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Kultur­po­litik ist Gesell­schafts­po­litik

Aus: vorgänge Nr.24 (Heft 6/1976), S.25-32

Freizeit und Kultur

Kulturpolitik läßt sich deutlich von Bildungspolitik abgrenzen, die sich ausschließlich auf die Förderung der arbeits- und ausbildungsbezogenen Betätigung der Bevölkerung bezieht. Kulturpolitik ist nichts Neues. Freilich haben sich mit dem Ende des Absolutismus, mit der Demokratisierung der Gesellschaft Inhalte, Träger und Ziele der Kulturpolitik geändert. Kulturpolitik wird diskutiert, wo Gebietskörperschaften öffentliche Mittel für kulturelle Zwecke in Form von Subventionen bereitstellen, entweder für Dienstleistungen verschiedenster Art oder zum Unterhalt öffentlicher Einrichtungen. Kulturpolitik ist, im Gegensatz zur Bildungspolitik, ausschließlich freizeitorientiert. Für den Kulturpolitiker ist so das Verhältnis von Kultur und Freizeit ständiger Gegenstand der Untersuchung.

Mehr Demokratie in der Kultur­po­litik wagen

Ein weiteres wichtiges Thema ist die Öffnung der Kultur für breitere Bevölkerungsschichten. Kulturpolitik darf sich nicht nach den Neigungen oder Abneigungen von Interessengruppen richten; sie ist den kulturellen Bedürfnissen aller Menschen in einem Gemeinwesen verpflichtet und das Ergebnis demokratischer Entscheidungsprozesse. In der Kulturpolitik mehr Demokratie wagen bedeutet, sich aktiv um das Publikum zu bemühen; es bedeutet weiter institutionelle und materielle Demokratisierung der kulturellen Einrichtungen und eine Intensivierung soziokultureller, kommunikativer und ästhetischer Aktivitäten. So gesehen ist alle Kulturpolitik wichtiger Bestandteil jeder Gesellschaftspolitik, weil sie sich nicht darauf beschränken läßt, beispielsweise den Zugang zu einer in ihrem Wert absolut gesetzten Kunst zu verbessern, sondern die Kunst zu einem Bestandteil des demokratischen Lebensprozesses machen will. Kulturpolitik zielt darauf ab, die zwischenmenschlichen Beziehungen im Gesellschaftsleben zu verbessern und zwar evolutionär nach demokratischen Spielregeln.

Kultur und soziale Emanzi­pa­tion

Unsere überlieferte, bürgerliche Form des menschlichen Zusammenlebens weist eine Stufung nach Ständen und Klassen auf, in der die in der Emanzipation Hierarchie obenstehende und materiell herrschende Klasse Träger des kulturellen Lebens ist. Sie allein bestimmt die Inhalte des kulturellen Lebens, und alle Aufsteiger, alle um den sozialen Aufstieg kämpfenden Individuen bemühen sich, die Lebensform und Lebenshaltung der oberen Klasse, bei uns des vermögenden und finanziell gesicherten Bürgertums, auch im kulturellen Bereich nachzuahmen. Daraus resultiert die irrtümliche Feststellung ideologisch ausgerichteter Kulturkritiker, daß die öffentliche Kulturpolitik ausschließlich auf die Stabilisierung der bürgerlichen Kulturprivilegien ausgerichtet sei. Daraus folgt bei ihnen die Gleichsetzung von öffentlicher Kulturpolitik gleich Systemstabilisierung. Richtig ist nur, daß die oft beklagte geringe gesellschaftliche Effektivität einer neuen Kulturpolitik hier ihre Ursache hat. Ebenso wahr bleibt aber; Wer eine Umbildung unserer Gesellschaftsform in Richtung mehr Demokratie, mehr soziale Gerechtigkeit anstrebt, kann das kulturelle Angebot nicht aussparen; im Gegenteil, nur über das Kulturleben einer Gesellschaft können nachhaltige Verbesserungen in der Gesellschaftsordnung erzielt werden. Die Inhalte des kulturellen Angebots müssen ständig infragegestellt werden. Daraus resultiert die außerordentlich wichtige Rolle, die allen kreativen Künsten, allen Spielformen und Kommunikationsinstitutionen in den Plädoyers für eine neue Kulturpolitik zufällt. Die wenigen neu entstandenen Kommunikationszentren in der Bundesrepublik empfinden sich so selbst in gleicher Weise als soziale und kulturelle Institution und nehmen für sich in Anspruch, eine Freizeitstätte zu sein und ein pädagogischer Emanzipationsmotor.

Konser­va­tive Kultur­haus­halte

Die Ursache für das Unbehagen an der Kulturpolitik der Städte ist die Tatsache, daß die Kulturhaushalte so aussehen, als hätten gesellschaftliche Veränderungen nicht stattgefunden. Der Haushalt ist der wichtigste Teil der Kulturpolitik. Es gibt zwar keine Kulturpolitik in den Städten und Ländern, die sich offen dazu bekennt, durch die Ausschaltung der unteren Klasse- Klasse ist in diesem Zusammenhang der präzisere Ausdruck als Unterschicht- bewußt die Anschauungen und Privilegien der das gesellschaftliche Leben bestimmenden Oberschicht durchzusetzen, aber in der Praxis läuft es darauf hinaus. Das kulturelle Angebot erfolgt nur für eine herrschende Schicht, die den Kulturjargon versteht.

Einwände gegen eine demokra­ti­sche Kultur­po­litik

Die Vertreter einer alternativen Kulturpolitik, die den Mechanismus des gesellschaftlichen Lebens durchschauen, stehen den immer gleichen Problemen und Argumenten gegenüber, wenn sie die schicksalhafte Kulturlosigkeit der Unterprivilegierten, immerhin gut die Hälfte der Bevölkerung, durchbrechen wollen. Sehr oft wird ihnen vorgehalten, daß sie sich mit einem Kulturangebot begnügen wollen, das erheblich unter dem Niveau unserer Kulturtradition bleibt. Verbreitet ist auch der Slogan, daß das demokratische Gleichheitsprinzip sich nicht auf den Kulturbereich übertragen lasse, oder das größte Mißverständnis, das Unterscheidungsvermögen für Fragen der Kunst sei nicht im gleichen Maße allen Menschen eigen und deshalb sei die Fähigkeit, Kunst zu begreifen, nur einer Minderheit mitgegeben. Wenn diese Behauptungen erst einmal aufgestellt sind und Zweifel daran laut werden, dann wird zugegeben und theatralisch verkündet, das sei eine tragische Ungerechtigkeit der Natur des Menschen und eben deshalb nicht korrigierbar. Gerade weil diese Vorurteile als Klischees weit verbreitet sind, wird es notwendig sein, sich mit solchen Argumenten ernsthafter auseinanderzusetzen, als es gemeinhin geschieht. Erfreulich bleibt da die Beobachtung (und es ist ein Beweis für das doch schon stark entwickelte demokratische Bewußtsein unserer Gesellschaft), daß die Vertreter derartiger Thesen sich dagegen wehren, daß ihre Denkungsart als „elitärer Hochmut” abqualifiziert wird.

Fehlende Integration der ökonomischen Unterschichten
in das kulturelle Leben

In naher Zukunft gilt es das Problem zu lösen, wie die sich zwar nicht als Proletariat fühlende, aber von der „Hand in den Mund und auf Raten” lebende ökonomische Unterschicht unserer hochindustrialisierten Gesellschaft, der eine Teilnahme am Kulturleben bisher systematisch verwehrt wurde, in das kulturelle Leben einer demokratischen Gesellschaft integriert werden kann; und das sowohl in den Städten als auf dem Lande, denn das macht keinen Unterschied. Dem gegenwärtigen Zustand, daß große Bereiche des kulturellen Lebens völlig brachliegen und sich beispielsweise Vernissagen der Galerien und Museen nur an Insider, an Kleinstgruppen der Gesellschaft wenden, muß entgegengehandelt werden. Erfreuliche Gegenbeispiele einer Umorientierung aus den Siebziger Jahren können diese Forderung nur unterstreichen.

Sozial­po­li­ti­sche Zielset­zungen demokra­ti­scher Kultur­po­litik

Es ist unbestritten, daß die Kulturarbeit in unseren Städten einen Beitrag zu leisten hat zur. Verwirklichung besserer Lebensbedingungen und zur Verwirklichung der Forderung nach menschlichen Städten. Die Anzahl der Menschen, die sich am kulturellen Leben beteiligen, muß erhöht werden. Kultur kann nicht mehr das Vorrecht einer kleinen elitären Gruppe von Bildungsbürgern bleiben, sondern sie muß alle Schichten der Bevölkerung erfassen. Mit einem Satz läßt sich diese kulturpolitische Aufgabe beschreiben: Wir müssen den kulturellen Bedürfnissen breiter Bevölkerungsschichten gerecht werden und diese Bedürfnisse, wo sie nicht ausgeprägt vorhanden sind, durch sinnvolle Arbeit wecken oder dafür sorgen, daß sie bewußt werden. In diesem Sinne enthält Kulturpolitik auch sozialpolitische Zielsetzungen, die ihren Ausdruck in dem seit vielen Jahren verwendeten Begriff „Soziokultur” gefunden haben.

Volks­hoch­schule und politische Bildung

Von den traditionell subventionierten Kultureinrichtungen erfüllten bisher die Volkshochschulen am meisten die selbst gestellte Aufgabe, mündigen Bürgern die ökonomischen und politischen Mechanismen unserer Industriegesellschaft begreiflich zu machen. Unter dem Stichwort „Politische Bildung” enthalten ihre Arbeitspläne zahlreiche Veranstaltungen, die den Hörern die in vielfältige Einzelinteressen gespaltene und durch mannigfache Interessenkonflikte zerklüftete pluralistische Gesellschaft begreiflich machen. Sie zeigen auch, auf welche Weise – etwa durch solidarisches Verhalten – die eigenen Interessen wahrgenommen werden können. Nur auf diese Weise können die zahlreich vorhandenen Widersprüche und die zahlreichen materiellen Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft sichtbar gemacht werden. Daraus resultiert dann der Wunsch nicht nach Stabilisierung, sondern nach einer Änderung gegebener unzulänglicher Verhältnisse. Niemand wird behaupten, daß die Materialien zur politischen Bildung der Gewerkschaften, der politischen Parteien und der kulturellen Institutionen, um nur die Büchereien und Volkshochschulen und sicherlich auch das dramatische Theater zu nennen, aber auch die vielfältigen Angebote des kommerziellen Kulturangebotes, wie Verlage und Schallplattenindustrie, daß dieses ganze Angebot ohne Wirkung geblieben ist.

Die Parteien vernach­läs­sigen die Kultur­po­litik

Die Bedeutung von Kulturangebot und Freizeitpolitik für die Bewußtseinsbildung breiter Schichten unserer Bevölkerung ist in der Vergangenheit übersehen worden, in erster Linie von den politischen Parteien, und zwar ohne Ausnahme. Die Parteien haben nicht erkannt, wie wichtig das kulturelle Bewußtsein für die politische Entscheidung des Menschen ist, etwa bei Wahlen. Möglicherweise haben sie es deshalb nicht richtig eingeschätzt, weil Kulturpolitik, aufgrund der Kulturautonomie der Länder, Städte und sonstiger Gebietskörperschaften, auf Bundesebene kaum diskutiert wird, im Gegensatz zu Fragen der Bildungspolitik. Weiter sind im Vergleich zu anderen Bereichen der öffentlichen Haushalte- Soziales, Verkehr, Schulen, Wohnungsbau, Gesundheitsvorsorge- die Ausgaben für Kultur nicht bedeutend; sie betragen in vielen Städten nur rund 2% und in den theatertragenden Groß- und Mittelstädten rund 4% des Etats der öffentlichen Haushalte. Aus diesem Grund ist für Politiker der Kulturbereich nicht so gewichtig, zumal sich in Rezessionszeiten nennenswerte Einsparungen auch bei ausgiebiger Diskussion nicht erzielen lassen.

Kultu­r­an­gebot und Freizeit

Übersehen wird dabei, daß das öffentliche Kulturangebot einschließlich des reichen Angebotes der Kommerz-Kulturindustrie fast hundertprozentig den Freiraum des Einzelnen anspricht. Dieses Kulturbedürfnis wird ausschließlich in der Freizeit befriedigt. In seiner Freizeit schaltet der Bürger Medien ein, liest er Zeitungen und Bücher, besucht das Kino, hört Schallplatten und beschäftigt er sich mit seinen kulturellen Hobbys wie Fotografie, Briefmarken, Sammlung von Kunst. In seiner Freizeit betätigt er sich im Gesangverein und geht sonstigen kulturellen Liebhabereien nach. Über die Befriedigung seiner Kulturbefürfnisse erfolgt seine Meinungsbildung, entsteht öffentliche Meinung. Bürger-Engagement und Verständnis für die Fortentwicklung des Demokratisierungs-prozesses in der Gesellschaft zu wecken ist nur in der Freizeit des Bürgers möglich. Die Freizeit ist so gut wie immer von der Arbeit losgelöst und der Bereich der Selbstverwirklichung. Liebe, Familie und alle damit verbundenen Geschehnisse, Religion, mitmenschliche Kontakte, die Befriedigung emotionaler und körperlicher Bedürfnisse, also die letzte Sinngebung des menschlichen Lebens erfolgt in der Freizeit. Das ganze immer noch außerordentlich potentielle kulturelle Vereinsleben kann sich ebenfalls nur in der Freizeit der Bürger entfalten.
Wenn die heute dem Einzelnen zur Verfügung stehende freie Zeit das Produkt unserer Industriegesellschaft ist, dann können wir nur wünschen, daß sich die industrielle Entwicklung fortsetzt. Nur konservative und generell emanzipationsfeindliche Kräfte haben immer Bedenken gegen eine weitere, auch aus vielen ökonomischen Gründen notwendige Verkürzung der Arbeitszeit. Das war schon im 19. Jahrhundert so und wird auch so bleiben. Reaktionäre Kräfte haben immer die Sorge, daß die breiten Bevölkerungsschichten mit dem Mehr an Freizeit nichts anzufangen wissen; eine völlig überflüssige Sorge. Richtig ist aber, daß wir unser öffentliches und auch das kommerzielle Kulturangebot noch viel sorgfältiger vorbereiten und planen müssen, um allen, sowohl individuellen als auch gesellschaftlichen Ansprüchen zu genügen.
Dazu gehört, daß die Kulturpolitik, mehr noch als die Bildungspolitik, ihre gesellschaftspolitische Aufgabe darin sehen muß, die in der Freizeit besonders kraß spürbare Chancenungleichheit benachteiligter Gruppen in unserer Gesellschaft zu eliminieren.

Privat­wirt­schaft­liche Vermarktung des Kultu­r­an­ge­bots

Bei kulturpolitischen Diskussionen wird zu leicht übersehen, daß unser Kulturangebot zum größten Teil Domäne der Privatwirtschaft ist. Die gesamte Produktion und Distribution von Büchern, Zeitungen, Zeitschriften, Schallplatten, Filmen, der Kassettenvertrieb und die Herstellung audiovisueller Mittel, liegt nahezu ausschließlich in der Hand privater Unternehmen; aber auch andere Bereiche, wie der Kunsthandel oder die Verbreitung zeitgenössischer Musik und nicht zuletzt das riesige Angebot an Unterhaltungsmusik werden kommerziell befriedigt. Die zunehmende Vermarktung des Freizeitangebotes macht die staatliche Kulturpolitik nicht einfacher.

Kopflas­tig­keit der Etats zugunsten von Musik und Theater

Wer nun aber die Prioritäten der öffentlichen Kulturhaushalte untersucht und die Mittel aufteilt nach den einzelnen Angebotsbereichen – etwa Reinausgaben für Musiktheater, Konzertwesen, Schauspiel, Bibliotheken, Museen, Weiterbildung, Allgemeine Kulturpflege -‚ der wird zur eigenen Überraschung feststellen, daß die Kulturhaushalte der deutschen Städte ein übereinstimmendes Merkmal aufweisen und zwar die Kopflastigkeit ihrer Etats zugunsten der Bereiche Orchester, Oper, Unterhaltungstheater. Die meisten Städte wenden für ihre Museen und Büchereien, für die Förderung bildender Kunst und Literatur, für die Unterstützung des kulturellen Vereinslebens und für den riesigen Be-reich der Erwachsenenbildung weniger Haushaltsmittel auf als für den Musik/Theaterkomplex allein. Hinzu kommt, daß sich dieses Angebot – besonders auffällig ist das beim Konzertwesen- nur an die immer gleichen kleinen Gruppen der Bevölkerung wendet.
Es wäre interessant zu erfahren, welche Mittel in den Kulturhaushalten der Länder und Städte für Unterprivilegierte ausgegeben werden, beispielsweise für Nacht- und Schichtarbeiter, für Fließbandarbeiter, für ausländische Arbeitnehmer, die in manchen großstädtischen Wohnbezirken 20 bis 25% der Bevölkerung stellen, für berufstätige Frauen mit Kleinkindern, und für die fast 20% unserer Bevölkerung ohne Hauptschulabschluß. Dieser ganze Bevölkerungskreis ist nicht identisch mit den von der Sozialpolitik betreuten „sozial Schwachen”. Bisher sind diese mehr als die Hälfte der Bevölkerung umfassenden Dezifitgruppen kulturell kaum in Erscheinung getreten. Es ist leicht nachzuweisen, daß die Kulturhaushalte keine müde Mark aufwenden zur direkten kulturellen Betreuung dieser Bevölkerungsgruppen.

Insider unter sich…

Da die öffentlichen Kulturinstitute im Regelfall keine differenzierte Besucherstatistik führen, besitzen die Politiker auch keinerlei Statistiken über die soziale Struktur der Besucher kultureller Veranstaltungen. Sie nehmen nicht zur Kenntnis, daß sich im Philharmonischen Konzert oder bei der Eröffnung von Kunstausstellungen in Museen nur immer der kleine, immer gleiche und sich gegenseitig genau kennende und überschaubare Personenkreis- alles Insider- trifft. Bei diesen hochsubventionierten Kulturveranstaltungen ist man, wie tröstlich, fast wie in einer Großfamilie, immer unter seinesgleichen. Pastor Paul Schulz von der St.-Jacobi-Kirche in Hamburg hat sich darüber beklagt, daß 95 % der Hamburger Theologen dazu da seien, um gerade 5% der Bevölkerung seelsorgerisch zu betreuen. Niemand kümmere sich um die unglaublich vielen Menschen, die das Vertrauen zur Kirche verloren haben.
Das gleiche kann man vom Kulturangebot behaupten, denn 95 % der Reinausgaben für das Kulturleben sind dazu da, das Vergnügen von 5% der Bevölkerung an Kunst und Unterhaltung zu finanzieren. Niemand kümmert sich um die unglaublich vielen Menschen, die das herkömmliche Kulturangebot nicht erreicht.

Kultur­för­de­rung nur für eine „Elite”?

Die Frage nach der sozialen Struktur der Besuchergruppen ist aber eine Voraussetzung für ausgewogene Kulturpolitik; denn es bedeutet einen Unterschied, ob ein kleiner elitärer Bevölkerungsteil eine mit Millionenbeträgen geförderte Kultureinrichtung frequentiert oder ob ein Besucherkreis mit der Bevölkerung einer Stadt oder eines Stadtteils nahezu identisch ist. Wenn wir zu echten kulturpolitischen Entscheidungen gelangen wollen, werden wir die Finanzstrukturen unserer Kulturinstitute durchsichtig machen müssen und wir werden Material darüber erarbeiten müssen, das uns Aufschluß über die Schichten gibt, die unsere Kulturinstitute besuchen. Dann werden unsere Politiker mit Sachverhalten konfrontiert, die blitzartig erhellen werden, weshalb es in unserer so statistikfreudigen Zeit nirgends qualifiziertes Zahlenmaterial gibt, das helfen könnte, die Verwendung öffentlicher Mittel für kulturelle Zwecke nachprüfbar zu machen.

Kultur­for­schung und Kultur­ent­wick­lung

Obwohl das methodische Instrumentarium zur Verfügung steht, ist die empirische Kulturforschung unterentwickelt und nur in Ansätzen vorhanden. Ohne Ausbau der Kulturforschung kann es auch keine Kulturentwicklungsplanung geben. Es fehlt so die Erfassung des Bestandes kultureller Einrichtungen wie eine Analyse der Besucher, beziehungsweise Benutzerzahlen. Wir wissen auch nichts über den Bedarf an kulturellen Institutionen und wie man sich die oft geforderte kulturelle Infrastruktur einer Stadt vorstellt. Es ist deshalb so schwierig, weil das kulturelle Angebot, bisher jedenfalls, zu den freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben der Städte, Kreise und Gemeinden gehört oder sich in privater Trägerschaft befindet. Es dürfte aber in absehbarer Zeit, und das wäre eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Gesellschaftspolitik, keine Stadt mehr. ohne einen Kulturentwicklungsplan geben, aus dem die Bevölkerung ersehen kann, auf welche Weise langfristig ihre Ansprüche an das Kulturangebot befriedigt werden. Selbstverständlich sollte es sein, daß das Kulturangebot größtenteils im Bereich der Wohnumgebung mit maximal 30 Minuten Fußweg erbracht wird, denn dort wird die meiste Freizeit verlebt. Damit ist auch die Forderung nach der Schaffung neuer Kultureinrichtungen verbunden, die eine Begegnung der Bevölkerung auch außerhalb der Kneipen ermöglichen.
Der Hannoversche Kulturpolitiker Heinz Meyer hat es so formuliert:
„Für den Politiker, der die Bedürfnisse und Mangelerscheinungen der kulturell Benachteiligten – aber politisch vollberechtigten – Mehrheit der Bevölkerung ernst nimmt, für den kommt schon heute dem Kommunikationszentrum in der soziokulturellen Infrastruktur einer Stadt der gleiche Stellenwert zu wie einem Theater oder einer Bibliothek.”

Kommu­ni­ka­tion und Parti­zi­pa­tion

Eine der Hauptursachen für das schlechte Wohnklima in Ballungsräumen Kommunikation ist der Mangel an Kommunikation innerhalb der Bevölkerung. Das ist und Partizipation für viele Menschen viel belastender, als wir ahnen. Eine aufgeschlossene Gesellschaftspolitik muß das Freizeit- und Kulturangebot in die allgemeinen politischen und sozialen Auseinandersetzungen einbeziehen. Das in den letzten Jahrzehnten von den Arbeitnehmern erkämpfte Mehr an arbeitsfreier Zeit muß für eine zeitgemäße Kulturarbeit nutzbar gemacht werden und darf nicht in starkem Maße, wie es jetzt geschieht, von einer auf Gewinn eingestellten Freizeitindustrie ausgefüllt werden. Dabei müssen Partizipation, Mitbestimmung, politisches und soziales Engagement zur Diskussion gestellt und die Selbstverwaltung kultureller Einrichtungen durch die engagierte Bevölkerung ermöglicht werden. Dabei kommt es nicht so sehr auf eine verwaltungsmäßige und organisatorische Selbstverwaltung an, denn da sind Jugendliche und Erwachsene in gleicher Weise überfordert, sondern auf eine inhaltliche Demokratisierung.

Die „Kultur­po­li­ti­sche Gesell­schaft“

In den siebziger Jahren ist die jahrzehntelang festgefahrene Kulturpolitik und Freizeitpolitik in Bewegung geraten. Das zeigt auch die im Sommer 1976 erfolgte Gründung einer „Kulturpolitischen Gesellschaft” für die Bundesrepublik als Zusammenschluß aller derjenigen, die aktiv die Arbeit an einer neuen Kulturpolitik unterstützen wollen. Nach ihrer Grundsatzerklärung will diese Gesellschaft alle Ansätze für eine erweiterte Kulturpolitik, ausgerichtet auf alle Bevölkerungsschichten, fördern.

„Weg vom Kultur­pri­vileg“

Das Wort „Chancengleichheit”, von Georg Picht in die Auseinandersetzungen um eine neuorientierte Bildungspolitik eingeführt, hat zwangsläufig auch im Bereich der Kulturpolitik zu neuen Denkweisen geführt. Der Forderung in der Bildungspolitik „Weg vom Bildungsprivileg” entspricht die Forderung in der Kulturpolitik „Weg vom Kulturprivileg”. In der ersten Auseinandersetzung der Reformer mit der bürgerlichen Repräsentationskultur hat sich eine Fülle von Mißverständnissen aufgetan, die bereinigt werden müssen, so zum Beispiel als bedeute Reform ein Zurückdrängen der Tradition oder mangelnde Bereitschaft zur Pflege überkommenen Kulturerbes. Weiter wissen wir aus Erfahrung, daß Politiker auf neue Forderungen nur reagieren, wenn sie spüren, daß eine breite Öffentlichkeit die neuen kulturpolitischen Themen begreift und bejaht. Es bedarf sicher noch vieler Bemühungen, bis es so weit ist.

Widerstände gegen den Abbau von Privilegien

Der Kulturpolitiker, der es für notwendig hält, die kulturellen Bedürfnisse aller Bevölkerungsschichten seiner Stadt zu befriedigen, ja solche Bedürfnisse überhaupt erst zu wecken, kommt nicht umhin, den Interessen einer kleinen bildungsbürgerlichen Schicht, die bisher ausschließlich berücksichtigt worden ist, auf andere als gewohnte weise gerecht zu werden. Bei diesem Versuch, Privilegien abzubauen, bekommt er sofort den Widerstand dieser Gruppen zu spüren, die sofort von Kulturabbau reden, wo doch die Teilhabe breiter Bevölkerungschichten am Kulturleben erst geschaffen werden muß. Daß darüberhinaus bei den berechtigten Versuchen, die Kulturlandschaft neu zu formen, die gleichen Kräfte Widerstand leisten, die sich in unserer Gesellschaft gegen eine Umverteilung des Produktiv-Vermögens wehren, ist nicht verwunderlich.
An erster Stelle der Prioritätenliste einer neuen Kulturpolitik steht der Mensch, und in seinem gesellschaftlichen Interesse, sowohl soziokulturell als auch individuell, müssen neue Zielsetzungen für eine zeitgemäße Kulturpolitik nicht nur, formuliert, sondern auch praktiziert werden.

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