Beitragsbild Bildungsungleichheit in Deutschland: Eine Praxisperspektive auf Hürden und Herausforderungen von Studierenden der ersten Generation
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Bildungs­un­gleich­heit in Deutsch­land: Eine Praxis­per­spek­tive auf Hürden und Heraus­for­de­rungen von Studie­renden der ersten Generation

Noch immer hängen die Bildungschancen junger Menschen in Deutschland in hohem Maße von der sozialen Herkunft ab. Nur ein Viertel der Kinder aus nichtakademischen Elternhäusern beginnt ein Studium. Von den Akademikerkindern sind es mehr als dreimal so viele. Martina Kübler erläutert, woher diese Reproduktion von Bildungsungleichheit kommt und gibt Einblick, wie Organisationen wie ArbeiterKind.de darauf hinwirken, dass staatliche Institutionen und Hochschulen endlich die Hürden im Bildungssystem reduzieren und dafür sorgen, dass Bildung künftig keine Frage der sozialen Herkunft mehr ist.

 

Im Juli 2024 veröffentlichte das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DHZW) den neuen Bildungstrichter, eine viel zitierte Statistik über den Zugang zur Hochschulbildung in Deutschland (Kracke et al. 2024: 5). Angesichts der allgegenwärtigen Mär vom „Akademisierungswahn“ lasteten große Erwartungen auf dieser neuen Statistik. Bestimmt doch studiere heutzutage fast jede*r, die Ausbildung leide schließlich darunter, dass immer mehr junge Menschen den Schritt an die Hochschule wagten. Der neue Bildungstrichter zeichnet jedoch ein altbekanntes Bild: Noch immer hängen die Bildungschancen junger Menschen in Deutschland in hohem Maße von der sozialen Herkunft ab, das heißt davon, welchen Bildungsstand die Eltern haben. „Vom Akademisierungsschub der vergangenen Jahre haben Kinder, deren Eltern nicht studiert haben, kaum profitiert“ (Kracke et al. 2024: 1), so der DHZW-Brief. Der Übergang von der Schule zur Hochschule stellt also eine Schwelle dar, die von Kindern aus akademischen Elternhäusern weitaus häufiger überschritten wird als von Kindern aus Familien, in denen kein Elternteil über einen akademischen Abschluss verfügt. Noch immer beginnt nur ein Viertel der Kinder aus nichtakademischen Elternhäuserni ein Studium. Von den Akademikerkindern sind es mit 78 Prozent mehr als dreimal so viele.

Heraus­for­de­rungen und Hürden für Studierende der ersten Generation

Doch warum wagen junge Menschen aus nichtakademischen Familien so viel seltener den Schritt an die Hochschule als ihre Altersgenoss*innen aus Akademikerfamilien? Eine Auswertung des nationalen Berichts Bildung in Deutschland von 2022 liefert Erklärungsfaktoren für die unterschiedliche Studierneigung von Studienberechtigten aus Akademiker- und Nichtakademikerfamilien: „[S]elbst wenn die Hochschulreife erworben wurde, gibt es klare soziale Herkunftsunterschiede, und Studienberechtigte aus Nichtakademikerfamilien entscheiden sich deutlich häufiger gegen ein Studium als Studienberechtigte aus Akademikerfamilien“ (Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung 2020: 185), wie bereits der Vorgängerbericht festgestellt hatte. Unterschiede in der Schulabschlussnote erklären diese unterschiedliche Studierneigung jedoch nur zu 15 Prozent (Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung 2022: 204). Stärkeren Einfluss darauf, dass sich Kinder aus nichtakademischen Familien seltener für ein Studium entscheiden, haben bildungsbiografische, familiäre und vor allem systemische Faktoren, die Studierenden der ersten Generation den Schritt an die Hochschule erschweren.

In unserer Arbeit bei ArbeiterKind.de als deutschlandweit größte gemeinnützige Organisation für Studierende der ersten Generation begegnen uns diese Hürden beim Hochschulzugang täglich in Form von Gesprächen, Anfragen und persönlichen Bildungsgeschichten. Dabei stellen wir immer wieder fest, dass junge Menschen aus nichtakademischen Familien, sofern man es aus der soziologischen Perspektive Pierre Bourdieus (1983: 185) betrachten möchte, über ein geringeres Kapitalvolumen, das heißt über weniger ökonomisches, kulturelles sowie soziales Kapital verfügen als ihre Kommiliton*innen aus Akademikerfamilien. Damit sind sie aufgrund ihrer sozialen Herkunft im Hochschulsystem vor eine Vielzahl von Hürden und Herausforderungen gestellt. Im Folgenden soll daher den drei Kapitalsorten bei Studierenden aus nichtakademischen Familien nachgegangen werden.

Fehlendes ökono­mi­sches Kapital

Ein höherer Bildungsabschluss führt in Deutschland tendenziell zu einem höheren Einkommen. Deshalb verfügen viele Familien, in denen kein Elternteil studiert hat, über weniger finanzielle Ressourcen als Familien, in denen mindestens ein Elternteil über einen akademischen Abschluss verfügt. Entsprechend können junge Menschen, die als Erste in ihrer Familie studieren, weitaus seltener auf finanzielle Unterstützung aus der Herkunftsfamilie zurückgreifen als Akademikerkinder und sind auf externe Mittel, zum Beispiel Stipendien oder die staatliche Studienförderung, angewiesen. Doch selbst, wenn eine externe Studienförderung in Anspruch genommen werden will und familiäre Glaubenssätze wie „Man steht auf eigenen Beinen!“ oder „Wir sind nicht auf Sozialleistungen angewiesen!“ dem nicht im Wege stehen, führt die fehlende Hochschulerfahrung in der Familie häufig dazu, dass Studierende aus nichtakademischen Familien nicht in gleichem Maße wie ihre Kommiliton*innen darüber informiert sind, wie sich ein Studium überhaupt finanzieren lässt. Die gängigen Wege der Studienfinanzierung wie BAföG und Stipendien sind nichtakademischen Familien oft fremd, oder es gibt niemanden, der beim komplizierten und bürokratisch herausfordernden BAföG-Antrag helfen kann.

Auch bei der Bewerbung um Stipendien herrscht eine Diskrepanz zwischen Akademiker- und Nichtakademikerkindern. Die Tatsache, dass Stipendien überhaupt existieren, ist vielen Studierenden der ersten Generation völlig unbekannt. Falls sie doch von Stipendien wissen, ziehen sie eine Bewerbung für eine solche Förderung häufig nicht in Betracht, entweder weil sie sich selbst nicht als „begabt“ einstufen (die Bezeichnung Begabtenförderwerk tut hier ihr Übriges) oder weil sie befürchten, die Bewerbungsanforderungen von überdurchschnittlichen Noten und hohem gesellschaftlichen Engagement nicht erfüllen zu können. Obwohl viele Studierende und Studieninteressierte aus nichtakademischen Familien in hohem Maße sozial engagiert sind, passiert dies oft nicht innerhalb der klassischen ehrenamtlichen Strukturen, weshalb sie gar nicht auf die Idee kommen, dieses Engagement im Zuge einer Stipendienbewerbung als solches anzuführen. Viele Studierende aus nichtakademischen Elternhäusern sind in der Schule oder im eigenen familiären Umfeld höchst engagiert, beispielsweise weil sie die berufstätigen Eltern bei der Betreuung der Geschwisterkinder oder im Familienbetrieb unter-stützen, weil sie bei Behördengängen von Familienangehörigen, die kein oder nicht ausreichend Deutsch sprechen, als Übersetzer*innen fungieren oder weil sie ganz selbstverständlich Aufgaben in ihrer Glaubensgemeinschaft übernehmen. Dadurch fehlt diesen Menschen häufig die Zeit, sich in „klassischen“ offiziellen Ehrenämtern zu engagieren. Und wenn noch niemand im näheren Umfeld studiert hat, ist jungen Menschen meist nicht bewusst, dass all diese Tätigkeiten ebenso wie „klassische“ Ehrenämter als soziales Engagement in eine Stipendienbewerbung einfließen können.

Im Studium angekommen, zeichnen sich Studierende der ersten Generation meist durch eine hohe Eigenverantwortung aus: Dadurch, dass die Eltern finanziell nicht oder nur wenig unter-stützen können, liegt es an den jungen Menschen selbst, nicht nur Inhalte und Organisation des Studiums zu meistern, sondern auch noch den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten sowie Semesterbeitrag und eventuelle Studiengebühren zu decken. Folglich verfügen Studieren-de aus nichtakademischen Elternhäusern über weniger zeitliche Ressourcen, um sich dem Studium zu widmen, da die Sicherung der ökonomischen Existenzgrundlage im Vordergrund steht. Wenn ein oder mehrere Nebenjobs ausgeführt werden müssen, liegt es in der Natur der Sache, dass das Studium von Studierenden der ersten Generation häufig länger dauert als jenes ihrer finanziell besser gestellten Mitstudierenden. Eine längere Studiendauer, die deutlich über der Regelstudienzeit liegt, hat mitunter negative Konsequenzen: Einerseits kann ein langes Studium im Lebenslauf beim späteren Berufseinstieg negativ ausgelegt werden, andererseits neigen junge Menschen, die besonders lange studieren und nebenbei viel arbeiten müssen, besonders häufig dazu, das Studium abzubrechen.

Studierende aus nichtakademischen Familien tendieren darüber hinaus häufiger dazu, ihren Studiengang nicht unbedingt ihren Interessen und Neigungen entsprechend zu wählen, sondern sich für solche Studienfächer zu entscheiden, die nach dem Abschluss ein hohes Gehalt und Arbeitsplatzsicherheit in Aussicht stellen. „Ich konnte mir das Leben nicht in allen Städten leisten und habe mich daher nur auf bestimmte Hochschulen beworben – unabhängig von meinen persönlichen Interessen und Kompetenzen”, berichtet ein Teilnehmer der Online-Werkstatt Herkunft, Finanzen und Studium, die ArbeiterKind.de im April 2024 ausgerichtet hat (ArbeiterKind.de 2024: 5). Ebenso absolvieren Studierende der ersten Generation seltener unbezahlte Praktika und Auslandsaufenthalte während ihres Studiums – zum einen, weil sich die Finanzierung dieser Zusatzerfahrungen schwieriger gestaltet, zum anderen auch deshalb, weil diese als Verzögerungen des ohnehin schon langen Studiums anstatt als Investition in die Zukunft wahrgenommen werden.

Fehlendes kulturelles Kapital

Im Tagesgeschäft von ArbeiterKind.de und im Austausch mit der bundesweiten Gemeinschaft aus Studierenden der ersten Generation ist das Thema Studienfinanzierung allgegenwärtig und stellt mit Abstand die größte Hürde beim Hochschulzugang dar. Gleichwohl zeichnen sich der erschwerte Hochschulzugang für viele junge Menschen, deren Eltern nicht studiert haben, auch durch fehlendes kulturelles Kapital aus. Dieses äußert sich häufig in einem Fremdheitsgefühl in der akademischen Welt. Viele Mitglieder der ArbeiterKind.de-Community berichten, dass sie sich, teils anfänglich und teils durchgehend, an der Hochschule oder Universität nicht zugehörig fühlen. Der bildungsbürgerliche Habitus, der an der Hoch-schule oft vorausgesetzt wird, ist vielen Studierenden aus nichtakademischen Familien fremd: Weder sprechen sie die „richtige“ Sprache, da sie es nicht gewohnt sind, sich mit gehobenem akademischem Vokabular auszurücken, noch stimmen die eigenen Erfahrungen aus der Kindheit in der Herkunftsfamilie mit denen der Kommiliton*innen aus bildungsbürgerlichen Familien überein. Berichten die Studienkolleg*innen von Bildungsreisen sowie Museumsbesuchen und beeindrucken mit Kenntnissen in klassischer Musik und dem Kanon der Weltliteratur, merken viele Studierende der ersten Generation schnell, dass ihre Kindheit von anderen, vermeintlich weniger prestigeträchtigen Erlebnissen geprägt war.ii Diese Differenzerfahrung führt bei vielen Studierenden aus nichtakademischen Familien zum sogenannten Impostor-Syndrom. Das meint das Gefühl, nicht an die Universität zu gehören und den Platz dort nicht verdient zu haben. Eignet man sich den akademischen Habitus hingegen zügig an, um nicht negativ aufzufallen, so führt diese Anpassung im Umkehrschluss bei vielen Studierenden der ersten Generation zu Loyalitäts- und Identitätskonflikten in Bezug auf die Herkunftsfamilie und das Herkunftsmilieu. Viele Studierende der ersten Generation haben den Eindruck, in keiner der beiden Welten dazuzugehören – weder im akademischen noch im Arbeitermilieu. Während man sich anstrengt, sich dem akademischen Bürgertum in Sprache, Auftreten, Geschmack und Interessen anzupassen, hat man gleichzeitig das Gefühl, die eigenen Wurzeln und die eigene soziale Herkunft zu verleugnen. Dies führt für Studierende aus nichtakademischen Familien nicht selten zur Entfremdung von der Herkunftsfamilie, die die Veränderungen der Studierenden in Form von neuer Sprache, neuem sozialen Umfeld, neuem Habitus möglicherweise mit Bedauern oder Argwohn zur Kenntnis nehmen.

Fehlendes soziales Kapital

Neben den finanziellen und den kulturellen Hürden stellt auch das fehlende soziale Kapital – gemeint sind die fehlenden sozialen Verbindungen in Form eines tragfähigen akademischen und beruflichen Netzwerks – eine signifikante Benachteiligung von Studierenden der ersten Generation beim Schritt an die Hochschule dar. Wenn noch keine andere verwandte Person zuvor studiert hat, fehlen nicht nur motivierende Vorbilder im eigenen sozialen Umfeld. Auch das nicht vorhandene Erfahrungswissen rund um das Thema Studium kann junge Menschen daran hindern, ein Hochschulstudium zu beginnen oder die erste Zeit an der Universität bedeutend erschweren. Viele Studierende aus nichtakademischen Familien kennen – abgesehen von ihren Lehrkräften und Ärzt*innen – niemanden, der studiert hat, und haben deshalb keine Vorstellung von der Vielfalt der akademischen Berufe und Studienfächer. Auch der Ablauf eines Studiums – von der Immatrikulation über die Zwischenprüfung bis zur Abschlussarbeit – ist für viele Studierende der ersten Generation zunächst ein Buch mit sieben Siegeln. Während man in einem Akademikerhaushalt beispielsweise häufig ganz beiläufig vom Studienweg der Eltern und älteren Geschwister erfährt und einem Begriffe, akademische Grade oder universitäre Gepflogenheiten erklärt werden, obliegt es jungen Menschen, die als Erste in ihrer Familie studieren, sich die Institution Hochschule in all ihren Abläufen und Eigenarten von Grund auf selbst zu erschließen.

Selbst dann, wenn Studierende aus nichtakademischen Familien den Sprung an die Hochschule aus eigener Kraft geschafft haben, erfahren sie schnell, dass einige ihrer Kommiliton*innen Ressourcen und Privilegien verschiedenster Art haben, auf die sie selbst nicht zurückgreifen können: Steht zum Beispiel die erste wissenschaftliche Arbeit an, können Studierende der ersten Generation oft weder auf Tipps zum Recherchieren zählen, noch kann jemand aus dem familiären Umfeld die Arbeit Korrektur lesen. Diese realen Wettbewerbsnachteile führen oft mindestens zu erheblichem Mehraufwand und Unsicherheiten, im schlimmsten Fall aber zu schlechteren Leistungen oder dazu, dass der akademische Bildungsweg in Zweifel gezogen wird.

Am augenscheinlichsten wird das Fehlen eines akademischen Netzwerks, wenn die ersten Schritte ins Berufsleben bevorstehen. Diese werden regelmäßig nicht ausschließlich durch eigenes Können, nicht durch gute Noten oder die perfekte Bewerbungsmappe ermöglicht, sondern insbesondere durch den Kontakt zu Türöffner*innen: Personen aus dem eigenen Netzwerk ermöglichen Praktika in angesehen Unternehmen und Organisationen oder informieren darüber, dass in einer bestimmten Abteilung eine Stelle für Berufseinsteiger*innen frei wird. Eine Studie der Boston Consulting Group belegt: „FirstGen-Professionals berichten mit fast 50 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit, dass sie keinen Zugang zu Netzwerken haben, die ihnen beim Berufseinstieg und bei der weiteren Entwicklung ihrer Karriere von Nutzen sind“ (Ullrich et al. 2023: 6). In der Konsequenz fällt Erstakademiker*innen der Berufseinstieg häufig schwerer, und es dauert länger, bis eine passende Stelle gefunden werden kann (Ullrich et al. 2023: 6). In der Arbeit von ArbeiterKind.de fällt auch immer wieder auf, dass Erstakademiker*innen ihr erstes Gehalt durch fehlende Kontakte zu Personen mit Erfahrung im akademischen Berufsleben häufig schlechter verhandeln als Berufseinsteiger*innen aus Akademikerfamilien – und so häufig auch finanziell hinter ihren Potenzialen zurückbleiben.

Studi­en­pio­niere mit Überset­zungs­kom­pe­tenz

Das deutsche Hochschulsystem ist darauf ausgelegt, dass Studierende gewisse Privilegien mitbringen: Die Finanzierung soll möglichst vom Elternhaus aus gesichert sein, sodass die jungen Menschen in Vollzeit und ohne Zeitverlust durch Nebenjobs studieren können. Dies sehen die Studienverlaufspläne so vor. Auch Care-Verpflichtungen für eigene Kinder oder pflegebedürftige Familienmitglieder werden in der Imagination der typischen deutschen Studierenden nicht mitgedacht, von denen erwartet wird, dass sie an jedem Wochentag von frühmorgens bis spätabends verteilt Lehrveranstaltungen besuchen und sich in der vorlesungsfreien Zeit mehrere Wochen lang ganztags dem Verfassen von Hausarbeiten widmen können, ehe sie für ein Pflichtpraktikum vorübergehend in eine andere Stadt ziehen. Auf Studierende aus nichtakademischen Elternhäusern treffen diese Privilegien häufig nicht zu, weshalb der Weg an und durch die Hochschule für sie häufig mit Hürden und Herausforderungen versehen ist. Studierende der ersten Generation navigieren regelmäßig einen Hochschulalltag, der mit dem Klischee der faulen Studierenden wenig zu tun hat: Geldsorgen, BAföG-Anträge, mehrere Nebenjobs, Fremdheitsgefühle und ein Leben unter der Armutsgrenze sind hier die soziale Realität.

Trotzdem ist das Studium von Studierenden der ersten Generation nicht nur eine Frage des persönlichen sozialen Aufstiegs. Hochschulen wie Gesellschaft profitieren davon, wenn möglichst viele interessierte Bildungsaufsteiger*innen ein Studium aufnehmen und abschließen. Junge Menschen, die mit dem Studium einen Weg gehen, den noch niemand zuvor in ihrer Familie eingeschlagen hat, begeben sich in eine für sie fremde Welt, deren Regeln und Risiken sie erst verstehen und erlernen müssen. Dieser Schritt ins Ungewisse erfordert Mut, Eigeninitiative, Leistungsbereitschaft und nicht selten ein großes Maß an Resilienz – Qualitäten, die sowohl in der akademischen Arbeitswelt als auch im gesellschaftlichen Zusammenleben von unschätzbarem Wert sind. Erstakademiker*innen sind so häufig außerordentlich selbstständig und verantwortungsbewusst, da sie ihr Leben schon früh selbst meistern mussten und auf wenig Unterstützung aus dem sozialen Umfeld zurückgreifen konnten (Minicozzi/Roda 2020: 45). Die vielen Hürden und Herausforderungen, die auf dem Weg zum Hochschulabschluss bewältigt werden mussten, begründen darüber hinaus nicht nur ein starkes Durchhaltevermögen; Erstakademiker*innen wurden dadurch naturgemäß zu kompetenten Problemlöser*innen, deren Wille, die eigenen Ziele zu erreichen, sich in einer außerordentlich hohen Arbeitsmoral niederschlägt (Minicozzi/Roda 2020: 45).

Beim Übergang vom nichtakademischen Elternhaus in die akademische Welt vollziehen Studierende der ersten Generation eine Transformation, die für Hochschulen und Gesellschaft in der heutigen Zeit von besonderer Relevanz ist. Durch das Aufwachsen im nichtakademischen und das Eintauchen in das akademische Milieu entwickeln sie als Bildungsaufsteiger*innen Transformations- und Übersetzungskompetenzen zwischen zwei höchst unterschiedlichen Welten. Erstakademiker*innen besetzen somit eine Schnittstellenposition, in der nur diejenigen Menschen souverän agieren können, die beide Welten kennen und den Drahtseilakt des Lebens zwischen ihnen erfolgreich gemeistert haben. In einer Zeit, die geprägt ist von gesellschaftlicher Zersplitterung sowie von Fake News und Verschwörungstheorien, ist es umso wichtiger, dass es Menschen gibt, die zwischen Akademiker- und Arbeitermilieu, zwischen wissenschaftlicher Sprache und leicht verständlicher Alltagssprache changieren und vermitteln und so wissenschaftliche Fakten der breiten, vor allem der nichtakademischen Öffentlichkeit zugänglich machen können. Erstakademiker*innen machen seit Beginn ihres Studiums genau das, wenn sie im Elternhaus ein anderes Sprachregister wählen als in Diskussionen im akademischen Seminar. Nicht nur deshalb ist es Aufgabe von Politik und Hochschulen, die Hürden im Bildungssystem zu reduzieren und dafür zu sorgen, dass Bildung künftig keine Frage der sozialen Herkunft mehr ist.

 

Dr. Martina Kübler, geb. 1987, Bundeslandkoordinatorin Bayern für die gemeinnützige Organisation ArbeiterKind.de.

 

Literatur

ArbeiterKind.de 2024: Ergebnisbroschüre der Online-Werkstatt „‚Über Geld spricht man nicht…‘ – Wir schon! Herkunft – Finanzen – Studium“, Berlin, https://www.arbeiterkind.de/sites/default/files/ergebnisbroschuere_online-werkstatt_herkunft_und_finanzen.pdf.

Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung 2020: Bildung in Deutschland 2020. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung in einer digitalisierten Welt, Bielefeld, https://www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/bildungsbericht-2020/pdf-dateien-2020/bildungsbericht-2020-barrierefrei.pdf.

Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung 2022: Bildung in Deutschland 2022: Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zum Bildungspersonal, Bielefeld, https://www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/bildungsbericht-2022/pdf-dateien-2022/bildungsbericht-2022.pdf.

Bourdieu, Pierre [1979] 1987: Die feinen Unterschiede, Berlin.

Bourdieu, Pierre 1983: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in Kreckel, Reinhard (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten, Göttingen, S. 183-198.

Kracke, Nancy et al. 2024: Neuer Bildungstrichter: Trotz Akademisierungsschub immer noch ungleicher Zugang zur Hochschule (DZHW Brief 02|2024), Hannover, https://doi.org/10.34878/2024.02.dzhw_brief.

Minicozzi, Lisa/Roda, Allison 2020: Unveiling the Hidden Assets that First-generation Students Bring to College, in: Journal for Leadership and Instruction, Jg. 19, H. 1, S. 43-46, https://files.eric.ed.gov/fulltext/EJ1255874.pdf.

Ullrich, Sebastian et al. 2023: Das schlummernde Potenzial der „First-Generation Professionals“: Herausforderungen von FirstGen-Professionals und Wege, ihr volles Potenzial auszuschöpfen, München, https://web-assets.bcg.com/57/20/86ed7fb549fb95792dc494b67767/das-schlummernde-potenzial-der-first-gen-professionals-bcg-studie.pdf.

Anmerkungen

i Zu den im Text verwendeten Begrifflichkeiten: Der Begriff Arbeiterkind im Namen der Organisation ArbeiterKind.de wirkt durch seine Prägnanz und schließt auch Kinder von Selbstständigen, Handwerker*innen oder Angestellten mit ein. Denn entscheidend ist, ob es in der Familie eine akademische Tradition gibt. Die Begriffe Kinder beziehungsweise Studierende aus nichtakademischen Familien/Elternhäusern und Studierende der ersten Generation werden im Folgenden als Synonyme verwendet, letzterer in Anlehnung an den im angloamerikanischen Sprachraum geläufigen Begriff first-generation students. Menschen, die als Erste in ihrer Familie einen Studienabschluss erreicht haben, bezeichnet der Text als Erstakademiker*innen.

ii Für detaillierte Ausführungen zum Habitus-Begriff, vgl. Pierre Bourdieus Die feinen Unterschiede. In seinem epochalen Werk konstatiert Bourdieu ([1979] 1987), dass Ausdrucksformen wie der sprachliche Ausdruck, Geschmack, und Hobbys nicht zufälliger Ausdruck individueller Präferenzen sind, sondern auf einen milieu- beziehungsweise klassenspezifischen Habitus zurückgehen.

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