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Kultursatt in der Stadt?

vorgängevorgänge 2412/1976Seite 33-38

Einige Perspektiven kommunaler Kulturkonjuktur-Politik.Aus: vorgänge Nr.24 (Heft 6/1976), S.33-38

„Kulturpolitik“
Die Kulturpolitik schützt sich als junges „Fach”, wie die meisten frischen „Kulturpolitik” Disziplinen mit Kompetenzanspruch und Legitimationsdefiziten, durch eine eigene hermetische Sprache- in diesem Fall vor den allzu pragmatistischen Ansprüchen und Einschränkungen kommunal- und landespolitischer Alltäglichkeiten. Bazon Brock, Miterfinder einer neuen Vermittlung von Kunst und so etwas wie ein kulturpolitischer Avantgardist, bleibt deshalb ganz konsequent fern dem Gemeinderatston, wenn er feststellt: „Die formale Legitimation für kulturpolitische Arbeit wird in einer repräsentativen Demokratie durch Wahl und Berufung zum Funktionsträger gesichert. Solche Funktionsautorität wird immer dann problematisch, wenn sie nicht von Aussagenautorität begleitet ist.” Freilich: „Das Argument, daß der Wahl zum Funktionsträger immer schon eine Sicherung der Aussagenkompetenz des Funktionsträgers vorausginge, ist allein dadurch aufs äußerste abgeschwächt, daß in jedem Falle verfahren werden muß, unabhängig davon, ob Aussagenkompetenz in hinreichendem Maße vorhanden ist.“* Soll heißen: Kulturpolitiker betreiben ihr Geschäft auch, wenn ihm- wie den meisten Geschäften- keine oder kaum eine Theorie zugrundeliegt. Wohl wahr.
Daß es auch die umgekehrte Möglichkeit gibt, Kulturpolitik als theoretisches Planspiel mit utopistischen Zügen sozusagen gratis und gegen den Strich der trivialen Zugeständnisse des Tages zu treiben, hilft aus Brocks Theorie-Praxis-Not nicht heraus, deutet jedoch an, wie wenig fruchtbar hier der Wunsch des Vaters des Gedankens sein kann.

Das Beispiel München
Wenn es richtig ist, daß der Weg irgendwo dazwischen liegt, also in einer Das Beispiel tatsächlich einschränkbaren begehbaren Richtung mit dem Ziel einer München wenigstens mittelfristigen Planungsperspektive, dürfte beispielsweise München mit der Forderung nach einem speziellen Kapitel „Kultur” in seinem Stadtentwicklungsplan auch im Sinne Bazon Brocks gut beraten sein. Ein Entwurf dazu, der zur Zeit öffentlich diskutiert wird, liegt vor. Schon diese Tatsache belegt eine wenngleich zurückhaltend geäußerte Theoriefreundlichkeit, die sich beruft auf ein überaus zahlreiches kollegiales Angebot, aber versucht, sowohl ideologisch wie terminologisch das Kind im Bade zu lassen. Im wesentlichen geht es um einige prinzipielle Abgrenzungen, ohne die konkrete kultur-politische Perspektiven Gefahr liefen, sich ins Beliebige zu verflüchten. Sie sind bezogen auf eine Metropole, deren Probleme weniger die Entwicklung von Kultur als deren Verbreitung und Vermittlung ist. Hier zehn Antworten auf die Frage, was denn Kulturarbeit in einer vermeintlich kulturübersättigten Stadt bedeuten kann.

1. Kulturbegriff
„Kulturelles Leben”, wie ein durch vielen unzulässigen Gebrauch abgenützter Begriff heißt, bedeutet nicht eine hochgelegene, vornehm umzäunte Spielwiese, auf der sich wenige Kundige delektieren, sondern umfaßt den gesamten der Phantasie der Menschen zugänglichen Lebensbereich. Eine Kultur in dieser umfassenden Bedeutung verhilft – unabhängig von ihren wandelbaren Formen und Inhalten – zum größeren Selbstverständnis des einzelnen und damit vor allem zu einer gesteigerten Möglichkeit dieses einzelnen, sich als gesellschaftliches Wesen zu begreifen. Kultur, heißt dies, hat eine soziale Funktion. Sie hatte diese Funktion als Privileg bestimmter Schichten schon immer. Daß diese Funktion nun alle Bürger einschließt, ist – nach Feudal- und Klassenstaat – die neue Voraussetzung der entwickelten Demokratie.

2. Kultur gegen Zivilisation
Ein so umfassend verstandener Kulturbegriff, der Kultur als Lebens- und Alltagsnotwendigkeit und nicht als gelegentlichen Luxus begreift, darf sich auch nicht mehr – aus der „Furcht eines ästhetizistischen Kleinbürgertums” (Thomas Mann) heraus – im Sinne eines „affirmativen” Kulturbegriffs (Herbert Marcuse) von der „Zivilisation” abgrenzen und ein selbständiges Wertreich für sich beanspruchen. Im Gegenteil ist in diese Bestimmung von Kultur – neben den klassischen musischen Kulturbereichen – alles einzubeziehen, was einmal als die mindere „Zivilisation” abgetan wurde und immer noch wird: von der Wohn- bis zur Eß-,,Kultur“, vom Freizeitverhalten bis zum Umweltbewußtsein.

3. Bildung und Kultur
Das daran anschließende Postulat, Kulturpolitik als ein Instrumentarium zur Entwicklung des demokratischen Selbstbewußtseins zu verstehen, bliebe grau wie alle Theorie ohne die Einsicht, daß es immer noch eine kleine Minderheit in unserer Gesellschaft ist, die mit Kultur – wie immer sie verstanden wird vertrauten Umgang pflegt.
Die soziale Qualität von Kultur stellt sich also erst her, wenn möglichst viele daran teilhaben können. Dies setzt eine hinreichende Ausbildung und Einübung in die Kulturtechniken und die Geschichtlichkeit von Kultur voraus. Das – analog zu Freuds Schrift so zu bezeichnende – „Behagen in der Kultur” (Hermann Glaser), Ziel jeder verantwortlichen Kulturpolitik, ist den Menschen nicht von vornherein mitgegeben. Kultur ist daher eine Funktion von Bildung, durchaus auch im Sinne ästhetischer
Kulturbegriff Bildung gemeint; oder in der Formulierung des Deutschen Städtetags (1973): „Das Angebot an Kultur und Erholung ist mit dem Angebot an Bildung eng zu verknüpfen. Es ist ein systemübergreifendes Bildungskonzept zu entwickeln, das nicht nur Schulen und Volkshochschulen, sondern alle Bildungs- und Kultureinrichtungen zu erfassen hat, in denen gebildet und ausgebildet wird. Die Abkapselung der bestehenden Institutionen und der jeweiligen Kultursparten verhindert die erforderliche Ausfächerung in andere Bereiche. Notwendig sind interdisziplinäre Verflechtungen und fachübergreifende Strukturen. Es sind Kristallisationspunkte eines vielfältigen sozialen Beziehungsgeflechts von Bildung, Kultur, Geselligkeit, Sport, Erholung und Versorgung in der Stadt zu schaffen.”

4. Kulturpädagogik
Wenn Bildung und Kultur für die kommunale Kulturpolitik untrennbar verbunden sind – wofür sich der von der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung angebotene Begriff der „kulturellen Bindung” empfiehlt – und diese Bindung die Stadt als Kulturlandschaft erst entstehen läßt, so schließt sich daran die Forderung nach kulturpädagogischen Angeboten als selbstverständlich an. Dies bedeutet konkret die enge Verflechtung aller klassischen Kulturinstitutionen von der Philharmonie bis zum Schauspiel mit allen Bildungseinrichtungen, vor allem der Erwachsenenbildung. Für diesen Verbund bestimmend ist das Ziel, für alle angebotenen Kulturbereiche geeignete pädagogische und didaktische Mittel zu entwickeln, die eine größere Zahl von Bürgern- vor allem die bisher abseitsstehenden- an der Kultur mit größerem Gewinn teilhaben lassen. Diese unabdingbare Forderung klingt weniger idealistisch, wenn gleich angefügt wird, daß der Sinn einer Kulturübung- der aktiven wie der passiven- nicht zuletzt der Gewinn an Lust und Freude ist.

5. Urbanität
Eine wichtige Vorbedingung für eine erfolgreiche Kulturpädagogik ist die Möglichkeit des einzelnen, mit seiner Stadt und ihrem kulturellen Angebot ein produktives Verhältnis einzugehen; nicht nur Konsument zu sein, sondern auch Produzent in dem Sinne, daß er sich aktiv mit seiner Umgebung identifizieren kann. Sich in einer wirtlichen Stadt wohl zu fühlen, ist eine Qualität, die eng mit der sozialen Bindung der Kultur zusammenhängt. Sie ist die Voraussetzung von Urbanität. Kommunale Kulturarbeit bedeutet in diesem Zusammenhang auch, Mitverantwortung zu tragen für eine ästhetischen Prinzipien verpflichtete Stadtplanung und -gestaltung.

6. Stadtteilkultur und die Aktivität des Einzelnen
Urbanität ist nicht allein gegeben durch ein nach dem herkömmlichen Residenzstadtmuster funktionierendes zentrales Kulturangebot. Dessen historisch gewachsene Bedeutung Theater, Konzertsaal, Museen – wird nicht geschmälert durch die moderne kulturpolitische Prämisse, daß ein produktives Verhältnis des einzelnen zur Kultur vornehmlich in seiner engeren Lebensumwelt herstellbar ist. Deshalb ist die tatsächlich urbane Kultur stets bezogen auf die besonderen Bindungen eines überschaubaren Stadtteils. Hier sind auch die besonderen, oft stadtteilspezifischen Bedürfnisse der Bürger am genauesten zu erkunden. Kultur im hier gebrauchten umfassenden Sinn wird also einem Stadtteil nicht verordnet, sondern gemeinsam von Bürgern und kommunaler Kulturverwaltung aus ihren Möglichkeiten entwickelt. Kulturarbeit bedeutet hier mehr Anregung als Vollzug.

7. Kulturorte
Dezentrale, stadtteilbezogene Kulturarbeit mit den Bürgern und nicht nur für die Bürger braucht – so die schöne Wortprägung von Hermann Glaser – den „Kulturort”, also Räumlichkeiten zum Lernen (Volkshochschule), Lesen (Bibliothek), Musizieren, Spielen und miteinander Reden (Mehrzwecksaal). Zum Kulturort gehören aber auch jene „Nischen”, die besonders konzentrierte Formen des geselligen Lebens ermöglichen: Höfe und Märkte, Wirtshausgärten und Brunnenplätze. Hier hat recht verstandene kommunale Kulturpolitik Anstöße für ein urbanes Leben zu geben.

8. Öffentlichkeit
Der Zusammenhang von Kultur und Bildung in der hier formulierten Kulturpolitik und die bisher unzureichende Erschließung kultureller Interessen verlangen eine aktive Öffentlichkeitsarbeit. Sie muß bestimmt sein von der Voraussetzung, daß nicht nur der Bürger zur Kultur, sondern auch die Kultur zum Bürger kommen kann. Keine noch so traditionell ehrwürdige Kultureinrichtung (Orchester, Theaterensemble usw.) darf sich für zu etabliert halten, ihren konventionellen Repräsentationsrahmen gelegentlich zu verlassen, um sich in ungewohnter Umgebung den ihrer Kunst Ungewohnten zu präsentieren: Alle Bürger haben das Recht und müssen die Gelegenheit bekommen, sich an und mit der Kultur zu erfreuen, die sie bezahlen. Bei allen notwendigen kulturpädagogischen Ambitionen darf nicht vergessen werden, daß der Festcharakter von Kultur immer noch der beste Vermittler ist.

9. Kunst versus Kultur?
Aus alledem folgt ein Kulturverständnis, das sich nicht wie manche sich fortschrittlich gebärdende Kulturpolitik- abgelöst hat von der Erfahrung von Kunst ‚ wie sie übermittelt ist und weiterlebt. Der Kulturbegriff, der meint, die ästhetischen und emotionalen Qualitäten von Kunst eintauschen zu können gegen technokratische Kommunikationsleistungen, fördert kommunale Verödung. Wer demgegenüber unter dem Vorzeichen des hier zu Grunde gelegten Kulturbegriffs und angesichts der spezifischen historisch und atmosphärischen Ausgangslage einer Stadt die entwickelte Unverwechselbarkeit einer städtischen Kultur im Auge hat, wird der kommunalen Kulturpolitik materiell und ideell einen höheren Rang als bisher einräumen müssen.

10. Vor dem Kulturtisch: die Satten und die Appetitlosen
Schön und gut. Dergleichen Leitlinien geraten besonders dann in den Verdacht, zur baren Absichtserklärung zu gerinnen, wenn sie für eine Stadt gelten, deren Kulturintensität sozusagen schon in der Gründungsurkunde festgeschrieben scheint. München, das sich gerne als Kulturhauptstadt der Nation titulieren läßt, ist der wohl eklatanteste Fall solch ungebrochener Selbsteinschätzung. Tatsächlich hat die Herkunft Münchens als Residenzstadt kunstsinniger Herzöge und Könige ein urbanes Ensemble entstehen lassen, das die selbstverständliche Anwesenheit von „Kultur” mit geradezu imperialer Geste unterstellt. Dies und einige auf ein gesondertes Blatt gehörende regionale psychologische Bedingungen des örtlichen Bodenstandes haben zu bestimmten Graden der Selbstzufriedenheit geführt, die jegliche über das gemauerte Kulturselbstverständnis hinausführende Aktivitäten als wenigstens suspekt, wenn nicht gar überflüssig erscheinen lassen. Aktive Kulturpolitik muß also in einem so ausgestatteten Operationsfeld ständig den Beweis mitliefern, daß sie, wenn sie etwas tut, dies nicht tut, um den gewachsenen Bestand zu roden.
Zum historischen Angebot kommt – noch massiver und vielfältiger- das aktuelle. So bietet beispielsweise München eine Theater-, Galerien-und Museenszenerie, deren Quantität wahrlich weltstädtisch zu nennen wäre. Zwei Opernhäuser, drei hochklassige Sinfonie-orchester – daran zeigt sich schon der Akzent auf der Repräsentationsseite der Kulturübung. Warum dann, so fragen manche in der Tat, noch zusätzliche Kulturambitionen?
Weil die Fassade, auch wenn sie noch so imposant gegliedert ist, mitunter darüber hinwegtäuscht, daß die Kulturübung dahinter zur widerstandslosen Routine erstarrt ist oder doch wenigstens sich zu einem nichts weiter als Freundlichkeit provozierenden Angebot verharmlost hat. Dieser Gefahr gegenüber muß eine recht verstandene und gerade eine auch bewahrende Kulturpolitik den Stachel setzen, Widerstand provozieren, die vor lauter Kulturzufriedenheit aufgestauten Aggressionen freisetzen.

Wider die kulturelle Appetitlosigkeit
Es gibt auch und gerade bei der kommunalen Kultur einen Grad der Wider die kulturelle Übersättigung, der zu chronischer Appetitlosigkeit führt. Die Münchener etwa, soll das heißen, könnten Gefahr laufen, vor lauter Wald die Bäume nicht mehr zu sehen. Eine aktive Kulturpolitik, die sich nicht in archivarischer Blässe damit begnügt, die Schätze in Schachteln zu verwalten, wird es deshalb als eine ihrer vordringlichsten Aufgaben ansehen müssen, auf die Kultur, die da ist, aufmerksam zu machen. Städtische Kultur ohne Öffentlichkeit in der Stadt wird zum erstarrten Museum.

*Bazon Brock: Die Funktion der Kunst in der Gesellschaft von morgen. In: Perspektiven kommunaler Kulturpolitik. Beschreibungen und Entwürfe. Hrsg v Hilmar Hoffmann. Frankfurt a M 1974, S 255.

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