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Thesen zur Jugend­-­Sub­kultur in der BRD 1976

vorgängevorgänge 2412/1976Seite 62-72

aus: vorgänge Nr. 24 (Heft 6/1976), S. 62-72

1. Ich bin von der Redaktion aufgefordert worden, wahrscheinlich auf Grund meines Buchs Theorie der Subkultur [1], für dieses Heft einen Artikel zur „Jugend-Subkultur“ zu schreiben. Wieder einmal in der Deutschen Bundesbahn, 21 Minuten vor dem Tag des Redaktionsschlusses, sehe ich mich doch noch in der Lage, dieser Aufforderung nachzukommen.

2. Die Themenstellung erheischt zunächst die Frage, was denn „Jugend“ und was denn „Kultur“ (und folglich „Subkultur“) sei. Was ich unter „Kultur“/“Subkultur“ verstehe, ist bekannt (wenn auch nicht unumstritten [2]) : den Inbegriff (oder auch, der Sache nach, die Totalität) aller Normen, Wertordnungen, Werkzeuge, Verkehrsformen etc. bzw den Inbegriff all dieser, die sich in einem wesentlichen Ausmaß von solchen der jeweils bestehenden Gesamtgesellschaft unterscheiden.

3. Eine solche Bestimmung hat Folgen für die Behandlung der Themenstellung. „Kultur“ versteht sich dann nicht nur als Frage der Kunst (und ihrer Randformen), der Moral, der Etikette, sondern bezieht das Ganze der immateriellen Produktion (mit Überlappungen zur materiellen: „Werkzeuge“) mit ein. In meinem Falle führt dies der Tendenz nach zu einer schier endlosen Abfolge von „Subkultur und…“-Fragestellungen. Hier ist es halt „Subkultur und Jugend“.

Was ist das eigentlich: Jugend?

4. Die Schwierigkeiten mit dem Begriff „Jugend“ habe nicht nur ich. Zu erinnern ist an die periodisch auftretenden Debatten über die Verringerung der Altersgrenze für die Jungsozialisten in der SPD; derzeit wird gerade diese Diskussion für das Jugendwerk der Arbeiterwohlfahrt geführt [3]. Der politische Hintergrund dieser Kontroversen zeigt auf, daß eine Ausdehnung der „Jugend“ von der „Nicht-Jugend“ als bedrohlich wahrgenommen wird. Je weniger „Jugend“, desto besser für die Älteren. Andrerseits weisen die Interessen der produzierenden Unternehmen in eine entgegengesetzte Richtung: der Konsum ihrer Produkte soll zum Ausdruck einer fortbestehenden Identifikation mit der „Jugend“ werden [4]. Also: je mehr „Jugend“, desto besser für die Firmenbilanz.

5. Zwischenzeitlich scheint nachgewiesen, daß „Jugend“, ebenso wie „Kindheit“ oder „Alter“, ziemlich neuen Datums ist [5]. Weit davon entfernt, eine biologische Konstante zu sein, entsteht die Ausgrenzung der „Jugend“ mit dem Aufkommen der großen Industrie im 18. und 19. Jahrhundert. Die Kinder und Jugendlichen, geleitet von der Erfahrung ihrer Großfamilie, wachsen in Mittelalter und früher Neuzeit allmählich in ihre Berufe hinein. (Siehe als Ausdruck der Regel die von Erwachsenen nicht unterscheidbaren Gesichter auf Brueghel-Bildern; siehe als Ausdruck krisenzeitlicher Ausnahme den Simplicius des Grimmelshausen.) Handinhand mit der durch Verschulung [6] und Entwicklung der neuzeitlichen Pädagogik [7] gekennzeichneten Notwendigkeit zur abgehobenen Qualifikation von Arbeitskräften für die Industrie vollzieht sich die Entwicklung von. „Jugend“.

6. „Jugend“ erscheint also zunächst nicht als eine Kategorie der Biologie, sondern als eine Kategorie der Qualifikation: gemeint sind die für den Arbeitsprozeß noch nicht vollgültig Qualifizierten. Anhand der Schulentwicklungen läßt sich nachweisen, daß sich der Begriff von „Jugend“ klassenspezifisch herausbildet: eine bürgerliche „Jugend“ gibt es früher als eine Arbeiter“jugend“.

7. Dies würde aber noch nicht erklären, wieso „Jugend“ als Gattungsbegriff überhaupt denkbar ist. Meine eigene „Jugend“ als universitär qualifizierter Intellektueller, verschleierte Arbeitslosigkeit inbegriffen, endete im Alter von 32 Jahren. Nach dem genannten Kriterium endet die „Jugend“ eines Sonderschulabgängers, der eine Hilfsarbeiterstelle antritt, mit 14 Jahren (ein Alter, nachdem manchen Auffassungen zufolge die „Jugend“ erst beginnt).

8. Ist das genannte Kriterium den jeweils bestehenden Produktionsverhältnissen geschuldet, verbleibt seine Verallgemeinerung in Abhängigkeit vom jeweils erreichten Stand der Produktivkräfte. (Ähnliches gilt imübrigen für das „Alter“, wie die beständig geführte Diskussion um Rentendynamik, zukünftige Finanzierungssorgen der Rentenversicherungsträger etc. beweist.)

9. Der „ideelle Gesamtjugendliche“ (ein so scheußlicher Begriff, daß ich ihn in diesem Aufsatz kein zweites Mal verwenden werde) verdankt sich also demjenigen erreichten Stand der Produktivkräfte, der bei optimaler Mittelverwendung seiner gesamten Generation eine gleich hohe Qualifikation ermöglichen würde. Die jahrgangsbezogen überaus hohen Hochschulbesucherzahlen etwa in den USA und in der UdSSR zeigen, ebenso wie das populäre Schlagwort, keinem über dreißig zu trauen, die derzeitigen Grenzwerte der Altersbestimmung von „Jugend“ für hochindustrialisierte Gesellschaften an.
Um diese Werte herum oszilliert der jeweils empirische „Jugendliche“ einer gegebenen Gesamtgesellschaft. Mag er nun privilegiert oder arbeitslos genug sein, individuell diesen Grenzwert hinauszuschieben, mag er nun aufgrund von Erscheinungsformen seiner Klassenlage weit unterhalb der gesamtgesellschaftlich notwendigen Qualifikationsgrenze genötigt sein, in den Produktionsprozeß einzuitreten.

10. Es liegt auf der Hand, daß die Bestimmung von „Jugend“ solcherart vom jeweils erreichten Produktionsniveau abhängig ist. In dem biologischen Alter, in dem im einen Land gerade der Grenzwert von „Jugend“ erreicht wird, mag in einem anderen Land schon nahezu die durchschnittliche Lebenserwartung liegen.

11. Mit der Abhängigkeit des Begriffs von „Jugend“ vom erreichten Stand der Produktivkräfte ist gleichzeitig gesagt, daß in seiner allgemeinen Tendenz der Grenzwert von „Jugend“ dazu neigt, sich nach oben zu verschieben. Die Entwicklung des Kapitalverwertungsprozesses [8] ebenso wie die (widersprüchlich) humane Neigung zur Erleichterung der Mühsal von Arbeit (in ihr Extrem getrieben in der imgrunde logisch widersinnigen Forderung nach der Abschaffung von Arbeit überhaupt [9]) treiben eine unweigerliche Entwicklung der Produktivkräfte hervor (von der gleichzeitigen Entwicklung von Destruktivkräften muß in diesem Zusammenhang abgesehen werden). Soweit nicht der Begriff der „Produktivkräfte“ technizistisch verkürzt wird, ändert daran auch die Diskussion um Ökologie und Wachstumsbegrenzung nichts [10]. (Die Verallgemeinerung einer energiesparenden „mittleren Technologie“ würde etwa einen bedeutenden Fortschritt in der Entwicklung der Produktivkräfte darstellen).

12. Das macht: die „Jugend“ wird „älter“ werden. In ihrer allgemeinen Tendenz hat sich die „Jugend“ verbreitert und wird sich weiter verbreitern. Dies macht es überhaupt erst möglich, von einer „Jugendkultur“ zu sprechen, folglich auch von einer „Jugendsubkultur“ (ebenso auch die Werbestrategien, eine „Zielgruppe Jugend“ betreffend).

12. A: Hier muß auch die im übrigen interessante Fragestellung ausgeklammert werden, inwieweit der angedeutete gesellschaftliche Prozeß auch Tendenzen hervortreibt, den Begriff „Jugend“ wieder in sich zurückzunehmen. Ebenfalls, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen diese Tendenzen zur Entfaltung kämen. Anzeichen dafür sind vorhanden. Wird zum Beispiel, wie im Konzept der „permanenten Weiterbildung“ [11] (und in dazu alternativen, etwa an Illich orientierten, Konzepten [12]), davon ausgegangen, Qualifikationsprozesse als eine lebenslange Aufgabe verbindlich zu machen, so schlägt der Begriff der „Jugend“ am Punkt der endlosen Erweiterung seines Grenzwerts um. (Ähnliche Anzeichen ließen sich aus den Gegenständen der Mode, der Biologie, des Rechts etc zusammentragen.) Maler des 22. Jahrhunderts könnten vielleicht wieder Jugendliche mit erwachsenen Gesichtern malen.

Funktionen der Akkumu­la­ti­ons­zy­klen

13. Jedoch zeichnen sich Tendenzen dadurch aus, daß es immer ihnen entgegenwirkende Tendenzen gibt. Diese besonderen Tendenzen hängen in letzter Instanz von langfristigen wirtschaftlichen Schwankungen ab [13], die den Zyklus von Kapitalakkumulation, und auch von Erneuerungen von Produktivkräften, zum Ausdruck bringen. (Von
besonderen Tendenzen, die aus Entwicklungsprozessen in Jugendsubkulturen selbst resultieren, wird weiter unten die Rede sein.)

14. Die Funktion der Akkumulationszyklen für die besonderen Tendenzen zur Entwicklung der Personenzusammenfassung „Jugend“ und ihres Begriffs läßt sich, in aufsteigender Reihenfolge, in dreierlei Hinsicht beschreiben:

a) unmittelbar ökonomisch;
b) empirisch: gesellschaftlich, politisch, kulturell;
c) als wichtig für die jeweilige Formbestimmung der Jugendsubkulturen.

15. Zu a) In den Zeiten absteigender Akkumulationszyklen (z.B. 1914-1940 oder ab 1966/67) sinkt im allgemeinen das Ausmaß umzuverteilender Revenuen (Einkünfte). Dies findet seinen auffähigsten Ausdruck in der öffentlichen Mittelknappheit: der Staat hat (z.B. infolge relativ sinkenden Steueraufkommens) zu wenig Geld, um Bildungs-, Sozial-, Kulturmaßnahmen ausführen zu können, die die Weiterqualifikation der „Jugend“ sicherzustellen imstande sind. (Was nicht heißt, daß er für andere Staatsaufgaben, wie Rüstung und Polizei, nicht noch genug Mittel hätte: er braucht sie auch besonders, da in diesen zyklischen Phasen die Wahrscheinlichkeit der Produktion von Kriegen und Revolutionen eher zunimmt.) Andere Ausdrucksformen sind: Arbeitslosigkeit, Inflation, Reallohnsenkungen, und in deren Folge relative Verelendung (und manchmal auch absolute).
Für unser Thema heißt dies: die empirische „Jugend“, weniger qualifiziert, früher dem durchgängigen Kampf um den Verkauf der Arbeitskraft ausgesetzt, wird „jünger“.

16. Zu b) Gerade weil in diesen Zeiten absteigender Akkumulationszyklen relative Verelendung stattfindet, kann (muß nicht: dies bedürfte einer jeweils genaueren Untersuchung) die Unzufriedenheit mit einer gegebenen Gesellschaftsordnung sich bis zu dem Bedürfnis steigern, diese zu verändern. Vorbeugen ist besser als heilen, sagen sich die Staaten: diese Zeiten stellen sich historisch dar auch als Blütezeiten der Zensur (zB Metternich während 1823-184$), der Parteienverbote (zB Sozialistengesetz 1878-91), der politischen Justiz sowohl 1873-96, als auch 1914-1940), letztlich des Faschismus (1914-45).

17. Die bestimmte geschichtliche Situation eines Landes in ihrem Widerspiel von Entfaltung der Produktivkräfte, Formen der ökonomischen Krise, Stärke der repressiven Maßnahmen und der diesen entgegenwirkenden Kräfte (vorallem der Arbeiterbewegung) formt die Erfahrungen jener Menschen, also auch jener „Jugendlichen“, die dieser geschichtlichen Situation unterworfen sind. Dies umsomehr, und wohl auch teils phasenverschoben, wenn diesen Erfahrungen jene aus dem gerade vergangenen aufsteigenden Akkumulationszyklus entgegenstehen, der zumeist als „Wirtschaftswunder“ (1949-67), „Belle epoque“ (1897-1914) oder ähnlich erlebt worden ist.

18. Das heißt für unser Thema: die empirische „Jugend“ sinkt zusätzlich erheblich unter ihren logischen Grenzwert, wenn sie sich durch ihre historische Lage dazu gezwungen sieht, ihre Erfahrungen so aufzuarbeiten, daß sie durch Anpassung an die gegebene Gesellschaftsstruktur das je vergangene „goldene Zeitalter“ wiederherzustellen glaubt. Sie wird früher „erwachsen“. Es könnte auch gesagt werden: sie resigniert früher.

19. Aktuelle Illustration (BRD 1976): Berufsverbote, Einschränkungen der Meinungsfreiheit ( § 88 a, § 130), Arbeitslosigkeit und Jugendarbeitslosigkeit, Numerus Clausus (und die diesem folgende Verlagerung von Stress, Leistungsdruck und sozialdarwinistischem Konkurrenzkampf in die Schulbänke), Regelstudienzeit, Rücknahme geplanter Reformen in der Berufsausbildung, Spitzelwesen, BaföG-Kürzungen, Ansteigen von Alkoholismus und Mißbrauch anderer Drogen, Ansteigen von psychischer Krankheit und Kriminalität: alle diese Erscheinungsformen des derzeitigen absteigenden Akkumulationszyklus beeinträchtigen erheblich ein produktives Aufarbeiten der Krisenerfahrungen. Je weniger die vorangegangene Phase bewußt erlebt worden ist, destomehr steigt die Anpassungsneigung (unter diesen Bedingungen).
Selbst in der Statistik zu den Bundestagswahlen 1976 schlägt sich, in verkümmerter Form, diese Entwicklung nieder: Die „junge Jugend“ (die 18 bis 25jährigen) neigte dazu, mehrheitlich CDU/CSU zu wählen. Die „alte Jugend“ (die 25 bis 30jährigen) hat die mehrheitliche Wahl der SPD beibehalten. Da sie schon anderes lebensgeschichtlich erfahren hat, erscheint ihr die „Tendenzwende“ (eine ideologische Verklärung der genannten sozio-ökonomischen Prozesse) nicht als naturgeschichtliche Notwendigkeit.

20. Zu c) Subkulturen (und seit ca 1880 auch
Jugendsubkulturen) hat es, als Gruppen mit dem Anspruch einer Totalität abweichender Ansichten und Praktiken, wohl seit den Folgeerscheinungen der neuzeitlichen Revolution, also auch in den verschiedenen Akkumulationszyklen seit dem Aufkommen der großen Industrie, gegeben. Was aber von letzteren dann grundlegend beeinflußt zu werden scheint, ist die Bestimmung der Form, in denen die besonderen Subkulturen denken, fühlen und handeln. Auch diese Formbestimmungen zeigen die entgegenwirkende Tendenz, die „Jugend“ nach unten „einzuschränken“.

Einfluß abstei­gender Akkumu­la­ti­ons­zy­klen

21. Meines Erachtens können inetwa folgende Momente des Einflusses absteigender Akkumulationszyklen auf Jugendsubkulturen verallgemeinert werden:

1) Da infolge öffentlicher Mittelknappheit, Mangel an umzuverteilenden Revenuen etc der Staat und andere politische Großverbände weniger hierfür infragekommen (von deren politischer Negation durch [und der] Jugendsubkulturen ganz zu schweigen), sind Jugendsubkulturen stärker an Normen der Selbsthilfe und Selbstorganisation (bis hin zur Autarkie) orientiert. Die aufsteigen-den Akkumulationszyklen sind die relativen Blütezeiten der Gewerkschaftsbewegungen, die absteigenden die relativen Blütezeiten der Genossenschaftsbewegungen.
2) Aus denselben Gründen können Jugendsubkulturen, wenigstens zeitweise und auf von der Gesamtgesellschaft überschaubarem Raum, Funktionen öffentliche Kultur- und Sozialpolitik übernehmen [14].
3) Stärker als in Zeiten aufsteigender Akkumulationszyklen wird, als Folgeerscheinung öffentlicher Repression, seitens der Jugendsubkulturen versucht, ihre Absicht gesellschaftlicher Veränderung durch Umgehung des direkten Wegs zu erreichen. Hierfür kommen Religion, Sexualität, Rückkehr zur Natur im Selbstverständnis der Jugendsubkulturen infrage; neuerdings auch Psychotherapien.
4) Während der aufsteigende Akkumulationszyklus von Versuchen begleitet wird, die (Weiter-) Qualifikation durch Angleichung an den formalen, gesamtgesellschaftlichen Weg zu erreichen, wird das Qualifikationsbestreben subkultureller Jugendlicher in absteigenden Akkumulationszyklen durch die Orientierung an häufig informellen, stark erfahrungsorientierten Qualifikationsprozessen gekennzeichnet.

21. A. So scheint mir auch der vielbeschworene „Generationskonflikt“ in den letzten beiden Jahrhunderten eine Folge der offenkundigen Tatsache zu sein, daß Eltern und Kinder nahezu notwendigerweise ihre lebensgeschichtlich entscheidenden Erfahrungen in verschiedenen akkumulationszyklischen Phasen gemacht haben.

22. Es erschiene mir nun als Nonsense, die verschiedenen Erscheinungsformen jugendlicher Subkultur allein auf der Grundlage von akkumulationszyklischen Entwicklungen zu bestimmen. Lokale und regionale Besonderheiten ökonomischer, politischer und kultureller Art, die Klassenlage der Betroffenen, weltweite Moden etc spielen eine, mitunter im einzelnen entscheidende, Rolle. (So wäre es durchaus möglich, die unterschiedliche Entwicklung der Studentenbewegung 1967 in den Städten Berlin, Frankfurt, Heidelberg, München, Tübingen, Hamburg – den Hauptorten der späteren Fraktionen – schon aufgrund des „Klimas“ der jeweiligen Universität, das heißt der wissenschaftlichen Verkehrsformen der Hochschullehrer, zu skizzieren.)

Die Weiter­ent­wick­lung der Produk­tiv­kräfte

23. Bevor ich nun den Versuch unternehme, in verkürzten Anmerkungen den Stand der Jugendsubkulturen in der BRD 1976 zu bestimmen, ist doch noch auf die aktuelle inhaltliche Seite des derzeit vorherrschenden absteigenden Akkumulationszyklus einzugehen. Dies betrifft wiederum die Tendenz zur Weiterentwicklung der Produktivkräfte.

24. Der derzeit vorherrschende Akkumulationszyklus begann etwa 1940, er wird nach allen bislang vorliegenden Erfahrungen zwischen 1990 und 1993 enden. Die ihm zugrundeliegende Innovation ist die Elektronik und, als dieser folgende Wissenschaft, die Kybernetik. Der zunächst erzielte Effekt dieser elektronisch-kybernetischen Produktionsweise ist ein neuer Schub in der veränderten organischen Zusammensetzung des Kapitals (branchenweise mag die Maschinerie die menschliche Arbeit so gut wie vollständig zu beherrschen), die Möglichkeit totaler Kontrolle des Einzelmenschen, eine weltweite Konzentration der Einzelkapitale (einschließlich deren generalstabsmäßigen Planung ihrer Produktions- und Distributionsstrategien). Andererseits zeigt sich vage am Horizont die nunmehr technische (wenngleich nicht politische) Möglichkeit von starker Arbeitszeitverminderung, umfassender Demokratisierung und Dezentralisierung.

25. Einige der wesentlichen kulturellen Auswirkungen der elektronisch-kybernetischen Produktionsweise sind:

1) Die Lohnarbeit des Intellektuellen wird nunmehr nicht nur der Form nach, sondern auch als inhaltliche Unterstellung unter die elektronische Maschinerie der bestehenden Produktionsweise unterworfen.
2) Die elektronische Maschinerie verstärkt zunächst den Zwang zur großen Serie; sie erzwingt die Arbeit in Gruppen, Teams, Kollektiven.
3) Sie verstärkt gleichzeitig die weitere Vereinzelung des Einzelnen, zwingt ihn gleichzeitig von außen mit seinesgleichen in Gruppen zusammen.
4) Sie ermöglicht gleichermaßen erstmalig in der Menschheitsgeschichte das zeitökonomische Überwiegen von Freizeit über Arbeitszeit für einen großen Teil der Bevölkerung.
5) Sie ermöglicht ebenfalls erstmalig in der Menschheitsgeschichte die Ausrottung der gesamten Menschheit durch eigene Hand.
6) Elektronische Medien werden zum alltäglichen Spiel-Zeug auch der Lohnabhängigen.

26. Diesen Auswirkungen entziehen sich auch die Jugendsubkulturen nicht, sei es in Form der Affirmation, sei es in Form der Negation.

27. Somit läßt sich der Stand der aktuellen Entwicklung der Jugendsubkultur wie folgt andeuten:

Die autonome Jugend­zen­tren­be­we­gung

28. Stärkster Ausdruck der Jugendsubkultur ist die autonome Jugendzentrenbewegung, mit hunderten Initiativen bis hin in kleine Gemeinden. Auf Selbsthilfe hin orientiert, von den Städten ökonomisch im Stich gelassen, wehrt sie sich zunehmend gegen organisatorische Einflüsse von außen, auch gegen solche aus politischen Subkulturen.

29. Die Jugendzentrenbewegung ist in ihrer eigenen Praxis immer noch weithin konsumorientiert, auch wenn es sich dabei weitgehend um einen „alternativen“, „armen“ Konsum handelt, Der Gedanke an eigene Produktion ist erst vereinzelt, und da im Gefolge der Jugendarbeitslosigkeit aufgekommen, wird er noch seltener praktisch realisiert.

30. Die Praxis der Jugendzentren zeichnet sich weitgehend durch den Mangel an verbaler Qualifikation aus. Überwiegendes Mittel zur Vergesellschaftung der Jugendlichen ist hier die Musik geblieben. Soweit themenbezogene Arbeitskreise bestehen, ist der Erwerb erfahrungsbezogener Qualifikationen (Foto, Film, Kleinpresse, Keramik) weithin ihr Gegenstand.

31. Im Gegensatz etwa zur Schülerbewegung (Schüler-Union) ist bislang der Einbruch (und die Vereinnahmung) in die (der) Jugendzentren seitens an gesamtgesellschaftlichen Normen und Werthaltungen orientierter Jugendgruppen nicht gelungen.
32. Die Jugendzentrenbewegung ist vergleichsweise wenig studentisch beeinflußt. Einige ihrer regionalen Schwerpunkte liegen in Gegenden, wo es kaum Hochschulen gibt (Lüneburger Heide, Rems-Murr-Kreis in Württemberg, von Hoch-schulen abgelegene Teile des Ruhrgebiets).

Ästhetische Formen

33. Das Anhören oder auch Produzieren von Musik, zumeist mit Hilfe elektronischer Medien, hat an Beliebtheit nichts eingebüßt. Festivals und große lokale Musikveranstaltungen sind nachwievor Lieblingstreffpunkte von Jugendsubkulturen. Grundlage der Musik bietet eine variierbare Mischung von Rock-, Pop- und Jazzelementen, seltener auch von Elementen zeitgenössischer konzertanter Musik. Im einzelnen mögen da große, klassenspezifische, Unterschiede bestehen. Die emphatische Interpretation vorgeblicher oder wirklicher emanzipatorischer Funktion dieser Musik, etwa als „sprachlose Rebellion“ [15], hat abgenommen.

34. Allmählich gewinnen andere ästhetische Formen der Selbstdarstellung, bzw der Darstellung eigener Probleme, an Beliebtheit. Zu nennen ist hier der Videofilm, die Theatergruppe (die etwa Probleme der Jugendlichen im Fürsorgeerziehungsheim, in der Diskothek etc darstellerisch aufgreift), das Soziodrama. Daß vereinzelt auch wieder das 1967/68 mit großem Pomp begrabene Kabarett die Szene betritt, scheint mir ein sicheres Anzeichen für die verschärfte staatliche Unterdrückung zu sein.

Wohnge­mein­schaften und Landkom­munen

35. Die Wohngemeinschaftsbewegung (WG; als Massenbewegung ein wirklicher Sprößling der elektronisch-kybernetischen Produktionsweise) nimmt weiterhin zu. Dies mag manlfrau leicht den Anschlägen in den Hochschulorten und den Kleinanzeigen in der alternativen Presse entnehmen. Versuche, die WG-Bewegung zum Ausgangspunkt einer breiteren, sich auch als politisch verstehender Strömung zu machen, sind vorerst gescheitert. (Eine Reihe von WG-Kooperativen hat sich aufgelöst oder ihre Tätigkeiten ein-geschränkt; der „Alternative Info-Verteiler“ als ihr dezentrales Koordinationsorgan vegetiert eher dahin.)

36. Die Wohngemeinschaftsbewegung scheint sich allmählich über studentische und akademische Kreise hinaus einzudehnen. Ein Anzeichen dafür ist wiederum, daß sie auch in hochschularmen Gegenden auftritt (zB in Ostwestfalen, wo sie weitgehend von Jungarbeitern repräsentiert wird). Ebenso allmählich ist (wiederum verstärkt durch die herrschende Arbeitslosigkeit – oder doch zumindest durch die Angst vor dieser) das Interesse an alternativer Ökonomie [16] in der WG-Bewegung gestiegen.

37. Mag die WG-Bewegung noch so sehr ideologisch als die Produktionsstätte des „neuen Menschen“ verklärt worden seinl [17], die materielle Grundlage ihrer Chancen liegt in niedrigem Arbeitslosengeld, sinkendem BaföG, sinkendem Reallohn. So verstehen sich alternativer Konsum und „Kultur der Armut“ [18] von selbst, auch wenn sich oft empirisch die Motivation der WG-Bewohner zu dieser nicht als Folge, sondern als Vorwegnahme von Arbeitslosigkeit, vermittelt über die Vermeidung der oft mörderisch verschärften Konkurrenz mit ihren Folgeerscheinungen (Stress, psychosomatische Krankheiten etc) darstellt.

38. Wie zu erwarten, haben sich Selbsthilfegruppen in den letzten Jahren stark vermehrt. Zumindest in Köln, Dortmund, Bielefeld, Berlin und Frankfurt haben sich Arbeitslosenselbsthilfen gebildet, die sich mit Maurerarbeiten, Transporten und Läden über Wasser halten. (Aus den WG-Kooperativen entstandene Institutionen in Hamburg, Hannover und München erfüllen teils eine ähnliche Funktion.) Jedenfalls in Wiesbaden hat sich der erste Konsumverein aus den Bewohnern einer Obdachlosensiedlung heraus neukonstituiert. Die Geschichte der Genossenschaftsbewegung wird in Kreisen der Jugendsubkultur wieder neu studiert [19]

39. Auch die Tendenz zur Gründung von Landkommunen hält immer noch an. Anscheinend ist der Prozeß der Freisetzung agrarischer Arbeitskraft noch nicht so weit zum Stillstand gekommen, daß das Problem steigender Grundrente diese Tendenz hätte beeinträchtigen können. So treten auch die Landkommunen vermehrt in strukturschwachen Randgebieten, teils mit Grenzböden, auf (Landkreis Danneberg-Lüchow, Niederbayern, Württemberg, Schleswig-Holstein). Doch ist, im Gegensatz zu den USA, Großbritannien oder der Schweiz, ihr Stellenwert als (sub-) kulturbildender Faktor eher gering. Es werden eher wenig Böden bebaut, der Lebensunterhalt setzt sich aus einem bißchen Gartenbau, etwas Handwerk und etwas Spenden von städtischen Bekannten zusammen; wirklich aktiv sind eigentlich nur die Landkommunen im alternativen Mediensektor (Obermühle, Kompost, upn).

Die Selbstdarstellungen von Landkommunen (vor allem in „Kompost“) haben teils etwas Rührendes, teils etwas unfreiwillig Komisches an sich.

40. Die Frage der Drogen hat in den letzten fünf Jahren ihren alternativen Stellenwert fast vollkommen eingebüßt. Wie in der Gesamtgesellschaft ist die beherrschende Droge der Alkohol. Fraglos gibt es noch eine Drogensubkultur (allein in Frankfurt über 2000 Fixer), die sich jedoch von der Jugendsubkultur weitgehend losgelöst und regressiven Charakter angenommen hat. Dementsprechend haben sich auch die Release-Gruppen weitgehend aufgelöst und sind durch die im gesamtgesellschaftlichen Sinne affirmativ arbeitenden Daytop- oder Four-Steps-Häuser (mit starker Betonung auf Autorität und Hierarchie) ersetzt worden. (Ausnahmen, wie die Free Clinic Heidelberg, die bis jetzt vom Heidelberger Oberbürgermeister Zundel immer noch nicht totzukriegen war, bestätigen die Regel.)

Politische Tendenzen

41. Wie aus allem zum Begriff der „Jugend“ gesagten hervorgeht, ist die politische Kultur der Jugendsubkulturen stark zurückgegangen. In Zeiten, in denen eine Unterschrift für amnesty international, eine Kandidatur für den MSB Spartakus oder ein Foto von einer Demonstration unter Umständen für ein Berufsverbot hinreichen können, oder ein Engagement für eine gewerkschaftliche Jugendvertretung den Arbeitsplatz nach Beendigung der Lehre in Frage stellt, über-legt man/frau sich schon seine politische Meinungsäußerung.

42. Die Fraktionierung der Linken hat sich in den letzten zwei Jahren wenig verändert; sie ist (ich zähle immer noch 33 „größere“ Fraktionen) wohl auch eher ein Produkt von Leistungsdruck und von Konkurrenz als von entfalteten politischen Auseinandersetzungen (rational, dh nach politischen „Linien“, müßten 6-7 Fraktionen reichen). Die Mitgliederzahl der politischen Gruppen stagniert mit wenigen Ausnahmen oder ist gar zurückgegangen [20]. Die politische Kultur ist mittlerweile weitgehend eine Domäne der „alten Jugend“, wenn nicht der über Dreißigjährigen, denen ja nicht zu trauen ist (und die nichts mehr zu verlieren haben, weil sie in den Akten des Bundesamts für Verfassungsschutz ohnehin schon erfaßt sind).

43. Es wäre aber nun ein Fehlschluß, aus dieser Entwicklung auf eine Entpolitisierung der Jugendsubkulturen zu schließen. Eher läßt sich sagen, daß die politischen Normen der Jugendsubkulturen an den linken Gruppen vorbeigehen. Die stärkste Fraktion in den Jugendsubkulturen ist die der Fraktionslosen (mögen manche von ihnen auch formal einer Fraktion angehören). Auf studentischer Ebene ist ein Anzeichen dafür die in den letzten zwei Jahren gestiegene Bedeutung der „Basisgruppen“, die eine Anzahl von AStAen (mit-)tragen (zB Frankfurt, Hannover, Heidelberg, Kassel), und auch in der VDS-Koalition mit vertreten sind.

44. Die Bestimmung der politischen Normen der Jugendsubkulturen würde einen eigenen detaillierten Aufsatz voraussetzen. Hervorstechend ist ihre Ambivalenz: eine Mischung aus Organisationsfeindlichkeit (soweit es über die sehr geschätzte Form der lokalen, sinnlich erfahrbaren Gruppe hinausgeht), die teils aus schlechten Erfahrungen mit den Fraktionen, teils aus einem Horror vor den sich konzentrierenden Apparaten (des Staats, der Konzerne, der Medien, auch der Gewerkschaften, der Parteien und der Kirchen) hervorgehen, aus Angst, gepaart mit manchmal übertrieben demonstriertem Mut, aus realer Utopie, aus gemischten Versatzstücken pazifistischer, rätedemokratischer, ökologischer, gewerkschaftlicher, bürgernaher, sozialrebellischer, natur-dialektischer Herkunft – und manchmal in ein und derselben Person.

45. Ausdruck dieser Ambivalenz ist zum Beispiel, daß das – 1970 so übliche – Abfragen des politischen Bekenntnisses in der Jugendsubkultur weitgehend verpönt geworden ist, daß man/frau aber merkwürdig auffällt, wenn man/frau anstatt von „Bullen“ von „Polizisten“ spricht. (Ein Ausdruck realer Erfahrungen; verschärft durch die Kenntnis von der Erschießung auch Unbeteiligter, von Ingrid Reppel bis zu Günther Jendrian und Jan McLeod, trägt diese Haltung doch den Keim politischer Gefahren in sich, da statt des repressiven Gesamtzusammenhangs der sinnlich wahrnehmbare einzelne Polizist politisch verantwortlich gemacht wird.)

46. Nach einer mehrjährigen „subkulturellen“ Lücke hinter den USA, Großbritannien und den Niederlanden sind in den letzten Jahren auch in der BRD Strategien zur Umgehung des direkten Wegs zwecks gesellschaftlicher Veränderung ins Gespräch gekommen. Auf die allmähliche Steigerung der Bedeutung alternativer Ökonomie wurde bereits hingewiesen; hinzu kommt, daß diese, als Teilstrategie, auch von „überalterten“ politischen Gruppen, wie „Autonomie“ (die sich vorher nach dem Vorbild von „Lotta continua“ auf den Betriebskampf des „multinationalen Massenarbeiters“ festgelegt hatte) und dem Sozialistischen Büro (in der Unterstützung portugiesischer Landkooperativen, und in der Form von „Rotarbeit“ für arbeitslose Intellektuelle) anerkannt worden war.

Religiös motivierte Normen

47. Religiös motivierte Normen spielen noch immer nicht die Rolle in der Jugendsubkultur wie etwa in den USA. (Ein Jimmy Carter als Guru jugendlicher Subkulturen wäre in der BRD noch undenkbar.) Die Bedeutung von Hare Krishna und dem Guru Maharaj Gi ist eher zurückgegangen; die Transzendentale Meditation ist eher in bürgerlichen Kreisen beliebt. Regional ist Gruppen der „Children of God“, der „Ananda Marga“ und der „Church of Scientology“ ein gewisser Einfluß auf Jugendsubkulturen zuzusprechen, wo sie sich mit anderen subkulturellen Normen verbunden haben (so in Göttingen, wo „Ananda Marga“ die WG-Kooperative mitbetreibt; an
anderen Orten ist dies die Funktion des evangelischen „Martinswerks“). Die Anthroposophie übt zwar in einer Reihe von Fragen einen gewissen Einfluß (der auch im Steigen begriffen ist) auf Jugendsubkulturen aus (alternative Ökonomie, Landbau, Diät, Qualifikation), aber gerade in religiösen Fragen nicht.

48. Wo religiöse Normen eine Rolle spielen, da in der Form eines religiösen Synkretismus, der geradezu römisch-vorchristliche Dimensionen annimmt. Dieser Synkretismus ist sehr verbreitet; brutal ausgedrückt: ein Verschnitt aus Astrologie, Castaneda, Tao, Buddha, Aurobindo, der Bergpredigt, dem I-Ching – wenngleich nicht so systematisiert wie bei dem US-Guru Metalica. In Verbindung mit politischen, ökologischen und antipsychiatrischen Normen dürfte diese Form der Religiosität noch eine Zukunft haben, vorallem je agnostischer oder milieuchristlicher die Verlautbarungen von Gesamtgesellschaft und subkulturellen Konkurrenzfraktionen ausf allen [21].

49. Solche Entwicklungen abweichend religiöser Art kennzeichneten immer, teils als Alternative zu, teils als Amalgam mit politischen Bewegungen, die Lage in absteigenden Akkumulationszyklen. Erinnert sei an George Thompsons beredte Schildung der „Propheten“ zwischen 1823 und 1835 und an die materialistisch-synkretistische Ersatzreligion aus Comte, Renan, Haeckel etc um 1890. Ähnliches gilt für die politische Befreiung mithilfe der Aufhebung der Zwangsmonogamie. Die pantagamen Modelle von Fourier, Enfantin (Mesuilmontant) und Oneiäa blühten zwischen 1823 und 1848. In der Weimarer Republik gab es Wilhelm Reichs Sexpol-Bewegung.

Neue Formen der Sexualität

50. Heute hat die Jugendsubkultur die gesellschaftlich (Frauenarbeit) und biochemisch (Pille) verursachten Lockerungen der Sexualnormen anerkennend zur Kenntnis genommen; die Gesamtgesellschaft allerdings weitgehend auch. (In dieser Hinsicht beginnt der Katholizismus zur regressiven Subkultur zu werden: siehe Scheidungsvolksbegehren in Italien, „Aktion Leben“ im Bündnis mit der NDP in Österreich, Bischof Lefebvre in Frankreich.) Erste Gegentendenz dazu: Teile der Jugendsubkultur beginnen die Pille in Frage zu stellen.

51 . Die empirischen Umfragen, die sich auf dieses tabuierte Gebiet natürlich stürzen, legen großen Wert darauf, daß die Institution der Ehe in der Jugendkultur weithin anerkannt sei, und daß die sexuelle „Freizügigkeit“ vorehelichen Charakter trage. Fraglich ist, ob die reale Ambivalenz (die sich auch in Frühehen und Scheidungsraten ausdrückt) durch das methodische Instrumentarium der empirischen Sozialforschung gemessen werden kann.
Dagegen spricht die außerordentlich emotionell geführte Diskussion, die in der Jugendsubkultur (wo immer Informationen darüber vorliegen) über die von Österreich ausgehende Aktionsanalytische Organisation geführt wird. Die AAO hat ihre Mitgliederzahl auch in den letzten Jahren vervierfacht. Außer Frage scheint mir zu stehen, daß das die Jugendsubkultur Faszinierende an diesem Modell die gemeinsame Sexualität von je circa 30 Frauen und Männern ist – und nicht so sehr die gemeinsame Ökonomie (die es auch anderswo gibt, wenngleich weniger konsequent) oder die Aktionsanalyse (die sich von anderen vom späten Reich beeinflußten Gefühlstherapien nur unwesentlich unterscheidet). Während der obligatorische Haarschnitt eher ebenso abschreckend wirkt (die Mehrzahl der Haare in der Jugendsubkultur ist immer noch lang) wie die strikt autoritäre Hierarchie (die wohl nur auf die künftigen Gurus anziehend wirkt).

52. Zur Illustration:

Wiederholt habe ich erlebt, daß das AAO-Modell von jungen Männern aus der Jugendsubkultur eifrig diskutiert wurde, als sie keine Freundin hatten, um sofort nach Erlangen einer Freundin durch das „voreheliche Verhalten“ ersetzt zu werden. Je nach Streit oder Versöhnung mit der Freundin gewann oder verlor die AAO an Attraktivität. Auch auf geschiedene Männer übt es eine gewisse Anziehungskraft aus, während geschiedene Frauen sich eher der Frauenbewegung zuwenden (für welche folglich, die Altersstruktur betreffend, häufig ähnliches gilt wie für die politischen Gruppen).

53. Auch sonst sind die sexuellen Normen in Bewegung geraten. Durch die Schwulen- und Lesbenbewegung eingeführt, werden diese sexuellen Praktiken vorallem in den Teilen der Jugendsubkultur diskutiert, die Frauen- oder Männergruppen zugehören. (Oft unter erheblichem Gruppendruck, was zu dem bösen Bonmot geführt hat, heute würde man schwul oder lesbisch wie man früher in eine Partei oder Gewerkschaft gegangen sei.) Neuerdings bestehen Bestrebungen, die Päderastie zu enttabuieren [22].

Rückkehr zur Natur

54. Die „Rückkehr zur Natur“ nimmt ebenfalls die verschiedensten Formen an. Von den Landkommunen war schon die Rede; ansonsten findet sie sich als Beimischung zu anderen Wertordnungssynthesen. „Bei sich selbst beginnen“ ist hier ebenso beliebt wie bei den Psychotherapien, und dient ebenso oft als Rationalisierung für Mangel an politischem Verhalten in einer Reihe anderer Fragen. Es mag sich um Fahrradfahren handeln oder um makrobiotische Rezepte, um den Besuch im Reformhaus oder um Drogenverbote (Rauchverbote auf Tagungen werden fast so hitzig diskutiert wie die AAO), um Naturheilverfahren oder um Hausgeburten (Frauenbewegung!). Nicht zu berücksichtigen ist hier der Kampf gegen die Kernkraftwerke; dieser ist ebensowenig spezifisch für Jugendsubkulturen wie die Bürgerinitiativen allgemein, oder die Stadtzeitungen.

Psychotherapien

55. Auch die psychotherapeutischen Normen sind in der Zwischenzeit glücklich in der BRD gelandet. Aus einer Mischung von Kaputtgemachtwordensein, antipsychiatrischer Einstellung, Team-/Gruppenarbeit und dem Versuch, der gesamtgesellschaftlich produzierten Isolation zu entgehen, ergießt sich die Milchstraße von Initiativen und Therapien über den Selbstsucher: Bioenergetik, Gestalttherapie, Rollenspiel, Gesprächsgruppen, Körpererfahrung (incl Aikido und Tai-Chi), Selbsterfahrung, Encounter mit und ohne Musik, Primärtherapie, Aktionsanalyse, katathymes Bilderleben, Großgruppentherapie (Rattner), Consciousness-Raising-Gruppen (Frauenbewegung!), anonyme Neurotiker und Verband der Selbsthilfegruppen; als, da gesamt-gesellschaftlich, verpönt gelten die Pharmakotherapie (mit Recht), die Verhaltenstherapie (zum Teil mit Recht), und weitgehend auch schon die Psychoanalyse („zu viel Sprache“).

56. Die Lernziele dieser Therapien haben einen durchschlagenden Erfolg hinsichtlich vieler jugendlich-subkultureller Normen erzielt – auch gerade bei Personen, die nie eine dieser Therapien durchlaufen haben. Es gilt als Norm, sensibel auf den anderen einzugehen (ob es auch immer geschieht, ist eine andere Frage), dessen Körper zu beachten (soviel gestreichelt und umarmt wurde vor fünf Jahren nur bei ausländischen Arbeitnehmern), Konflikte umgehend auszutragen (was auch wieder zu einer ldeologie – in Kassel zB zur ldeologie der „Auseinandersetzung“, der Aneignung nicht durch Produktion, sondern grundsätzlich durch Konflikt – führen kann).

57. Nachteilig beeinflußt wurde durch therapeutische Normen, erfahrungsorientierte Qualifikation, politische Ambivalenz und elektronische Spiel-Zeuge die Haltung zur Sprache. Dem gesamtgesellschaftlichen Geschwätz wurde das jugendlich-subkulturelle Schweigen entgegengesetzt, dem politisch-subkulturellen Theorie-Trip die jugendlich-subkulturelle „linke Legasthenie“. Die Lesegewohnheiten etwa reichen häufig über Comics, Papers (nicht über 10 Seiten) und Romane (zB eben „Castaneda“) nicht hinaus. Grammatik wird zur Repression (ist es zum Teil wohl auch, wird aber isolativ nur noch als solche gesehen). „Gute Vibrations“ werden häufig dann wahrgenommen, wenn niemand in der Gruppe etwas redet. Janov und die AAO reduzieren die Sprache zum Schrei.

Pazifismus und Zivildienst

58. Die Negation der Möglichkeit menschlicher Selbstzerstörung ist ein allgemein gehaltener, manchmal etwas abstrakter Pazifismus. Wohl mag für die Jugendkultur gelten, daß die Bundes-wehr (Arbeitslosigkeit!, Numerus Clausus!) wieder an Beliebtheit gewonnen hat. (Auch einzelne Subkulturen wie einige china-orientierte K-Gruppen und neuerdings die AAO haben gesamtgesellschaftlich letztlich affirmative Wehrkonzepte.) Für die Jugendsubkultur gilt, daß die Anzahl der Ersatzdienstleistenden nur unwesentlich abgenommen hat. Häufig wird der Zivildienst als wichtiges Moment erfahrungsorientierter Qualifikation angesehen. In den Jugendsubkulturen gilt die Norm der Sympathie für den „bewaffneten Kampf“ nur vergleichsweise selten, vorallem dann, wenn der gesamtgesellschaftlich produzierte Leidensdruck zu hoch wurde (und die Subkultur ihn nicht auffangen konnte) [23].

59. Der Ersatzdienst geht in den Vorstellungen der Jugendsubkulturen gut einher mit ökologischen Ansätzen, therapeutischer Sensibilität, elektronischer Musik und bürgernaher, ansonsten wenig organisierter Gruppenarbeit. Ähnliches gilt auch für das Wiederaufkommen der 1968 ebenfalls totgesagten Lyrik, die sich betont um den Ausdruck persönlicher Erfahrungen bemüht. Als ehrenamtlicher Redakteur einer Stadtzeitung bin ich immer wieder über die Häufigkeit der Zusendungen von Lyrik und Kurzprosa erstaunt.

60. Die Hoffnung, mit Menschen, und noch nicht unter Maschinen, arbeiten zu können, führte eine Reihe von Studenten dazu, einen Sozialberuf erlernen zu wollen, oder, sollte auch dies sich als zu entfremdet erweisen, an der alternativen Ökonomie mitzufummeln. Dies führt uns zu der oben erwähnten sozialpolitischen Funktion der Jugendsubkulturen. Die billigen Initiativen á  la Free Clinic, die zwischendurch durchgeführte Behausung und gelegentlich auch Problemlinderung von psychosozial Verelendeten in Wohngemeinschaften oder Landkommunen, die Selbsthilfe, die informellen Therapien etc – sie sparen dem Staat und den Trägern der Freien Wohlfahrtsverbände jährlich Millionen ein. Auch ist zu erwarten, bei aller Skepsis gegen den langfristigen Trend, daß durch die vorgesehene (vereinzelt auch schon durchgeführte) Bildung von lokalen psychosozialen Arbeitsgemeinschaften Initiativgruppen zunächst eher aufgewertet werden [24].

Selbstorganisierung

61. Die Selbst-Organisierung der Jugendsubkulturen vollzieht sich langsam, widersprüchlich, qualvoll und unter Knarren. Rudi Dutschkes Hoffnung, in ihren Initiativen kleine autonome Zellen einer künftigen Partei zu sehen [25], halte ich für auch mittelfristig illusorisch. Mal vollzieht sie sich in Form einer Vernetzung etwa eines Jugendzentrums, einer WG-Kooperative und einer Stadtzeitung (Duisburg, Uelzen), mal im Kampf um ein großflächiges und umfassendes Kommunikationszentrum, häufig vorerst erfolglos (Christiania/ Kopenhagen, Arena St.Marx/Wien), häufig nur in durch Personalunionen verbundenen städtischen Kontakten.

62. Dieser Artikel wurde für die Vorgänge geschrieben, die von der Humanistischen Union mitverantwortet werden. Deshalb zum Abschluß ein Wort an die „Zielgruppe“ dieses Artikels: Sie, wie ich, gehören meistens nicht (mehr) den Jugendsubkulturen an. Sie können sie durch zweierlei unterstützen:

Zum einen durch den weiteren Ausbau der HU zu einer umfassenden Bürgerrechtsbewegung, die mithilft, Berufsverbote, Zensur etc zu vermeiden, und dadurch die kompensatorische Umgehung direkter gesellschaftlicher Veränderung zu vermindern.
Zum anderen durch die (materielle und) ideelle Hilfe für die meist armen jugendsubkulturellen Selbsthilfeinitiativen.

1 Kiepenheuer & Witsch, Köln/Berlin 1971.

2 Siehe dazu zB Dahlmüller, Hund, Kommer: Kritik des Fernsehens, Darmstadt/Neuwied 1974.

3 Bericht über die 2. Jahreshauptversammlung des JW der AWO Nordhessen vom 23.-25.10.76 in Kassel.

4 Siehe dafür exemplarisch die Werbung für Afri-Cola und Canadian Club Whisky.

S Siehe zB Shulamith Firestone: Nieder mit der Kindheit!, in: Kursbuch 35/1974, Berlin.

6 Siehe die Arbeiten von ivan Illich.

7 Siehe etwa die Arbeiten von Hartmut Oberlercher.

8 Siehe dazu noch immer am besten: Karl Marx, Kapital I, MEW 23, ab S 192 ff.

9 Siehe etwa in der Zeitschrift „Autonomie“, in den Publikationen der „Situationistischen Internationale“ etc.

10 zB bei Meadows: Grenzen des Wachstums, Stuttgart 1972.

11 Siehe zB Joachim Knoll (Hg): Lebenslanges Lernen,
Hamburg 1975.

12 Siehe zB Heinrich Dauber, Etienne Verne: Lernen, Leben, Arbeiten, Reinbek 1976.

13 Siehe dazu zB Ernest Mandel: Der Spätkapitalismus, Frankfurt 1972.

14 Diesen (wenngleich in sich widersprüchlichen) Prozeß habe ich in meinem Thesenpapier zu Subkultur und städtischer Kulturpolitik (in: Revermann, Schwencke, Spielhoff: Perspektiven einer städtischen Kulturpolitik, München 1973) kurz darzustellen versucht.

15 Nach dem gleichnamigen Buch von Dieter Baacke.

16 Zu Struktur, aber auch Systemgrenzen der alternativen Ökonomie siehe mein Nachwort „Notate zur Kritik alternativer Ökonomie“ in: m 19: Materialien zur alternativen Ökonomie, Arbeitsgemeinschaft Sozialpolitischer Arbeitskreise, München 1975.

17 zB in Judson Jeromes ansonsten ausgezeichnetem Buch mit dem irreführenden Titel „Communes and the New Anarchism“, London 1974.

18 Nach dem auf lateinamerikanische Subkulturen gemünzten Buchtitel von Oscar Lewis.

19 Karl Wissmann: Wesen und Werden der Konsumgenossenschaften, Meisenheim/Glan 1974, wurde 1975 in der Jugendsubkultur neu herausgegeben.

20 In diesen Fragen immer noch sehr informativ: der Jahresbericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz 1975, Bonn 1976.

21 Anzeichen dafür in der neueren Literatur: Judson Jerome wurde schon erwähnt. Theodore Roszak zieht in seinem neuen Werk „Where the Wasteland ends“ seinen nicht-integrativen Bogen von William Blake über (hierin den Anthroposophen ähnlich) den Farbenlehre-Goethe und Swinburne zu einem (in vielem recht vernünftigen) subkulturell-politischen Programm. Dieter Duhm (Der Mensch ist anders. Lampertsheim 1975) kombiniert Marxismus, Psychoanalyse, Naturdialektik und den oben erwähnten religiösen Synkretismus. Jürgen vom Scheidt (Innenweltverschmutzung, München 1976 2. Auflage), von Gruppentherapie und Yoga herkommend, empfiehlt Gruppenarbeit und Guru: und zwar nahezu unabhängig von besonderen Inhalten, die der Guru vertritt.

22 Vgl Blatt (Stadtzeitung für München) Nr 79, das auch prompt deswegen beschlagnahmt wurde.

23 Siehe dazu meinen Artikel im „Evangelischen Almanach für Literatur und Theologie“: Gewalt; Wuppertal 1972. Sehr instruktiv für den letzteren Aspekt ist auch das zu unrecht diffamierte Buch von Michael (Bommi) Baumann: Wie alles anfing, 2. Auflage, Trikont München (und andere Orte) 1976.

24 Siehe dazu den Bericht für die Bundesregierung: Untersuchung zur Lage der psychisch Kranken in der BRD, Bonn 1975; und: Horst Eberhard Richter: Flüchten oder Standhalten, Reinbek 1976.

25 Siehe Interview in „Stadtzeitung“ Kassel, 1/1976

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