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Braunmühis antipäd­ago­gi­sche Denkanstöße

Aus: vorgänge Nr.24 (Heft 6/1976), S. 95-96

Ekkehard von Braunmühl: Antipädagogik- Studien zur Abschaffung der Erziehung. Beltz Verlag, Weinheim 1976, 22,- DM.

Dieses Buch mußte geschrieben werden und es mußte-  und das sage ich trotz massiver Einwände zu einzelnen Punkten- so geschrieben werden: bissig, böse, derb.
Dieses Buch fordert zur Auseinandersetzung heraus: Jeder findet genug, das ihn weiterbringen kann und hoffentlich weiterbringt; und jeder findet auch genug, das er ablehnt, ja ablehnen muß.
Dieses Buch ist eine einzige Provokation.- In den Vorgängen kam bisher hauptsächlich der zahme, handsame Braunmühl zu Wort. Umso wichtiger, ihn mal von der aggressiven, kämpferischen Seite kennen zu lernen. Braunmühl ist also aus seinem Kinderfreund-Pelz geschlüpft und zeigt sein Pädagogenfeind-Fell? Aber nein: Das Kleid ist dasselbe, es hat nur eine neue Farbe bekommen, eine Schockfarbe. Und das ist gut so! Braunmühl will bewußt ärgern, aufschrecken, ja beleidigen; darum schmeißt er mit Schmipfwörtern um sich und schleudert Gift und Galle gegen alles, was nach Erziehung riecht; er jongliert mit Begriffen, brilliert mit genialen Begriffsschöpfungen und Vergleichen, die oft haargenau treffen und (hoffentlich nicht nur mich) betroffen machen.
Seine Wut ist echt, und sie ist berechtigt: Was haben die (meisten) Pädagogen nicht alles verzapft und was verzapfen sie noch heute. Was wurde und wird nicht alles mit ihrer wohlwollenden Duldung, ja unter ihrer Führung und Fuchtel an den Kindern herum-erzogen und kaputtgemacht. Es wurde Zeit, daß jemand richtig fuchtig wurde. Die Zeit ist überreif für A n t i p ä d a g o g i k!
Im Prinzip findet man bei Braunmühl garnicht so arg Neues: Cooper, Kupfer und Co haben ähnliches nur mit anderen Sprachmitteln ausgedrückt, und sie (aber nicht nur sie) kommen in Braunmühls Buch in Zitaten auch ausführlich zu Wort. Er selbst geht noch einige Schritte weiter, spinnt Gedanken konsequent zu Ende, läßt Kanten Kanten und Wirklichkeit Wirklichkeit sein. Er ignoriert Sachzwänge und läßt sich von ihnen in seinen Gedankenflügen nicht sofort wieder zurückpfeifen. Und auch das ist gut so: Wie sollte man die Erziehungsideologie überwinden können, wenn man bei jedem windigen Hindernis alles Für und wider abwägt, und sich bei jedem Ausdruck überlegt, ob sich jemand auf den Schlips oder sonst wohin getreten fühlen könnte. Darum geht es: Um Überwindung der Erziehungsideologie; nicht um eine bessere, freiere, antiautoritärere, humanere Erziehung, sondern um Abschaffung der Erziehung, um Nicht-Erziehung, Anti-Erziehung: „Nicht um die Länge der Leine geht es, sondern um die Leine selbst”, darum, Seile und Zügel wegzulassen, gefordert wird Zügellosigkeit; denn jeder Zügel, jede Erziehung bedeutet Gewalt, jeder Erziehungsakt einen „kleinen Mord”: „Erziehung in jeder Form ist Kindesmißhandlung”.
Braunmühls Ziel besteht darin, Zusammenhänge „durchschaubar zu machen”, die Pädagogik als „Dompteur-Ideologie” zu entlarven, und letztlich dazu beizutragen, den ganzen „pädagogischen Terror” zu überwinden. Scharf wendet er sich gegen jede Art von Belohnung, Beeinflussung, Bewertung (Bestrafung sowieso) der Kinder, gegen alles, was von den Kindern erwartet wird, besonders Dankbarkeit. Die Kinder sind vollwertige Men-schen, und als solche und nichts anderes zu sehen, völlig unabhängig davon, ob sie irgendwelche der in sie gesteckten Erwartungen erfüllen; ja darin liegt ja schon der pädagogische Haken, daß Erwartungen gesteckt werden. Die Pädagogik will aus dem Kind etwas „machen”, die Antipädagogik will es etwas „sein lassen” (also auch nicht erst „werden” lassen!); ihr ist das Kind „gleichgültig”, d.h. es gilt immer gleich viel „unabhängig von seinen Leistungen”. — Es geht also um eine neue Sicht der Kinder: nicht mehr als „zu Erziehende”, sondern als Freunde, als Gäste: diese will man auch nicht andauernd verändern!
Es geht um einen neuen Umgang mit Kindern, einen „spontanen und unverkrampften” Umgang, ein „positives Nicht-Handeln im Sinne einer Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten von Kindern”, letztlich um deren selbstverständliche Rechte. Was von-nöten wäre: eine Emanzipation des Erziehers „von sich selbst”, von seiner eigenen erlit-tenen Erziehung, von seiner Erzieher-Rolle! Also nicht mehr Vorbereitung der zukünftigen Erwachsenen auf ihre Erzieherrolle? Schluß mit „Erziehung zur Erziehung”? So gesehen sicher! Trotzdem muß etwa Elternsein gelernt werden, aber nicht, weil man zuwenig darauf „vorbereitet” ist, sondern zuviel : „In keinem anderen ,Beruf` ist die Lehrzeit so lang, ist der Anschauungsunterricht so intensiv, sind die gezogenen Lehren so verinnerlicht.” Umlernen also! Wenn Braunmühl hier aber „lediglich” (dieses Wort kommt in seinem Buch sehr oft vor!) von „Wissen”, „Information” etc. spricht, so ist das auf jedenfall zu wenig.
Im ganzen zeigt Braunmühl einen tollen Überblick; die Richtung stimmt. Umso mehr überrascht es mich, daß seine Beispiele aus der bzw für die Praxis, die die Theorie eigentlich erhellen und näher ausführen sollten, oft so unklar bleiben und seiner Theorie sogar widersprechen (so wenn er über die „Self demand“-Methode oder „Bedürfnisbefriedi-gungsideologen” herzieht, oder wenn er gerade dort, wo versucht wird, die Kinder nicht zu erziehen, von „Schwäche” etc. spricht). Die paar konkreten Empfehlungen Kleinkinder betreffend sind z.T. katastrophal dumm. Aber: Woher soll Braunmühl wissen, wie man mit kleinen Kindern umgeht? Er ist ja ein Mann! Und um Babies kümmert sich auch bei ihm nur die Mutter! Was mich an dem Buch noch geärgert hat: Der gesellschaftliche Bezug wird überhaupt nicht gesehen, im Gegenteil: von der Gesellschaft herrührende Zwänge werden heruntergespielt!
Noch ein Wort zum Stil: Manchmal wird dieses Kalauern selbst mir- der ich Wortspielereien, treffende Vergleiche und den Versuch, etwas mal ganz anders auszudrücken, sehr mag- zu viel; besonders dann, wenn ich wirklich nicht mehr weiß, worauf Braunmühl hinaus will; oder wenn es nur noch darum geht, möglichst böse und anstößige Sachen aufzutischen (,‚Frauenschänder”, „Bordell”, „Windungen des Darmes” etc.), ob es treffend ist oder nicht.- Für unklug halte ich den übertriebenen „Nichts-oder-alles“-Standpunkt. Man muß alles ablehnen, oder wird gleich mit den größten Faschisten und sonstigen Verbrechern in einen Topf geschmissen und als Betrüger beschimpft!- Auf jeden Fall besteht die Gefahr, daß hier das berühmte Kind mit dem berühmten Bade ausgeschüttet oder- um im Bild zu bleiben- mitsamt der ganzen Pädagogikscheiße die Kloschüssel hinuntergespült wird.
Dennoch: Ich empfehle dieses Buch ziemlich bedenkenlos. Denn, vereinfacht, gibt es drei Möglichkeiten von Reaktionen:
a) Der Leser lehnt Braunmühls Ideen generell ab: Immerhin kann er dann nicht guten Gewissens behaupten, er hätte nie davon gehört;
b) er betet jeden Satz Braunmühts brav nach; nun: bei dem ist es eh wurscht, was er liest oder nicht liest;
c) er stimmt Braunmühl in der Kritik an pädagogischen Auswüchsen zu, beweist damit Kritikfähigkeit, wendet diese aber auch Braunmühl gegenüber an (Leser, fühle dich angesprochen!).
Jedenfalls scheint mir dieses Buch eher zum Nachdenken und Widerspruch als zur unkritischen Übernahme oder totalen Ablehnung aller Thesen herauszufordern.
Ich bin auf den neuen Braunmühl gespannt in „Die Gleichberechtigung des Kindes” (zusammen mit Osiermeyer und Kupfer!).

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