Rezension: War and Justice oder die Ungleichheit vor dem Völkerrecht
Vetter, Marcus/Gentile, Michelle (Regie und Buch): War and Justice, Filmperspektive/Elsani Film 2024, 88 Min.
Der folgende Text basiert auf einer Einführung des Autors zum Film War and Justice während des Oldenburger Filmtags gegen den Krieg 2024 (September).
Der Dokumentarfilm War and Justice erzählt die 25-jährige Geschichte des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC, Den Haag) in seiner Mission, die schwersten Verbrechen an der Menschheit zu ahnden, zu begrenzen, zu beenden. Der Film läuft seit Juni 2024 in den Kinos und befasst sich mit der Arbeit und mit den Protagonisten des ICC, aber auch mit den immensen völkerrechtlichen Problemen, mit denen er zu kämpfen hat.
War and Justice – der Titel des Films könnte zumindest auf den ersten Blick verstören; nämlich dann, wenn man Justice mit Gerechtigkeit übersetzt – denn Krieg und Gerechtigkeit, das passt nicht zusammen. Versuchen wir es also mit einer anderen Übersetzung: Justice gleich Justiz beziehungsweise Gerichtsbarkeit; und damit kommen wir dem Schwerpunktthema dieses spannenden Dokumentarfilms auf die Spur.
War and Justice erzählt nämlich die etwa 25-jährige Geschichte des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag – kurz: ICC für International Criminal Court. Der Film beleuchtet dessen Entstehung, Entwicklung und Bedeutung, aber auch die schwerwiegenden Probleme, mit denen er zu kämpfen hat. Dabei kann die Komplexität etwa von Zuständigkeitsfragen, juristischen Sachverhalten und Beweisführung im Film oft nur angerissen werden. Im Kern geht es um den verwegenen Anspruch, die schwersten Verbrechen an der Menschheit, Angriffskriege, Kriegsverbrechen und Völkermord zu ahnden, zu begrenzen, ja womöglich zu beenden. Doch wie wir zuletzt angesichts des Ukraine- und Gaza-Kriegs besonders drastisch vor Augen geführt bekommen, können solche Verbrechen im Krieg tatsächlich noch immer nicht verhindert oder begrenzt werden, und allzu häufig können die völkerrechtswidrig handelnden Staaten und ihre verantwortlichen Funktionäre nicht zur Rechenschaft gezogen werden.
Denn: Das größte Verbrechen ist der Krieg selbst, und jeder Krieg führt letztlich zu Kriegsverbrechen und Gräueltaten an der Zivilbevölkerung – so sah es schon der ehemalige Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen, Benjamin Ferencz, der auch einer der Wegbereiter des Internationalen Strafgerichtshofs war. Er stellte die Arbeit des Gerichts in die direkte Tradition der Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher des NS-Regimes (1945-49). Ferencz, der 2023 verstarb und dem der Film gewidmet ist, steht auch im Mittelpunkt des Films und zwar zusammen mit dem Argentinier Luis Moreno-Ocampo, der 2003 zum ersten Chefankläger ernannt wurde, und Karim Khan, dem aktuellen Chefankläger des ICC.
War and Justice ist ein Film, der aktueller nicht sein könnte. Denn neben früheren Kriegen und Gerichtsverfahren werden darin auch die zwei grausamen Kriege der Jetztzeit verhandelt: der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der seit Februar 2022 mit Tausenden von zivilen Todesopfern, zigtausend Verletzten und verheerenden Zerstörungen tobt sowie der Gaza-Krieg, den Israel seit Oktober 2023 als Verteidigungskrieg gegen die Hamas führt, die zuvor ein grausames Massaker in Israel mit zahlreichen Todesopfern, Geiselnahmen und Misshandlungen verübt hatte. Dieser Krieg Israels gegen die Hamas soll bislang mehrere zehntausend Todesopfer in der palästinensischen Bevölkerung gefordert haben, von den unzähligen verletzten und vertriebenen Zivilist*innen, von systematischen Zerstörungen, Aushungern, unsäglichem Elend und Chaos ganz zu schweigen. Weltweit ist deshalb immer häufiger von „Rachefeldzug“ Israels, von „Vernichtungskrieg“, ja von „Völkermord“ die Rede – Kategorisierungen, mit denen sich auch nationale wie internationale Gerichte befassen müssen.
Darüber hinaus toben weltweit noch viele andere Kriege und militärische Konflikte, die früher oder später den ICC möglicherweise ebenfalls beschäftigen. Es geht in War and Justice tatsächlich um die großen Menschheitsprobleme in Zusammenhang mit Krieg und Terror, Vertreibung und Tod, Zerstörung und Elend. Und es geht im Kern um die Frage, ob das humanitäre Völkerrecht und das System der internationalen Gerichtsbarkeit tatsächlich in der Lage sind, ihren Hauptsinn zu erfüllen: Zivilist*innen zu schützen, Kriegsverbrechen und Völkermord zu ahnden oder Kriege zu verhindern oder zu beenden. Außerdem schwebt über allem die Frage: Wie können Angriffskriege und Kriegsverbrechen vor Gericht gebracht werden, wenn die größten Weltmächte und notorisch völkerrechtswidrig agierenden Staaten sich kategorisch weigern, den ICC als globales Gericht anzuerkennen? Zumeist aus geopolitischen und -strategischen Machtinteressen.
Angesichts der katastrophalen Erfahrungen mit zwei Weltkriegen hat sich nach 1945 auf dem Hintergrund der Nürnberger Prozesse ein neues Völkerrechtssystem entwickelt, das als zivilisatorischer Fortschritt gilt. Von zentraler Bedeutung sind dabei die Charta der Vereinten Nationen von 1945, die Allgemeine Menschenrechtserklärung von 1948, die Völkermord-Konvention von 1948 (Konvention über Verhütung und Bestrafung des Völkermordes) sowie die Genfer Konventionen von 1949 plus deren Zusatzprotokolle, mit denen der Grundstein des „humanitären Völkerrechts“ gelegt worden ist. Die Schattenseite dieses humanitären Völkerrechts gleich vorweg: Kriege bleiben quasi „sakrosankt“ und sollen letztlich „humanisiert“ werden – was im Krieg, dem eigentlichen Verbrechen, kaum bis nie gelingt.
Diese Problematik führt uns zum thematischen Schwerpunkt des Films: zum Internationalen Strafgerichtshof, dem ICC, der auf Grundlage der skizzierten völkerrechtlichen Regelungen arbeitet, sofern die Voraussetzungen für seine Tätigkeit vorliegen. Er ist ein ständiges internationales Strafgericht mit Sitz in Den Haag – und zwar außerhalb der UNO.[i] Rechtsgrundlage des Strafgerichtshofs ist das Römische Statut von 1998. Seine Tätigkeit begann 2002. Zuvor sind für bestimmte kriegerische Konflikte und staatliche Konfliktparteien vom UN-Sicherheitsrat ad hoc internationale Tribunale ins Leben gerufen worden – wie für das ehemalige Jugoslawien oder Ruanda.
Die rechtliche Zuständigkeit des ICC ist bei vier Kernverbrechen des Völkerstrafrechts gegeben: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen der Aggression, also Angriffs-kriege, und Kriegsverbrechen. Er soll damit auch der Abschreckung vor solchen Taten dienen. Die formelle Zuständigkeit des Strafgerichtshofs ist jedoch mehrfach begrenzt: Er kann, anders als der Internationale Gerichtshof, nur über beschuldigte Individuen, nicht über Staaten urteilen. Die beschuldige Person muss Staatsangehörige eines Staates sein, der die Zuständigkeit des ICC anerkennt (als Mitglied- beziehungsweise Vertragsstaat oder als Staat, der die Zuständigkeit des Gerichts formell anerkennt), oder die Tat muss auf dem Territorium eines solchen Vertragsstaates begangen worden sein. Außerdem ist die formelle Zuständigkeit des ICC nachrangig gegenüber nationaler Gerichtsbarkeit, das heißt, er kann gemäß Art. 17 des ICC-Statuts eine Tat nur dann verfolgen, wenn eine nationale Strafverfolgung nicht möglich oder nicht gewollt ist oder aber nicht ernsthaft betrieben wird (Grundsatz der Komplementarität).
Unterstützt respektive anerkannt wird der ICC von 124 Vertragsstaaten, darunter alle Staaten der EU. Dies verleiht ihm zwar hohe Legitimität, doch zahlreiche Mitgliedstaaten der UNO (etwa 70) haben ihn nicht anerkannt: Es sind darunter die USA, China, Russland und Indien, aber auch Israel und die Türkei. Die Zuständigkeit des Strafgerichtshofs umfasst 60 Prozent aller Staaten mit etwa 30 Prozent der Weltbevölkerung.
Tätig werden kann der ICC aufgrund der Anrufung durch einen Vertragsstaat, der (einstimmigen) Übertragung eines Falles durch den UN-Sicherheitsrat oder aufgrund eigener Initiative des Chefanklägers. Der ICC kann Ermittlungen durchführen, Haftbefehle erlassen und durch seine Mitgliedsstaaten vollstrecken und die mutmaßlichen Delinquenten an den ICC nach Den Haag überstellen lassen. Beschuldigte können in Untersuchungshaft genommen und in mündlichen Verhandlungen zu Freiheitsstrafen, Wiedergutmachung und Entschädigungsleistungen verurteilt werden. Ihre Freiheitsstrafen verbüßen die Verurteilten im Gefängnis des Gerichtshofs – spöttisch auch „Den Haag Hilton“ genannt.
In War and Justice werden diese komplizierten Hürden und komplexen juristischen Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof exemplarisch aufgezeigt und problematisiert. Doch im Kern geht es immer wieder um das Grundproblem, das dem Prinzip der souveränen Gleichheit aller Staaten gemäß UN-Charta diametral widerspricht: die faktisch nicht bestehende Gleichheit vor dem Völkerrecht. Es geht dabei um die Tatsache, dass politisch und militärisch einflussreiche Nationen, insbesondere Staaten, die notorisch das Völkerrecht brechen, sich der Gerichtsbarkeit des ICC auf Dauer entziehen können, weil sie dessen Statuten nicht ratifiziert haben.
2013 monierte die Afrikanische Union eine einseitige Verfolgung mutmaßlicher Kriegsverbrecher nach rassistisch-neokolonialen Kriterien durch den ICC. Die Begründung: Bis dahin hatte das Gericht ausschließlich Verfahren gegen Afrikaner eröffnet, was sich erst allmählich änderte. Auch Menschenrechtsorganisationen kritisieren die konzeptionelle Ungerechtigkeit und notorische Straflosstellung bestimmter Staaten und ihrer Vertreter*innen. Diese Doppelstandards und die Gefahr der Instrumentalisierung des ICC werden auch im Film immer wieder thematisiert.
Ganz besonders deutlich wird dies im Fall der USA und ihrer NATO-Bündnispartner: Bekanntlich haben die sicherheitsstaatlichen Reflexe der westlichen Welt auf islamistische Terroranschläge in New York City am 11. September 2001 mit fast 3.000 Todesopfern eine Gewaltwelle ausgelöst, die zu Krieg und Terror, Folter und Elend führte. Und zwar durch die Art und Weise westlicher Terrorbekämpfung, eines verheerenden „Kriegs gegen den Terror“ der USA und ihrer Verbündeten, der zu wahren Verwüstungen im arabischen Raum führte (und zu dramatischen Einschränkungen der Bürger- und Freiheitsrechte in westlichen Demokratien).
Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der USA und der „Koalition der Willigen“ gegen den Irak (Ahnefeld/Kühn 2023) und der 20 Jahre währende Afghanistankrieg der NATO waren Kriege mit zahlreichen Kriegsverbrechen, mehreren hunderttausend Toten und unzähligen Verletzten. Hinzu kommen extralegale Hinrichtungen von Terrorverdächtigen per US-Drohneneinsätzen, denen immer wieder Zivilist*innen als sogenannte „Kollateralschäden“ zum Opfer fallen und für die auch Deutschland als wichtige Leitstelle (so über Ramstein) Mitverantwortung trägt; des Weiteren: das US-Foltercamp Guantànamo und das CIA-Folterprogramm und nicht zuletzt auch das jahrelange skandalöse Flucht- und Gefangenen-Schicksal des Wikileaks-Journalisten Julian Assange, dem die Aufdeckung von US-Kriegsverbrechen zum Verhängnis wurde – wohingegen die Kriegsverbrecher weitgehend unbehelligt blieben.
Und nicht zu vergessen: die massiven Waffenexporte an autoritäre Regime, in Krisen- und Kriegsgebiete mit der Folge, damit Beihilfe zu Kriegsverbrechen zu leisten. Das sind nur einige Beispiele für die zahlreichen Exzesse dieses weitgehend völker- und menschenrechtswidrigen „Antiterrorkampfes“ der USA und ihrer Verbündeten. Keiner der beteiligten Staaten, kein*e verantwortliche*r Staatschef*in und keine Minister*innen oder Militärchef*innen sind deshalb je wegen Völkerrechtsverbrechen des Angriffskriegs, wegen Kriegsverbrechen oder Beihilfe zu solchen zur Rechenschaft gezogen und verurteilt worden. Angesichts der aktuellen Kriegsszenarien geraten diese dunkle Kehrseite „westlicher Werte“, die Doppelmoral des Westens, mehr und mehr in Vergessenheit. Der Film versucht, die Verdrängung zu durchbrechen.
Doch die USA verlassen sich nicht nur auf ihre Nichtanerkennung des ICC, sondern sichern sich auch noch rigoros gegen dessen Ermittlungsversuche ab. Da diese Komponente im Film nur beiläufig vorkommt, hier ein paar Beispiele dieser Obstruktionspolitik: Durch den Abschluss bilateraler Verträge mit ICC-Vertragsparteien und anderen Staaten versuchen die USA, eine Überstellung von beschuldigten US-Staatsangehörigen an den ICC vorsorglich auszuschließen. Seit 2002 sind US-Präsidenten dazu ermächtigt, eine militärische Befreiung von US-Staatsbürger*innen anzuordnen, die sich in Den Haag verantworten müssten. Eine Zusammenarbeit mit dem Gericht wird US-Behörden verboten. Anlässlich eines Ermittlungsersuchens des ICC gegen US-Streitkräfte und Geheimdienste wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen in Afghanistan, das den ICC anerkennt, drohten die USA im Fall von Ermittlungen gegen US-Bürger mit Einreiseverboten und Finanzsanktionen gegen Richter*innen und Staatsanwälte des ICC sowie mit deren Verfolgung durch Strafjustizbehörden der USA (Deutsche Welle 2018). 2019 setzten die USA erstmals die Sanktionen auch um, erließen Einreiseverbote und entzogen erteilte Visa (beck aktuell 2019). Auch wenn die Sanktionen wieder aufgehoben wurden: Die feindliche Haltung gegenüber dem Internationalen Strafgerichtshof und der geo- und herrschaftspolitische Völkerrechts-Nihilismus der USA sind bis heute geblieben.
Übrigens: Nach Artikel 70 des ICC-Statuts stellen Behinderung, Einschüchterung oder Vergeltungsmaßnahmen gegen Bedienstete des ICC eine Straftat dar, die mit bis zu fünf Jahren Haft oder Geldstrafe geahndet wird – bislang ohne Konsequenzen.
Zum Schluss noch ein paar Takte zur aktuellen Entwicklung auf dem Hintergrund des Ukraine- und des Gaza-Kriegs: Mit Bezug auf beide Kriege untersuchen und ermitteln sowohl der Internationale Gerichtshof der UN als auch der Internationale Strafgerichtshof. Es gibt mehrere Klagen und Verfahren, unter anderem wegen Völkermords und Kriegsverbrechen. Doch es fehlt dieser internationalen Justiz immer noch an breiter Akzeptanz, politischer Unterstützung und an Durchsetzungsfähigkeit (Kaleck/Schüller 2024). Doch womöglich stärken diese grausamen Kriege paradoxerweise auch die Bedeutung des internationalen Justizsystems, worauf einiges hinzudeuten scheint (vgl. Paech 2024).
(1) 43 Vertragsstaaten haben 2023 beantragt, dass der ICC wegen möglicher Kriegsverbrechen Russlands in der Ukraine ermittelt. Im März 2023 erlässt er Haftbefehle gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin und weitere russische Staats- und Militärvertreter, wegen begründeten Verdachts auf völkerrechtswidrige Deportation ukrainischer Kinder nach Russland, auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Erstmals wird ein Regierungschef eines Mitgliedstaates des UN-Sicherheitsrats mit Haftbefehl gesucht, der von ICC-Mitgliedstaaten vollstreckt werden müsste – was jedoch häufig, etwa wegen ökonomischer oder geopolitischer Interessen, nicht passiert (wie etwa im September 2024, als Putin unangefochten in die Mongolei reisen konnte, obwohl das Land den ICC anerkennt). Die Zuständigkeit des ICC gegen russische Vertreter ist bei mutmaßlichen russischen Völkerrechtsverbrechen auf dem Gebiet der Ukraine nur deshalb gegeben, weil die Ukraine das Gericht insoweit formell anerkannt hat – auch wenn Russland selbst dieses nicht anerkennt. Speziell wegen des Verdachts eines Angriffskriegs kann gegen Russland allerdings nach einer 2017 erfolgten Statuten-Änderung nicht ermittelt werden, weil dafür die Anerkennung des Strafgerichtshofs durch den mutmaßlichen Aggressor erforderlich ist.
(2) Was im Film, der 2023 fertig gestellt wurde, noch nicht vorkommt: Im Mai 2024 beantragte ICC-Chefankläger Karim Khan Haftbefehle gegen Hamas-Führer wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darunter Mord, Geiselnahmen, Vergewaltigungen und Folter. Auch gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, Regierungsmitglieder und Militärs beantragte er Haftbefehle. Ihnen werden Kriegsverbrechen, die Kriegsmethode des Aushungerns, einschließlich der Verweigerung humanitärer Hilfslieferungen sowie gezielte Bekämpfung von Zivilist*innen zum Vorwurf gemacht (Khan 2024; Neuber 2024). Solche Gerichtsverfahren mit Haftbefehlen – die im Fall Hamas und Israel allerdings noch nicht erlassen wurden (Stand: Oktober 2024) – sind nur möglich, weil Palästina als UN-Beobachterstaat dem ICC 2015 beitrat (Art. 125 Abs. 3 ICC-Statut; vgl. Epik/Geneuss 2024); damit ist er auch für die Strafverfolgung von Völkerrechtsverbrechen in den von Israel besetzten Gebieten des Westjordanlands und im von der Hamas kontrollierten Gazastreifen zuständig – auch wenn Israel die Zuständigkeit des Gerichtshofs selbst nicht nur nicht anerkennt, sondern Ermittlungen auch noch tatkräftig behindert: So lässt Israel die ICC-Ermittler nicht in den Gazastreifen einreisen; und die israelische Regierung ließ schon jahrelang eine Geheimdienst-Operation des Mossad gegen amtierende ICC-Chefankläger durchführen. Dabei sollen Mitarbeiter*innen des Gerichts und ihre Familien abgehört, observiert, eingeschüchtert und bedroht worden sein (Davies et al. 2024; ORF 2024).
Die waghalsige Begründung der israelischen Regierung für ihre Verweigerungs- und Obstruktionshaltung gegenüber dem ICC, die auch von der deutschen Ampelregierung staatsräsontreu übernommen wird: Israel sei ein Rechtsstaat und den Grundwerten des internationalen Rechts verpflichtet und voll und ganz in der Lage, angebliche Rechtsverletzungen selbst zu untersuchen. Deshalb gebe es keinen Platz für die Einmischung des ICC in Angelegenheiten, die in die Zuständigkeit Israels fallen (Steinke 2024).
Solange der ICC von geostrategisch mächtigen, militärisch hochgerüsteten kriegführenden Staaten nicht anerkannt, zudem attackiert und behindert wird, so lange wird dieses internationale Strafrechtssystem unvollkommen, ineffizient sowie instrumentalisierungsanfällig sein. Entscheidende Ziele sind jedenfalls: Gleichheit vor dem Völkerrecht und damit ein Ende von Doppelmoral und Straflosigkeit. Alle begangenen oder mutmaßlichen Völkerrechtsverbrechen, die nicht verjähren, müssen dringend von unabhängiger internationaler Seite aufgeklärt und geahndet werden. Im Zweifel auch mithilfe von UN-Sondertribunalen oder nach dem sogenannten Weltrechtsprinzip, wonach die einzelnen Staaten, so auch die Bundesrepublik, mit ihren nationalen Gerichten für die strafrechtliche Verfolgung von Völkerstraftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch zuständig und ermächtigt sind, um mutmaßliche Täter zur Verantwortung zu ziehen (vgl. Kaleck/Schüller 2024); und zwar auch dann, wenn die Taten nicht auf ihren Hoheitsgebieten, nicht durch einen ihrer Staatsbürger oder gegen einen ihrer Staatsbürger begangen wurden.
So viel zu den völkerrechtlichen Hintergründen, Widersprüchlichkeiten und Defiziten der Filmthematik von War and Justice. Der Film stellt das große Engagement der Protagonisten des ICC für internationale Verbrechensaufklärung und -ahndung sowie gegen den Krieg als das größte Verbrechen in den Mittelpunkt und vermittelt insoweit auch, bei aller Skepsis, so dringend nötige Zuversicht.
Rolf Gössner
Zusätzlich verwendete Literatur
Ahnefeld, Anna-Katharina/Kühl, Christiane 2023: Irak-Invasion: An der Strafverfolgung im Ukraine-Krieg zeigt sich Doppelmoral des Westens, in: Frankfurter Rundschau vom 27.03.2023, https://www.fr.de/politik/irak-krieg-ukraine-strafverfolgung-voelkerrecht-bush-usa-putin-russland-sondertribunal-92173467.html.
Beck-aktuell. Heute im Recht 2019: USA sanktionieren Ermittler beim Internationalen Strafgerichtshof, in: beck-aktuell vom 18.03 2019, https://rsw.beck.de/aktuell/daily/meldung/detail/usa-sanktionieren-ermittler-beim-internationalen-strafgerichtshof.
Davies, Harry et al. 2024: Spying, hacking and intimidation: Israel’s nine-year ‘war’ on the ICC exposed, in: The Guardian vom 28.05.2024, https://www.theguardian.com/world/article/2024/may/28/spying-hacking-intimidation-israel-war-icc-exposed.
Deutsche Welle 2018: USA drohen Strafgerichtshof Sanktionen an, in: Deutsche Welle vom 10.09.2018, https://www.dw.com/de/usa-drohen-dem-internationalen-strafgerichtshof-sanktionen-an/a-45435352.
Kaleck, Wolfgang/Schüller, Andreas 2024: Das humanitäre Völkerrecht zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in: APuZ. Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 30-32, https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/ApuZ_2024-30-32_online.pdf.
Khan, Karim 2024: UN-Strafgerichtshof: „Ungeachtet etwaiger militärischer Ziele sind die Mittel Israels kriminell“, in: Telepolis vom 21.05.2024, https://www.telepolis.de/features/UN-Strafgerichtshof-Ungeachtet-etwaiger-militaerischer-Ziele-sind-die-Mittel-Israels-kriminell-9724991.html?seite=all.
Neuber, Harald 2024: Anklagen im Nahost-Konflikt: Die Weltunordnung steht vor Gericht, in: Telepolis vom 22.05.2024, https://www.telepolis.de/features/Anklagen-im-Nahost-Konflikt-Die-Weltunordnung-steht-vor-Gericht-9726157.html.
ORF 2024: Israel spionierte IStGH aus, in: ORF vom 28.05.2024, https://orf.at/stories/3359013/.
Paech, Norman 2024: Gaza: Krieg und Justiz, in: Ossietzky, H. 12, 2024, https://www.ossietzky.net/artikel/gaza-krieg-und-justiz/.
Steinke, Ronen 2024: Ein gutes Wort für Netanjahu, in: Süddeutsche Zeitung vom 25.07.2024.
[i] Zur UNO gehört der Internationale Gerichtshof (IGH), ebenfalls in Den Haag.