Rezension: Aus der Welt der Maulwürfe
Loick, Daniel: Die Überlegenheit der Unterlegenen. Eine Theorie der Gegengemeinschaften, Suhrkamp 2024, 297 S., 24,00 €.
„But I work in his factory
And I curse the life I’m living
And I curse my poverty
And I wish that I could be
Oh, I wish that I could be
Oh, I wish that I could be Richard Cory“
(Simon and Garfunkel)
Gegen diese weitverbreitete Vorstellung der Überlegenheit der Reichen und Mächtigen schreibt Daniel Loick an, Associate Professor für politische Philosophie und Sozialphilosophie an der Universität Amsterdam. Ich kannte von ihm bisher nur seine Kritik der Polizei („abolish the police“) und seinen (mit Vanessa Thompson) herausgegebenen Reader zum Abolitionismus. Sein neues Buch beruht auf Essays, die zum Teil bereits auf Deutsch und oder Englisch in Fachzeitschriften erschienen sind und für die vorliegende Veröffentlichung überarbeitet wurden. Er hat diese Vorarbeiten um zwei Kapitel ergänzt, sowie um eine Einleitung (Im Reich der Maulwürfe) und ein Schlusswort zur Politik der Maulwürfe.
Worum geht es bei den Maulwürfen? Es sind „die Helden dieses Buches“ (45). Die Metapher geht auf Georg W. F. Hegel zurück (der seinerseits Shakespeare zitiert), und sie wurde von Karl Marx übernommen und später auch von Rosa Luxemburg, um zu verdeutlichen, dass plötzliche Umbrüche zumeist auf langen mühseligen, verborgenen Vorarbeiten beruhen. Diese Metapher taucht im Buch immer wieder auf und belebt ein ansonsten, wie die vielen Fußnoten und das lange Namensverzeichnis hinlänglich zeigen, durchaus gelehrtes und intellektuell anspruchsvolles Buch. Aber warum spricht der Autor von Maulwürfen und nicht einfach, wie Marx, von der Arbeiterklasse? Ganz einfach, weil der Autor sich durch Marx hindurchgewühlt und festgestellt hat, dass es auch andere, miteinander verschränkte Formen von Herrschaft zu beseitigen gilt: neben der kapitalistischen Ausbeutung auch die patriarchale Unterdrückung und die rassistische Ausgrenzung (213). „Klassenkampf ist nur einer unter mehreren sozialen Kämpfen, die mit einander auf komplexe Weise verknüpft sind“ (270). Die Metapher der Maulwürfe deckt also die verschiedensten Formen der Unterdrückung und Unterlegenheit ab.
Die titelgebende These behauptet die grundsätzliche Überlegenheit dieser verschiedenen Klassen von Unterlegenen. Ausformuliert wird sie in der Weise, dass jemand „politisch, ökonomisch, sozial oder kulturell unterdrückt sein“, aber dennoch einen „epistemischen, normativen, ästhetischen oder affektiven Vorteil haben“ kann (8). Diese Vorteile sind allerdings nicht per se vorhanden, sondern müssen erarbeitet werden. Das Medium dafür sind „Gegengemeinschaften“ (16). Damit meint Loick „Gegenkulturen des Respekts“ (in Anlehnung an Axel Honneth), das heißt solche, die die von spezifischen Regeln der Verantwortung und der Achtung geprägt sind. Das mögen Familien, Gangs, Jugendkulturen, aber auch breitere politische oder soziale Bewegungen sein (47). Das Buch illustriert diese These in vier zentralen Kapiteln:
- Das Wissen von Gegengemeinschaften (Was Maulwürfe wissen).
- Die Normativität von Gegengemeinschaften (Die Freiheit der Maulwürfe).
- Die Ästhetik von Gegengemeinschaften (Die Schönheit der Maulwürfe).
- Die Affektivität von Gegengemeinschaften (Die Gefühle der Maulwürfe).
Dabei beeindruckt der Autor durch stupende Kenntnisse der Literatur von und über gesellschaftliche Randgruppen und Subkulturen der unterschiedlichsten Art: anarchistische, artistische, queer-feministische, anti-rassistische, abolitionistische etc. Es erscheint unmöglich, die Fülle der dabei auftauchenden praktischen und theoretischen Einsichten hier im Einzelnen wiederzugeben, aber Loick hat diesen zentralen Kapiteln jeweils drei Beispiele vorangestellt, welche die Buntheit seiner Beweisführung demonstrieren. Als Beispiele für das überlegene Wissen der Unterlegenen erinnert er an die Erfahrung jüdischer Flüchtlinge in den USA, aber auch an die der Schwulen während der AIDS-Hysterie. Als Beispiele für die normative Überlegenheit fungieren das Durchschauen moralischer Korruption aus der Perspektive der Arbeiterbewegung, der Frauenbewegung, der schwarzen und queeren Bewegung. Beispiele aus dem Bereich Ästhetik belegen eher subkulturelle Unterschiedlichkeit als Überlegenheit. Beispiele affektiver Überlegenheit sind besonders einleuchtend im Zusammenhang mit der Solidarität in Krisen/Katastrophen.
Das Buch ist vielfach anregend, erhellend und randvoll mit überraschenden Ideen. Immer wieder begegnen den Leser*innen anschauliche Beispiel und Thesen, die ein, für sich genommen, ein perfektes Handbuch für Sozialrevolutionäre bilden könnten. Der Text demonstriert auch die enorme Belesenheit des Autors. Einschränkend sei aber erwähnt, dass er stellenweise terminologisch mühselig zu lesen ist. Zwei wahllos heraus gegriffene Beispiele: „Die normative Struktur von Gegengemeinschaften ist weder kompensatorisch, noch defizitär, sondern antagonistisch und kontestatorisch“ (47); „Vor allem aber verspielt eine auf Inklusion setzende Strategie die normativen Potentiale, die gerade aus der subordinanten Position eines Herrschaftsgefüges emergieren“ (150). Mit der Auslegung solcher Sätze könnte man ganze Seminare bestreiten, die dazu allerdings auch nötig wären.
Die für den Autor wichtigsten Quellen lassen sich anhand des Personenregisters leicht ermitteln: W. E. B. Du Bois (28 Nennungen), Angela Davis (15), Fred Moten (14), Antonio Negri (12), Ruth W. Gilmore (12), bell hooks (11). Jedoch fehlen zwei Inspirationsquellen, die hier besonders gut gepasst hätten: der unermüdliche Theoretiker und Inspirator von Subkulturen, Rolf Schwendter (1971), und der norwegische Soziologe Thomas Mathiesen, der mit seiner Philosophie des Unfertigen dem Strafrechts-Abolitionismus einen über die Abschaffung einzelner Institutionen reichenden dauerhaften Drive gegeben hat. Diese Art von umfassendem Abolitionismus gehört nämlich auch zu den strategischen Vorschlägen Loicks: „Der zentrale Bezugspunkt bleibt dabei die Aufhebung, nicht die Verbesserung der bestehenden Gesellschaft“ (250). Diese grundlegende Reformismuskritik sei aber nicht mit Quietismus im Hier und Jetzt zu verwechseln. Vielmehr plädiert Loick für den Aufbau von Gegen-Institutionen:
„zur Herstellung interpersonaler Sicherheit und der Bekämpfung von patriarchaler Gewalt in Nahbeziehungen, die Organisation von Strukturen der Gegenseitigen Hilfe, insbesondere in akuten Krisensituationen wie Naturkatastrophen, die Einrichtung freier Schulen und Bereitstellung radikaler Bildungsangebote, aber auch konfrontative Aktionen wie Platz- Haus- oder Fabrikbesetzungen“ (260).
Spannend, wenn auch fragwürdig wirken aber die Folgerungen, die Loick im Schlusskapitel (Die Politik der Maulwürfe) aus alledem zieht. Es ist eine Art Neufassung der Randgruppentheorie, mit der Herbert Marcuse in den 1960er Jahren die Geächteten und Außenseiter*innen (anstelle des Proletariats) zu Katalysatoren der gesellschaftlichen Transformation erklärt hatte, was damals zeitweise zur Romantisierung des Lumpenproletariats und zu übertriebenen Hoffnungen auf die „Gefangenenbewegung“ führte. Diese Theorie hatte Loick am Anfang des Buches für defizitär erklärt, weil sie die „Bedingungen der Befreiung“ nicht „im Herzen der gesellschaftlichen Reproduktion verorten“ könnte (59). Da kann man ihm nur recht geben (so schon Schumanns Votum für eine „politische Randgruppenarbeit“, in seiner Einführung zu Mathiesen 1979).
Loick sieht zwar kein neues revolutionäres Subjekt, „in dessen sozialer Position eine revolutionäre Politisierung schon automatisch oder organisch angelegt wäre“ (280). Er findet aber in zentralen Domänen der bürgerlichen Gesellschaft (Ökonomie, Staat, Familie) „Subjekte, die im Umwälzen (und Umgewälztwerden) geübt sind“ (281). Er sieht dieses Veränderungspotential bei den Eigentumslosen, bei den rassifizierten Teilen der Gesellschaft und bei den von „heteropatriarchalen Verwandtschaftsregimen“ Ausgeschlossenen. Auf der Vereinigung dieser realen abolitionistischen Bewegungen „der Armen, der Staatenlosen und der Queers“ gründet er seine Hoffnung „die Welt von innen umzuwälzen“ (286). Als Beispiele für die Möglichkeit solcher Bündnisse nennt er zwei prominente Versuche heterogener Gegengemeinschaften (285ff.): die von den Black Panthers in den 1970er Jahren initiierte Rainbow Coalition und den Zapatismo, die zapatistische Befreiungsorganisation der 1990er Jahre in Chiapas, Mexico. Er hätte auch Occupy Wallstreet (2011) mit deren Slogan „We are the 99%“ nennen können, der ein klares gemeinsames Ziel für die überwältigende Mehrheit der Gesellschaft zu benennen versuchte. Diese Bewegungen hatten jedoch nur eine sehr kurze Halbwertszeit und sind daher als Beleg für das revolutionäre Potential der Marginalisierten wenig überzeugend. Dennoch können sie für andere strömungsübergreifende Versuche der Veränderung inspirativ und zukunftsfähig sein. Gegen Ende des Buches erspart sich Loick jede konkretere Ausarbeitung seiner Umwälzungsstrategie. Er kehrt stattdessen zur Metaphorik zurück (und lässt damit Raum für sozialrevolutionäre Kreativität):
„die Maulwürfe werden niemals aufhören, das zu machen, was sie am besten können. Sie können ihre Gänge ausdehnen und ihre Territorien erweitern. Sie können sich fortpflanzen und vermehren. Sie können Befestigungen anlegen und Verbindungen eingehen. Sie können Zäune ignorieren und Maschinen sabotieren. Wenn der Boden dann, so ausgehöhlt, ‚zu beben beginnt‘, werden diejenigen einen Vorteil haben, die es gelernt haben, zu graben“ (287f.).
Johannes Feest
Zusätzlich verwendete Literatur
Mathiesen, Thomas 1979: Überwindet die Mauern!? Die skandinavische Gefangenenbewegung als Modell politischer Randgruppenarbeit, Darmstadt.
Schwendter, Rolf 1971: Theorie der Subkultur, Köln.