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Deutscher Kultur­staat?

Aus: vorgänge Nr.24 (Heft 6/1976), S. 9-11

Das Thema ist als Frage gestellt, und tatsächlich ist es in all seinen Bestandteilen- trotz (oder wegen?) unendlicher Diskussion-eine Frage geblieben, Vielleicht deshalb, weil es an handlungsfähigen Adressaten mangelt, die bündige Antworten umzusetzen vermöchten? Darauf also, was denn „deutsch” an dem erfragten Kulturstaat zu sein habe? Hitler wußte es, freilich wußte er es schlecht. Und wir heute? Kulturell nachhaltig geschädigt durch das, was die Hitlerdeutschen uns als deutsche Kultur auferlegten, mögen wir jedenfalls nationale Ansprüche nicht als eine Art Besatzungsmacht zuständig fürs kulturell Deutsche machen, das nationale Grenzen nie hatte und nun auch noch in gegenläufige imperiale Verbindlichkeiten geraten ist.
Nun zielt meine Fragestellung weniger auf so heikle Verwobenheiten als vielmehr auf das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland eben als- deutscher- Kulturstaat. Der Adressat ist damit wenigstens klar: diejenigen, die als Politiker staatliche, öffentliche Kulturpolitik verantworten und für den erhobenen Anspruch Kulturstaat Leistungen vorweisen müssen. Deutscher Kulturstaat als Frage zielt also ab auf notabene demokratische Leistungen des Staates für die Kultur in seiner beanspruchten Eigenschaft, ein Kulturstaat zu sein. Solche Leistungen setzen einen politischen Begriff von Kultur voraus, der normativ und instrumental die Staatstätigkeit bestimmt.

Es ist den Staaten und den Staatsmännern, den Politikern schlechthin immer leicht gefallen, Kultur selber als politisches Mittel zu sehen, das ihnen nützlich oder schädlich ist. Kultur wird alsbald staatsrepräsentativ oder nestbeschmutzend, sie gilt als gesund oder als zersetzend, sie leistet der so oder so bestimmten ideologischen Gemeinschaft ihren Dienst, so etwas wie einen „konstruktiven Beitrag”, oder wiederum das Gegenteil, sie ist elitär unzugänglich, gar AntiKultur, schädlich wie das drogengefährdete Flower-power-Milieu, oder sie ist konterrevolutionär, was immer das zum jeweiligen Zeitpunkt sein mag. Der Staat weiß jedenfalls, was er kulturpolitisch will, nämlich Kultur als Mittel seiner verschiedenen eigenen Zwecke, nicht als Ziel in sich selbst- wie nach heute gängiger Meinung Frieden ein Ziel in sich selbst ist und in anbetracht der Verhältnisse wohl auch sein muß. Die- wie sie unsäglich heißen- Kulturschaffenden mischen bei diesen Argumentationsreihen fleißig mit, wollen selber leben, sind also trotz ihrer augenscheinlichen Legitimation nicht die besten Zeugen.
Jetzt gewinnt angesichts solcher Verlegenheiten und wegen wirklicher und überaus wirksamer sozialer Abstufungen, wegen Grenzen beim gesellschaftlichen Zugang zur Kultur die Losung von der Partizipation, von der Teilhabe an Kultur normativen Charakter, und zwar so sehr und so dringlich, daß die Herstellung solcher Partizipation als universale Forderung gar in die Verträge der KSZE, der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa”, eingegangen und damit hochoffiziell geworden ist. Staatliche Kulturpolitik wird darauf verpflichtet, die Völker, die Menschen an der Kultur, an den Künsten besonders teilhaben zu lassen.

Es stellen sich im ja schon uralten Vermittlergeschäft neue Berufsnamen heraus, von denen der des „Animateurs” der wohl aufschlußreichste ist: der des „Anregers”, der Kultur in die weiten Bereiche der Diaspora, des kulturellen Niemandslandes hineintragen soll, als Veranstalter, Pädagoge, als Dirigent der Partizipation. Die exklusiven, überdies kostspieligen Tempel der Kultur sollen geöffnet werden, die Theater, die Happening-Künstler gehen in Werkhallen, auf die Straßen, die Mitwirkung des Publikums wird veranlaßt, und der Animateur holt Farben, Töne, Texte herbei. Es ist ja schon eine Fußgängerzonen-Kultur entstanden, mit ihren bunt gestrichenen Fassaden, ein veritables Ensemble von allseitiger Partizipation.
Nun ist nicht alle Kultur auf diesen erfreulichen Nenner zu bringen. Obwohl, bei entsprechendem Bewußtsein, für das auch gewiß nicht Aufklärung zu leisten ist, sehr viel mehr ganz unbewußt an staatlicher Kulturpolitik geleistet wird, als der Staat und seine Politiker selber einsehen. So brachten die Fremdarbeiterwanderung, die Öffnung des europäischen Marktes, die gewaltige Reiselust zumindest die Chance für eigentlich jedermann, an einer unvergleichlichen kulinarischen Kultur teilzuhaben, und mit den Essensfreuden und ihrem durchweg gesellschaftlich-geselligen Ablauf ist eine ganz fundamentale Kulturvoraussetzung gegeben. Es muß nicht gleich klassisch Beethoven, muß nicht zeitgenössisch mindestens Stockhausen sein.
Womit eine der Schwierigkeiten von Partizipationsbemühungen oder des Berufs eines Animateurs unter den Bedingungen von Demokratie angesprochen ist. Und hier gibt es nun keine Rettung im Objektiven, hier gibt es nur eigenes Urteil und für staatliches Wirken also nur große Verwirrung. Kunst als Hervorbringung ist selten eine demokratische Veranstaltung und kann nie dem Urteil von Mehrheiten unterworfen werden. Es gibt aber auch nicht etwa zuverlässige Minderheiten, die Bescheid wissen. Es gibt Künstler und von ihrer Kunst Betroffene, das zieht im Glücksfall seine Kreise, erreicht eine kleine, immer doch beschränkte kulturelle Öffentlichkeit. Oder es stirbt ab, wird wiederentdeckt, wird niemals entdeckt, hat seine Gezeiten, Täuschungen, Vergessenheiten, seine Moden und Trends, verfällt dem Zeitgeschmack, der es rühmt oder schmäht. Gerade insofern aber ist Kunst Gegenstand, Objekt von Kultur und nicht schon die Kultur selber. Kunst bedarf der Kultur als eines launischen, jeweils letztinstanzlichen und keineswegs wahrheitsliebenden oder vorurteilsfreien Mediums. Kunst im Kunstwerk stellt sich selbst nachprüfbar unter Beweis. Kultur tut das keineswegs, und staatliche Kulturpolitik muß das wissen. Es gehört zur Intelligenz des Kulturstaates, daß er seinen eigenen Kulturbegriff durchschaut.
Verweigert er sich dieser Intelligenz, so wird er erst recht das Opfer seiner eigenen Borniertheit. Der öffentliche Mißbrauch von Kunst zu PR-2Wecken steckt ja in der Zwangsjacke des jeweils modisch Gefragten oder totalitär Gewollten und vertreibt immer nur abgestandenes Wasser. Es bedürfte aus ähnlichen Gründen keiner besonderen Freiheitsgarantie für die Künste, wäre nicht aufnahmebereite Kultur als Medium zur Hand, und diese wiederum läßt sich anders als der einzelne Künstler keineswegs unterdrücken, sie bleibt und wächst im Untergrund. Sie ist zumal als Volksgruppenkultur unausrottbar. So überstanden die Juden.

Staatliche Kulturpolitik ist darum nicht wirkungslos. Sie kann Öffentlichkeit schaffen, ist jedem Mäzen überlegen, sie verfügt über Geld; und niemals ist Kultur billig. Es wäre aufschlußreich, die Relationen öffentlicher Aufwendungen für Kultur über die Zeiten und Herrschaftsformen hin einmal vergleichend darzustellen. Der deutsche Kulturstaat, nach dem wir hier fragen, käme schlecht weg bei solchem Vergleich.
Dabei ist die Herausforderung umfassend. Sie betrifft einmal die demokratische Partizipation, ihre Normen und Instrumente. Sie sieht sich konfrontiert einem unausschöpfbaren Material eigener deutscher Traditionen, zugleich dem Angebot von Weltkultur, historischem und zeitgenössischem Bestand, den kulturell zu verarbeiten, mit dem auszutauschen Aufgabe der eigenen Kultur ist, und das im Szenarium einer industriebestimmten, arbeitsteiligen, ideologisch zerquälten, konsumdirigierten Gesellschaft, deren existentielle Aufmerksamkeit von Kultur geradezu systematisch abgelenkt wird. Die Argumente dessen, was man sehr abfällig und durchaus nicht unberechtigt als Kulturpessimismus verwarf, müssen neu überdacht werden. Die Politik eines deutschen Kulturstaates muß eine neue kulturelle Öffentlichkeit animieren und muß endlich begreifen, welch umfassendes und so bisher kaum begriffenes Instrumentarium gerade dafür durch die Rundfunk- und Fernsehanstalten vorgegeben ist; bei übrigens gleichzeitigem, fast vollständigem Zusammenbruch der traditionellen Vermittlungen von Kultur und deren entweder radikaler Kommerzialisierung oder ebenso radikaler Subventionierung, nach Branchen geteilt. Es ist kennzeichnend für die folgenschwere Unkenntnis der politisch Verantwortlichen, daß sie den Rundfunksendern die Gebühren für ein kulturfähiges Programm verweigern, aber andererseits Millionen in die Haushalte der Theater und Opern einbringen. Was von den Plänen einer neuen Nationalstiftung verlautet, zeigt eine ähnliche Tendenz.

Kulturpolitik eines deutschen Kulturstaates hat zu diesem Zeitpunkt keine dringlichere Aufgabe, als von der kleinen Kommune bis hin zu den Ländern und zum Bund mit den modernsten Mitteln kulturelle Öffentlichkeit zu schaffen. Der Staat dürfte einmal eine PR-Aktion für Kultur und Künste betreiben, statt umgekehrt. Wobei es hilfreich wäre, wenn die Politiker Zeit fänden, ihre eigene Kultur ein wenig zu pflegen. Sie ist ihnen ja nicht durchaus abhandengekommen, sondern auf der Wertskala unserer politischen Wirklichkeit nur nicht sonderlich gefragt, verschüttet.
Es würde sich dann freilich herausstellen, daß die menschliche Welt nicht nur aus Produktionszuwachs und wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritten besteht, Kultur nicht ein Medium von baren Freizeitlustbarkeiten ist, sondern von Trauer, Schmerz, bitterem und glücklichem Abenteuer, Liebe, Tod und Vergnügungslust, von mannigfacher Geselligkeit, von Wildheit, Sanftmut, Einsamkeit, Farben, Tönen, Lüge, Geiz, Marter, Ruhm und Erhöhung, eine menschliche Welt, der nichts Menschliches fremd ist und an der zu partizipieren letztlich ein unendliches, manifestes Selbstgespräch des Menschen mit sich selbst, dem Menschen bleibt.
Das, mit Hilfe politischer Mittel angebahnt, würde in der Tat den deutschen Kulturstaat aus seiner derzeitigen Unkenntlichkeit herausführen und auf politisch notwendigerweise bescheidene, also schwierige Weise wahrscheinlicher machen.
So kurz nach den Bundestagswahlen mag man sich in diesem Kontext fragen, was denn diese, die Wahlen, etwa zur politischen Kultur in diesem Lande beigetragen haben. Das ist sicher keine Frage nach ihrem politischen Ergebnis, nicht einmal eine nach dem Anstand ihrer Mittel- vielmehr die nach einem öffentlichen Kulturbewußtsein, das mit Witz auf Geschmack oder Geschmacklosigkeit reagieren würde, bei den Veranstaltern ebenso wie bei den angesprochenen Bürgern. Es ist (trotz etwa Staeck) leider noch immer eine ziemlich müßige Frage.

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