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Von der Nützlich­keit des Zweifels für die Freiheit

vorgängevorgänge 2412/1976Seite 127-131

Rede anlässlich der Verleihung des Fritz-Bauer-Preises am 2. September 19.76 in Köln. Aus: vorgänge Nr. 24, (Heft 6/1976), S.127-131

Die Lage war noch nie so heiter. Ich meine damit nicht die Lage der Kunst, die per se heiter ist- wenn wir denn Schiller weiterhin glauben wollen. Ich denke an das Leben, das politische vornehmlich. Und da ist es die konzentrierte Aktion in Sachen Freiheit, die mich als Bürger heiter stimmt. Wen auch immer wir wählen: wir können sicher sein, das er sich um die Freiheit bemühen wird,- auf seine Weise jedenfalls. Die Christlichen Demokraten haben versprochen, das sie sich von niemandem übertreffen lassen wollen, „wenn es um den Geist und um die Sicherung der Freiheit in unserem Vater Lande geht”. Die Sozialdemokraten verstehen sich als die „Partei der deutschen Freiheit” schlechthin und dies schon seit mehr als hundert Jahren, woraus sie, sozusagen mit Anciennitäts-Logik, ableiten, das sie von der Freiheit auch mehr verstehen.
Zwischen diesen sich ausschließenden Totalitäts-Ansprüchen auf die Freiheit suchen die Liberalen etwas bekümmert nach einer Marktlücke: auch sie wollen ein Freiheits-Produkt loswerden. Maihofer errechnete sich eine Absatz-Chance aus den logischen Schwächen der Konkurrenten: beide, CDU wie SPD, hätten sich für die drei Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität entschieden. Während nun die Sozialdemokraten, so fand er heraus, diese drei Grundwerte einfach nur so nebeneinander stellten, sie also gleichrangig behandelten, gingen die Christlichen Demokraten gar von einem „stetigen Wandel” dieser Grundwerte untereinander aus. Dem liberalen Professor gefiel weder die Gleichrangigkeit der SPD noch das Werte-Puzzlespiel der CDU: die FDP verstehe, so dozierte er, diese drei Grundwerte als einen „Gesamtzusammenhang”, bei dem die Freiheit als etwas alles Umgreifendes, Vorrang-Habendes zu verstehen sei- gemäß dem obersten liberalen Prinzip: „Im Zweifel für die Freiheit”.
Freiheit ist hier also nicht eine konkrete, materielle Versprechung, nicht Alterssicherung oder Vermögensbildung, sondern Denkprinzip und Entscheidungshilfe. Immer dann, so besagt das Prinzip, wenn in einer bestimmten Frage Zweifel auftauchen, soll man sich ,für die Lösung entscheiden, die mehr Freiheit bringt. Ein schönes Prinzip … Es setzt indessen voraus, das es an der Fähigkeit und Bereitschaft zum Zweifel nicht mangele. Wenn die Freiheit im je und je konkreten Fall eine Funktion des Zweifels ist, dann muss das mit dem Zweifel funktionieren, Dann müssen wir zweifeln dürfen und zweifeln können.

Zweifeln dürfen, das besagt: wir müssen in unserem Herzen, in Gedanken, vor allem aber auch im Raum der Öffentlichkeit zweifeln dürfen. Wir brauchen eine Rechtsordnung, die uns das öffentliche Zweifeln erlaubt, Wir brauchen ein öffentliches Bewusstsein, das den Zweifel an allem und jedem als legitim, ja als selbstverständlich, als notwendige Grundhaltung ansieht. Wir müssen zweifeln dürfen an der Tätigkeit der Behörden, an den Versprechungen der Parteien, an der Weisheit der Minister, an der Gerechtigkeit der Richter. Wir müssen unseren Zweifel laut, gegebenenfalls auch polemisch formulieren können. Wir müssen, kurz gesagt, frei zweifeln dürfen. Und das bedeutet: Freiheit, die durch Zweifel bewirkt werden soll, setzt Freiheit schon voraus.
Damit ist aber das Prinzip nicht etwa ab absurdum geführt. Schließlich können wir in unserer Gesellschaft von einem Grundtatbestand von Freiheit ausgehen, die in der Verfassung manifestiert ist. Die Verfassung ist das große Reservoir unserer staatsbürgerlichen, rechtlichen und sozialen Freiheiten, in das die Schöpfeimer der einzelnen Gesetze greifen, damit das fruchtbringende Nass der Freiheit über uns alle ausgeschüttet werde. Das liberale Prinzip des Zweifels ließe sich in diesen gedachten Mechanismus als eine Art Rückkoppler einbauen, der dafür sorgt, das das Verhältnis von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit stimmig bleibt, das ein wahres politisches perpetuum mobile entsteht, in dem freiheitsschützende Einzelentscheidungen wiederum auf den freiheit-lichen Grundcharakter der Verfassung einwirken und ihn festigen.

Sie sehen, das ich den Zweifel als ein konstitutives Element der Freiheit, das ich ihn aber auch als etwas Systemimmanentes begreife, selbst dann, wenn er sich in die Form eines polemischen Reizes kleidet.
Auch eine andere Dialektik ist möglich. Ludwig Börne hat den Satz zu Papier gebracht: „Für die Freiheit kann man nichts Vernünftigeres tun als die Tyrannen zu reizen.” Er ging also, während der Zeit des Vormärz, ganz selbstverständlich von der Existenz von Tyrannen aus, sein „Reizen” sollte zur Systemüberwindung führen. Wir wollen durch Zweifel unser System gerade erhalten. Ich sagte: wir müssen zweifeln dürfen. Wir müssen aber auch zweifeln können. Was man können will, muss man gelernt haben. Ich habe den Eindruck, das die deutsche Gesellschaft- der es während des Tausendjährigen Reiches bei Strafe des Todes verboten war zu zweifeln- seit dem Ende des Krieges noch nicht gelernt hat, mit Beharrlichkeit zu zweifeln. In der Phase des Wiederaufbaus hatte man Wichtigeres zu tun; Zweifel wurde von manchen sicher als zusätzliche Existenzbedrohung empfunden: Hunger und Zweifel, das wäre zu viel gewesen. Zweifel am Schuldanteil wurden verdrängt, Trauerarbeit wurde nicht geleistet. Und bald darauf wurde eine bestimmte Sorte von Zweifel schon wieder gefährlich: der in seinem Kern berechtigte Kampf gegen den Kommunismus wurde in äußerlichen, auch rechtlichen Formen geführt, die der Verfolgung von Ketzerei nahe kamen. Es konnte gar nicht ausbleiben, das mancher Alt-Nazi sich sowohl bestätigt fühlte als auch in diesen neuen Kampf eingliedern konnte.
Dann beherrschte die Parole „Keine Experimente” eine zeit lang unser politisches Leben: auch nicht gerade ein guter Nährboden für Zweifel. Als schließlich die Jugend rebellisch wurde, rebellisch gegen die verkrusteten Parteiapparate, rebellisch- insbesondere- gegen die alte Ordinarienherrlichkeit der Universitäten, die ungebrochen die Zeitläufe überdauert hatte, rebellisch gegen die von ihr als undurchschaubar empfundenen Mächte von Wirtschaft und Finanzen, rebellisch aber auch, weil sie moralisches Engagement vermisste, weil sie ein neues Mitläufertum und neue, weltpolitische Schuldverstrickung zu erkennen glaubte, da kam es alsbald zu dem inzwischen auch wissenschaftlich diagnostizierten Reformknick von 1968, da versuchte man, wie Professor Rudolphi es für das Strafverfahrensrecht beschrieben hat, zurück zu drehen, was es an zaghaften Reformansätzen ja durchaus schon gegeben hatte.
Das gelegentliche, von heute aus betrachtet ja gar nicht so erhebliche Überschwappen des Protestes ins Illegale und später einige kriminelle Auswüchse führten dazu, das Ruder herum zu werfen: wie im Strafverfahrensrecht so auch – teilweise- im Strafrecht und nicht zuletzt im Polizeirecht. Wer sich das allmähliche Versanden eines Reformimpulses besonders anschaulich machen will, sollte die Entstehungsgeschichte des Strafvollzugsgesetzes studieren: beharrlich betrieben, kann solches Studium das Ergebnis der Deprimiertheit kaum verfehlen. Dieses Ergebnis lässt sich freilich auch durch Fallstudien zum Extremistenbeschluß erzielen, der, rechtlich ein Nullum, dennoch wie der Tagesbefehl eines Feldmarschalls wirkte und wirkt und wirkt, längst auch ins Zivilrecht hinein, der die Vertragstreue durchschneidet und Mietverträge mit verfassungsrechtlichen Kategorien anreichert. Da sind jetzt einigen die Augen aufgegangen, und einiges wird repariert. Uneinig in seinen Stämmen, sticht das deutsche Volk das Radikale jetzt in verschiedener Bodentiefe ab, oder um noch einmal Börne zu zitieren: „Die Regierungen erfinden eine badische, eine württembergische, eine Darmstädter Freiheit, damit nur keine deutsche sich bilde … Mit diesen kleinen Freiheitchen werde man um so leichter fertig…” Das war, natürlich, wieder eine vormärzliche, antirestaurative, historische Auslassung . . .

Ich möchte über die verschiedenen Rechtsreformen hier nicht sprechen, nur nach einigen Gemeinsamkeiten suchen. Gemeinsam ist ihnen vor allem das Wuchern der Verdachtstatbestände, die Zunahme behördlichen Ermessens, der erweiterte Raum der Opportunität, die verringerte Nachprüfbarkeit. Zweifel ist zu einer behördlichen Angelegenheit geworden. Man kann das so deuten: weil die Gesellschaft als ganze so wenig Gebrauch vom Zweifel macht, hat die Obrigkeit den brachliegenden Zweifel okkupiert. Er gehört jetzt ihr: sie zweifelt daran, das wir uns am Telefon brav verhalten, das wir in Versammlungen den Rahmen wahren, als Verkehrsteilnehmer die Leitplanken der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht durchbrechen. Wir werden überwacht und zum Teil auch registriert ohne das Vorliegen besonderer Verdachtsmomente, wie sich aus den entsprechenden Gesetzen beziehungsweise dem Verhalten der Behörden ableiten lässt. Man arbeitet routinemäßig, jeden kann es treffen. In dieser Gleichheit vor Polizei, Kripo und Verfassungschutz kann man natürlich einen Ausdruck von Gerechtigkeit sehen. Aber es gibt auch Gleichheitssituationen, die beunruhigend sind und keineswegs als Zugewinn an Gerechtigkeit missdeutet werden sollten.
Ist nun der behördliche Zweifel durch irgendein Vorkommnis noch speziell geweckt, durch eine Mitgliedschaft etwa, durch eine Funktion wie beispielsweise die des Ver-teidigers in einem Terroristenprozeß, dann zweifelt die Behörde besonders gekonnt und lässt auch den Verdacht eines Verdachts genügen, um schwerwiegende Maßnahmen zu begründen. Rudolphi stellte in seiner nüchternen Juristensprache dazu fest: „Es ergibt sich das Bild, das der Gesetzgeber in nicht unbeträchtlicher Weise über das zur Wahrung eines rechtsstaatlichen Verfahrens Notwendige und Angemessene hinausgegangen ist.”

Dennoch ist das Potential an Zweifel und Verdacht damit keineswegs erschöpft. Es ist das Verdienst der CDU/CSU, dies deutlich gemacht zu haben, und zwar an sich selber. Die Opposition will ja weiterhin die Überwachung des Verteidiger-Gesprächs einführen, wenn sie die Mehrheit bekommt. Und was den Verteidiger-Ausschluss anbetrifft: da propagierte die Opposition über den Bundesrat eine Fassung des Gesetzes, nach der auch die „noch nicht bis zu einem strafbaren Versuch gediehene” Förderung oder Vorbereitung einer entsprechenden Straftat mit dem Ausschluss des Verteidigers hätte geahndet werden können; die noch nicht bis zu einem Versuch gediehene Vorbereitung einer Handlung (man kann sich fragen, was das überhaupt ist) sollte „dem dringenden Verdacht der Begehung von Straftaten gleichgestellt werden”.
Liest man all die nur noch von juristischen Feinschmeckern nach zu empfindenden Begründungen durch, die die CDU/CSU ihren Entwürfen für den Verteidiger-Ausschluss und die Verteidiger-Überwachung bei gab, so kommt man mühelos auf den Gedanken, das die Opposition wohl am liebsten eine Generalklausel eingeführt hätte, nach der dem Verteidiger in Terroristen-Verfahren alles verboten ist, was ihm nicht ausdrücklich erlaubt ist.

Vor nunmehr siebzig. Jahren hat Max Weber seine Befürchtungen formuliert, das die hochkapitalistische Wirtschaftsentwicklung einerseits und die universelle Bürokratisierung andererseits der Freiheit keine große Chance lasse, oder, um es in seinen sehr bissigen Worten zu sagen: „Kein Schatten der Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß die ökonomische Vergesellschaftung die Entwicklung innerlich freier Persönlichkeiten in ihrem Schoß bergen müsse.” Ich weiß nicht recht, ob der Schatten der Wahrscheinlichkeit inzwischen etwas länger oder größer geworden ist. Dahrendorf hat kürzlich gesagt: „Die Freiheit muss gegen bürokratischen Imperialismus staatlicher Instanzen und gegen die unkontrollierte Macht vorgeblich privater Organisationen gewonnen werden, gegen Großunternehmen und Gewerkschaften.” Das ist, wie Sie unschwer merken, ein ins Hoffnungsvolle umfunktionierter, aber sonst getreulich nachempfundener Max Weber. Man kann wohl auch mit Recht feststellen, das das System der sozialen Sicherungen dem einzelnen Freiheitschancen eröffnet hat: ohne gesetzliche Altersversorgung, Arbeitslosen-unterstützung, Gesundheitsdienst und Verbraucherschutz- um nur einiges zu nennen- ist Freiheit in einem konkreten Sinne nicht denkbar, existierte sie allenfalls als philoso-phische Kategorie, als religiöse Einsicht oder als Strohblume der Dichtung. Diese Denk- und Wahlkampflinie der SPD möchte ich ausgesprochen gutheißen. Für eine nahrhafte Freiheit brauchen wir die Institutionen. Die Opposition unterstellt nun, das die Sozial-demokraten sich beschränkten auf den Kampf gegen Privilegien, auf die Befreiung von Willkür, auf die Beseitigung von ökonomischer Abhängigkeit, auf Garantien des Gemein-wesens,- und das sie dergestalt die Freiheit als „gesamtgesellschaftliche Leistung” an-sähen und sonst gar nichts. Dieses ist der polemische Kern der Aussage „Freiheit statt Sozialismus”. Sozialismus, so wird damit suggeriert, das sind die Institutionen, die anonymen Mächte der Gesellschaft, die Betreuungsapparate, die euch die eigenen Entscheidungen abnehmen aber auch einen zu großen Teil eures Geldes, die vieles viel weniger effektiv tun als ihr es selber tun könntet. Sozialismus, das ist die Herrschaft der Funktionäre, Planer und Steuereintreiber.
Diesem so verengten Sozialismusbegriff setzt Helmut Kohl seine Vorstellung von Freiheit gegenüber: „Freiheit bedeutet eigenes, eigen gebautes, selbst geleistetes Glück… Die Jugend muss vom Abenteuer des Lebens träumen können.”- Dazu könnte man die Bonanza-Erkennungsmelodie spielen. Anders gesagt: es ist eine naive, eine abenteuerliche Schwärmerei, die Freiheit heute als pure Eigenleistung hinzustellen. Wer heute sein Eigenheim baut auf freier Scholle, der macht das mit Hilfe des „Beamtenheimstättenwerks” oder einer anderen Bausparkasse, der nimmt die Prämien und steuerlichen Erleichterungen des sozialen Systems in Anspruch. Wer arbeitslos wird oder krank,- auch der vertraut sich gerne den Institutionen des Systems an.

Was hat nun die SPD der teils polemischen, teils romantisierenden Argumentation der christlichen Parteien entgegengesetzt? In dem „Entwurf für ein Regierungsprogramm für 1976 bis 1980”, der auf dem außerordentlichen Parteitag in Dortmund verabschiedet wurde, ist zu lesen: „Die Alternative zum sozialen Staat und zur solidarischen Gesell-schaft ist die Ellbogenwelt, die Welt der Privilegien und sozialen Ungerechtigkeiten … Es ist ein Irrtum des politischen Liberalismus und des Konservatismus, Freiheit, Gerechtig-keit und Sicherheit könnten in einer Ellbogen-Gesellschaft des Kampfes aller gegen alle bewahrt werden.”
Wenn die Parole „Freiheit oder Sozialismus”, wie die SPD sagt, eine Anstiftung zum geistigen Bürgerkrieg darstellt, dann ist die SPD-Aussage, ihre Konkurrenten wären für die Ellbogen-Gesellschaft, für den anarchischen Kampf aller gegen alle, natürlich auch gerade kein Wort zum Sonntag. Die politischen Kontrahenten stilisieren sich zu Feind-bildern (der individualitätsverachtende Funktionär hie, der Unternehmer-Wolf da), um dem Publikum eine schöne Wahlkampf-Schau bieten zu können; sie verschaffen sich „hysterischen Affektgenuß”, der aber nach Max Weber das politische Denken und Handeln nicht ersetzen kann. Und der auch u n s e r Denken, unser skeptisches Denken nicht ersetzen kann.
Unbeirrt von dem maßlosen Feldgeschrei müssen wir uns auf die Erkenntnis konzentrieren, das die von Weber und natürlich nicht nur von ihm beschriebene Entwicklung der modernen Gesellschaft etwas Unausweichliches hat, das es sich da um eine- man könnte sagen: wehmütige- Beschreibung handelt, die man weder, wie die CDU, partiell leugnen (denn das große Unternehmertum wird ja wohl von dieser Seite nicht als so bedrohende Einrichtung empfunden) noch schwärmerisch überwinden kann, die man aber auch nicht, wozu die SPD wohl neigt, als einen wahren Segen bedenkenlos akzeptieren kann. Die Wahrheit liegt auch hier in der Mitte: die Institutionen sind Rettung und Gefahr zugleich. Sie sichern, aber sie schläfern auch ein. Sie schaffen Freiheit für viele, aber diese Freiheit ist für den einzelnen notwendig kleiner als es früher die große Freiheit einiger weniger war. Demokratische Freiheit ist- oder kann doch sein- ein bescheideneres Glück. Natür-lich kann man sich über manche Erscheinungen der Freizeitindustrie, über den Massentourismus nicht gerade freuen, aber man sollte sie auch nicht hochmütig verachten. Die Opposition, obwohl sie natürlich nicht für die Ellbogenwelt eintritt, obwohl auch sie, wie die SPD, für Renten und Sozialleistungen ist, kommt mir doch- jedenfalls in einigen ihrer Glieder- so vor, als habe sie noch nicht ganz begriffen oder akzeptiert, das Demokratie nun mal nicht ohne Gleichheit geht- staatsbürgerliche Gleichheit und soziale Angeglichenheit. Die Prärie der großen Reiterfreiheit gibt es nur noch im Fernsehen.

Auf welchem Pferde sitzen nun die Journalisten und welcher Freiheit jagen sie nach? Es ist für mich kein Zweifel, das auch die Medien arbeitsteilig an der Beschränkung von Freiheit mitwirken,- ebenso zwangsläufig wie die Konzerne, Bürokratien und gesell-schaftlichen Großorganisationen. Sowohl nach liberalem wie nach sozialistischem Gesellschaftsmodell sollte Freiheit eigentlich ermöglicht werden durch Eigentum und Freizeit.
Die Notwendigkeit des Eigentums für die Freiheit erscheint mir heute relativiert durch das bereits um-fassende System sozialer Sicherungen; diese stellen ja eine Form von Eigentum dar, so das mir die „Freiheit des Sich-Beteiligen-Könnens am privaten Kapital in der privaten unternehmerischen Wirtschaft” weniger dringlich erscheint als dem Freiherrn von Bethnaann, der da; kürzlich in der FAZ darstellte.
Aber die Freizeit, über deren Verlängerung Man zur Freiheit kommen wollte. Der Achtstundentag ist erkämpft; da haben die Sozialdemokraten etwas Gutes getan und ihre Kinder und Enkel versäumen nicht, z.w. Wahl ’76 darüber zu reden. Früher hat man vier Stunden mehr gearbeitet, aber heute kommt mancher schon auf sechs Stunden Fernsehen, was auch nicht unbedingt dazu führt, das man sich selbst näher kommt, das die Selbstentfremdung aufgehoben wird.- Der Bürger ist heute dem ständigen, massiven Ansturm von optischen und akkustischen Reizen ausgesetzt, von Informationen, wie wir Jour-nalisten zu unserer Selbstrechtfertigung sagen, von notwendigen politischen Informationen, von gesellschaftskundlichem und ökonomischem Wissen. Wir bieten diese Informationen auf allen Kanälen und Wellen und Papierseiten pausenlos an, wir streuen sie in die Rundfunk-Musikteppiche ein, damit keiner dran vorbeikommt und verstehen das als öffentlich-rechtlichen Auftrag. Wir werben für unsere Produkte: Montag 20,15 Uhr- das Magazin der Magazine, Dienstag viel-leicht ein „Prisma”, Mittwoch ein „Brenn-punkt”, und so weiter, die Woche hindurch vom „Frühschoppen” bis zum Nachtprogramm. Wir machen uns gegenseitig Konkurrenz wie die Waschmittelproduzenten und diese sind ja auch noch da. Wenn wir ein neues Programm planen- und irgendwo wird immer geplant im deutschen Rundfunk- dann ermitteln wir Hörergewohnheiten und spähen nach der letzten freien Viertelstunde zwischen Arbeitsschluß und Einschlafen: Wir haben den Hörer und Zuschauer im Visier und sind entschlossen, ihm eine Nachricht zu verpassen. Der mündige Bürger bekommt so viel vorgesetzt, das er selbst am Ende garkeine Zeit mehr hat, den Mund noch auf zu machen. Und er macht ihn ja auch nicht mehr auf: das tägliche Gespräch der Ehegatten untereinander verkümmert, wie man ermittelte, zu Minuten. Die Kinder haben Lese-Rechtschreibschwächen und verfassen ihre Aufsätze im Telegramm-Stil. Soll man noch an jene sich selbst geltende menschliche Kraftentfaltung glauben, die nach Marx die Freiheit kennzeichnet?

Ich will mich nicht anheischig machen, das Bündel von Ursachen aufzuschnüren, das zu dieser Entwicklung führte. Wir haben es hier wieder mit einer der großen Unausweichlichkeiten unseres Jahrhunderts zu tun. Ich sage nur, das die Journalisten, und insbesondere die des Rundfunks und Fernsehens, sich in vorwiegend guter Absicht, aber auch ohne Problembewußtsein, an der Jagd auf die Freizeit und damit auf die Freiheit des Bürgers beteiligen. Er könnte natürlich auch eine Stunde lesen, musizieren, beten oder Sport treiben, aber nein, er soll uns zuhören und zuschauen. Das muß er sogar, denn wie sollte er sich sonst in dieser immer komplizierter werdenden Welt zurechtfinden?
Er muß es – das eben ist das fatale. Aber muß er unbedingt so viele Details von manchen Vorgängen wissen, wie wir sie ausbreiten? Ich will diese Frage an einem Beispiel erläutern, an dem sogenannten Transit-Problem. Schon die Ankündigung der Jungen Union, sie werde nach Berlin fahren zum Demonstrieren, setzte das Transportband der Kommentare und Spekulationen in Bewegung: Wird man sie durchlassen? Ist das nötig? Warum sollen wir unser gutes Recht gerade jetzt nicht testen?
Dann setzen sich Reporter in Bewegung, das Unternehmen wird begleitet, Ü-Wagen fahren die Grenze ab. Die Ausbeute: stündliche Nachrichten, Kommentare, Stellungnahmen der Parteien. Das Bundeskabinett tagt, die Parteivorstände, die alliierte Kommission. Ist eine Stellungnahme von Kissinger zu erwarten? Was sagt das Neue Deutschland? Stecken die Sowjets dahinter? Welche Qualität, welche Schärfe hat der Protest der Westmächte? Wogegen, genau, richtet er sich? Was steht eigentlich im Grundlagenvertrag, was in den Verkehrsverträgen? Ist der Geist von Helsinki verletzt? Würde die bundesdeutsche oder die DDR-Wirtschaft mehr unter einer Kürzung der Swing-Kredite leiden? Was sagt Amerongen überhaupt dazu?
Zu jeder Frage läßt sich ein Kommentar schreiben oder ein Interview einholen. Wenn man nach einiger Zeit alles das noch einmal liest oder hört-nicht nur in diesem Fall-, kann aman schon die Impression haben, daß da eine Menge geistiger, elektrischer und sonstiger Energie sinnlos vertan wurde.

Man würde vielleicht auf einiges besser hören, wenn man nicht so vieles hören mußte. Der Gedanke hätte eine Chance, wenn das Gerede nicht so groß wäre. Die öffentliche Meinung ist trotz tatsächlicher Meinungsfreiheit so wirkungslos, weil kritisierte Institutionen oder Personen ziemlich fest damit rechnen können, daß die Kritik kaum wahrgenommen wird. Die Kritik muß schon spektakulär inszeniert werden, um Gehör zu finden.
Es wäre aber wichtig, daß die öffentliche Meinung sich frei entfalten und Einfluß gewinnen kann. Der Zweifel des Kritikers darf nicht zur bloßen Etüde werden-er muß etwas in Gang setzen. Die Chance der Freiheit hängt davon ab, daß wir bereit sind, aufeinander zu hören.
Man muß zweifeln können – auch an dem Unternehmen, an dem man selbst beteiligt ist. Ich zweifle nicht an Resignation – das wäre ja diesem auch Tag auch wenig angemessen. Ich zweifle so laut vor mich hin als unvermüdlicher System-Verbesserer, und wenn ich hoffnungsvoll bin, dann auch wegen der Auszeichnung, die mir heute zuteil wird, und die ja eine Bekundung von Übereinstimmung ist, und auch wegen der Erfahrung von Sympatie und Solidarität, die ich machen konnte. Ohne Kollegen, die anregen und auffordern, ohne Gedankenaustausch, ohne Chefredakteure, die das alles drucken oder senden, was man sich so ausdenkt, und die sich dafür – vermutlich – auch so manchen Druck und manche Zusendung einhandeln, wäre diese Arbeit nicht zu, machen.

Manchmal bringt man sich auch etwas von einer Reise mit. Ich bin in diesem Jahr fünf Wochen durch die USA gereist, immer mit der Frage auf den Lippen, was denn aus den großen Versprechungen der Freiheit in den vergangenen 200 Jahren geworden sei. Ein alter Rechtsanwalt aus New Jersey, der Stadt, in der es vor Jahren zu Ereignissen kam, die wir als „Rassenunruhen“ zu bezeichnen pflegen, er sagte mir – und mit diesem Zitat, das mich wieder zurückruft in den Alltag meiner Arbeit und das sich die Humanistische Union zum Motto nehmen könnte, – mit diesem Zitat will ich schließen:
„Oft kommt es vor, daß man uns Rechtsanwälte fragt, warum wir einen Schuldigen verteidigen, jemanden, der ein Verbrechen begangen hat. Die Antwort ist, daß wir ihn nicht verteidigen, sondern, ihn vor Gericht repräsentieren, so daß er ein rechtmäßiges Verfahren bekommt, daß wir dafür sorgen, daß der Beweis gegen ihn entsprechend zu den Grundsätzen geführt wird, die zu seinem Schutz geschaffen sind. Wir sagen, und das ist wahrscheinlich das bedeutendste Element der amerikanischen Gerichtsbarkeit: Der beste Weg, die Gesellschaft zu verteidigen, besteht darin, das Individuum zu verteidigen, das vor Gericht steht.“

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