid., S. 93.
vii Ibid., S. 42f.
viii Mau, Steffen 2019: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, Berlin.
ix Mau, Steffen 2024: Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt, Berlin, S. 98-110.
x Bürgerräte sind Versammlungen von 30 bis 200 per Los ausgewählten Bürger*innen, die bei mehreren Terminen gemeinsam ein vorgegebenes Thema diskutieren. Die Teilnehmenden erhalten Hintergrundinformationen von Expert*innen. Zudem assistieren für gewöhnlich Mediator*innen den Bürger*innen. Am Schluss der Beratung übergibt der Bürgerrat einem Parlament seine Handlungsempfehlungen. (Vgl. https://www.bundestag.de/parlament/buergerraete/artikel-inhalt-943198).
xi Mau, Steffen 2024: Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt, Berlin, S. 127-136.
xii Ibid., S. 127f.