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Die Rolle der Kultur in der Bundes­re­pu­blik Deutschland

vorgängevorgänge 2412/1976Seite 39-55

Aus: vorgänge Nr.24 (Heft 6/1976) S. 39-55

I. Unsere Welt des Geistes

Einmal im Jahr….

Einmal im Jahr spielt die Kultur in der Bundesrepublik Deutschland eine hervorragende öffentliche Rolle. Dann rückt sie auf die ersten Seiten der Tageszeitungen, und Rundfunk-Nachrichten sowie Fernseh-Tagesschau benennen und kommentieren dieses Kultur-ereignis von höchster Bedeutung: die Eröffnung der Frankfurter Buchmesse und die Verleihung des Friedenspreises des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels in der Paulskirche zu Frankfurt am Main.
Dann geht so etwas – sensible Gemüter vermögen das beinahe physisch zu verspüren – wie ein allgemeines Aufatmen durch das Volk der Dichter und Denker: Gottlob, es gibt sie noch, diese unsere Kultur! Nun kann man sich getröstet fühlen: alles Kultur-Krisen-Gerede und auch die wirklichen ökonomischen Krisen – und namentlich die ungeheuere Papierverteuerung – haben das Verfassen von Gedichten, Dramen, Romanen und Essays nicht beeinträchtigen können und selbst die Verleger nicht brotlos gemacht.
Der Mensch lebt eben nicht vom Brot allein! Die Literatur lebt weiter! Das internationale, nun auch kulturelle Renomee der Bundesrepublik Deutschland scheint sich erfreulich zu entwickeln:
Wirtschaftlich nie ein Zwerg gewesen, seit der Ubernahme der sozial-liberalen Regierungsverantwortung auch politisch keiner mehr – entspricht dem jetzt neuer kultureller Glanz: der Glanz des Guten, Wahren und Schönen. „Also, wenn Sie mich so fragen – ganz vornean, alles andere totschlagend, das war Hölderlin”
(CDU-Kanzlerkandidat Kohl, in: Zeitmagazin 35/1976).

Kultur – auf Ökono­mi­sches reduziert

Welche Rolle spielen Schriftsteller und Künstler in dieser Gesellschaft? Wo hat-außerhalb der einmaligen glanzvollen Repräsentation – Kultur neben oder im Kontext von Wirtschaft und Politik im gesellschaftlichen Alltag ihren Ort? Welche Kulturpolitik und mit welchen Zielen wird in der Bundesrepublik gemacht? Woran orientiert sich diese Gesellschaft in der „Welt des Geistes”?
Wer ein wenig genauer hinsieht, wird bei der Medienberichterstattung selbst über ein so originäres Ereignis wie die Frankfurter Buchmesse dieses, jedenfalls auf den ersten Seiten der Zeitungen, weitgehend auf ein statistisch-ökonomisches reduziert finden: Da wird von der Masse der neuerschienenen Bücher berichtet, wird die Zahl der in Frankfurt vertretenen Verlage aufgeführt und werden vielleicht noch ein paar allbekannteste Autorennamen genannt – zu Anfang der Messe. Und am Ende folgt noch einmal Faktenmaterial zum Bilanzieren: die Besucherzahl, die Höhe der Umsätze etc. Erst in den (immer weiter schrumpfenden) Feuilletons der Zeitungen und Dritten Rundfunk- und Fernsehprogrammen kann man dann Näheres über das Frankfurter Metier Literatur und Kunst erfahren. Zu diesem Zwecke druckt die Presse für ihre Leser entsprechende Beilagen, die auch Sonder-Messe-Beilagen genannt werden, und senden die Rundfunk-Anstalten Messe-Sonderberichterstattungen für ihre Hörer. In beiden Fällen steht Rezensiertes, also meist Alltagsisoliertes, mehr oder minder deutlich im Mittelpunkt. Auch wenn man dank der vielfältigen audiovisuellen Möglichkeiten des Fernsehens mehr Atmosphärisches mitbekommt, steht doch auch hier die Buchwerbung, und diese vor allem für die sowieso-schon-Bestseller-Autoren, im Vordergrund. Dieses alles vollzieht sich nach inhaltlichen Kriterien, die keinem Leser und Hörer aufgeschlüsselt werden: Welche Bücher werden ausgewählt, und aus welchem Blickwinkel werden sie dann rezensiert? Alles scheint einen Zweck sicher zu erfüllen: die Ware Buch sicher an den Mann zu bringen! Jedenfalls die Gebildeten in unserer bürgerlich-kleinbürgerlichen Gesellschaft werden dadurch wissen, welches Werk sie ihrem Bücherbord einzuverleiben haben und was man sich für den nicht allzu fernen weihnachtlichen Gabentisch vornotieren muß. Sicherlich, Spiegel, Zeit oder auch die Süddeutsche Zeitung werden dem allen noch ein paar kritische gesellschaftspolitische Aspekte hinzufügen. Sie werden dem Bestseller-Rummel nicht frönen und stattdessen auf den einen oder anderen interessanten neuen Autor aufmerksam machen – aber letztlich kann man auch darüber schnell zur Tagesordnung übergehen: Literatur und Kunst sind dem Alltag fern genug, dem sie allerdings, wenn auch nur für Kürze, ihren hehren Schein zu verleihen haben. Den sogenannten kleinen Mann berührt die Sache sowieso nicht: welche Sprache müßte er beherrschen, wenn er die intellektuell so klugen, die mit glänzendem philosophisch-literarischem Bildungsgut gewürzten Artikel verstehen sollte? Womit der Zweck dieses und anderer- zB. auch einer Opernpremiere – Unternehmen sicherlich erfüllt sein dürfte!

Unbequeme Preisträger

Was nun die Verleihung des Friedenspreises des Börsenvereins in der Frankfurter Paulskirche angeht, so müssen Publizisten und Journalisten darauf in der Regel mehr Akkuratesse verwenden: das ist zur Darstellung dieses Sachverhaltes angebracht: Weder den diesj ährigen Preisträger Max Frisch, noch den des vergangenen Jahres, Alfred Grosser, haben sie mit kulturvollen Phrasen belegen können. Das haben sie auch nicht getan. Dafür haben beide friedenspreiserwählten Ausländer die ehrfurchtsvoll Versammelten zu sehr politisch erschreckt, um sie kulturell befriedigen zu können.
Diese Tatsache jedoch mußte den Lesern und Hörern eingehender erläutert werden: Was ein großartiger französischer Politik-Wissenschaftler und Deutschlandkenner ist, oder wer uns als bedeutender deutschsprachiger Schriftsteller sehr lieb ist – was verstehen die von unserem bundesdeutschen politischen Metier? Zur Erhellung der deutschen gesellschaftlichen Situation, von Radikalen im öffentlichen Dienst, unserer politischen Wahrheit konnten sie jedenfalls nichts oder doch nur „Einseitiges”, „Unausgewogenes” beitragen- das durfte man den meisten Kommentaren entnehmen. Was Alfred Grosser im vergangenen Jahr seinen deutschen Zeitgenossen zugemutet hat, nämlich ihnen die Leviten über einen stupiden Antikommunismus im Gewand des Radikalenerlasses zu lesen, und was Max Frisch- übrigens in unüblicher Abwesenheit des Herrn Bundespräsidenten – in der Wahlkampf-Situation dieses Jahres in „einseitiger” Parteinahme für den Sozialismus von sich gab, mußte „enttäuschen”: Wo sich selbst gestandene Sozialdemokraten 1975 verletzt fühlen mußten, waren es in diesem Jahr jene, die auf den Sieg der Unionsparteien bauten. (Da erstarrte ein festlich gestimmter Rainer Candidus Barzel zu eisiger Miene und unterließ hinfort das Klatschen, da konnte ein ZDF-Gewaltiger nur noch murmeln: „Bedauerlich, daß der Frisch politisch immer noch so ein Klipp-Schüler ist!“). Was dann schließlich in Kommentaren der Welt und sogar der kopfklugen FAZ zu lesen stand, unterstreicht die derzeit herrschende Kultur-Tendenz: was und wer literarisch durchaus bedeutsam genannt werden – muß, kann (ist) politisch sehr dumm sein! Auch das gehört zum „kulturellen” Alltag in der Bundesrepublik Deutschland.

Max Frisch: Wider die Eigen­tü­mer-­Macht

Max Frischs Paulskirchen-Rede war in der Tat keine „Poesie”, keine Literatur, wie man sie sich politisch lupenrein wünscht, sondern massive parteiische Einmischung: ein Plädoyer für „Wahrheit”, ohne die es keinen Fortschritt geben kann und worin Kultur gesellschaftspolitische Relevanz gewinnt. In seiner Rede, betitelt: „Wir hoffen”, hat er als engagierter sozialer Demokrat aus gutem Grund die vornehme Zurückhaltung des Gastes aufgegeben.
Max Frisch, ein gar nicht mehr so euphorischer Demokrat; befaßte sich eingehend mit den gesellschaftlichen Hemmnissen, eine „friedensfähige Gesellschaft” zu verwirklichen. Was ist das? Eine „Gesellschaft, die ohne Feindbilder auskommt”. Ist sie gegen die Interessen der „Eigentümer-Macht” durchzusetzen? Schwerlich, erläutert er.
„Um aus der öffentlichen Diskussion zu verbannen, was die Bevorzugten ungern hören, nämlich Kritik an der veritablen Struktur unserer Gesellschaft und Zielvorstellungen, demokratische, genügt heute schon da und dort, die Etikette: links, wie es einmal genügt hat, vor langer Zeit, zu sagen: e n t a r t e t!” So kann man- seitens der „Demokratie-Praktiker” – die Utopie unschwer als „Hirngespinst” abqualifizieren. Dann kann „man” arrogant verkündigen: „Sozialismus (den es noch gar nicht gibt) gehöre der Steinzeit an – um nicht einzugestehen, daß sie zum Zustand der Welt, der für alle, inbegriffen die Eigentümer, bedrohlich ist, ihrerseits keine Alternativen hat”. Frisch bezeichnete in Frankfurt seinen „Glauben an eine Möglichkeit des Friedens” als „revolutionär”. Das meint: „Freiheit nicht als Faustrecht für den Starken, Freiheit nicht durch Macht über andere. Selbstverwirklichung; sagen wir: Wenn es möglich ist, kreativ zu leben.” Und er fragt, abschließend- wie wir als Kernpunkt dieses kulturpolitischen Aufsatzes: „Wie viele Menschen haben in den vorhandenen Gesellschaften aber die Möglichkeit, kreativ zu leben?”

Diffa­mie­rung der Utopie

Verständlicherweise war solche „utopische” Gesinnung drei Wochen vor der Bundestagswahl in der Bundesrepublik Deutschland den Eigentum-Mächtigen nicht gerade willkommen. Das haben sie die Zeitungsleser spüren lassen: Von den groben Geschützen der Bild-Zeitung, über Krempsche Kommentare in der Welt, bis hin zur feinsinnigeren Kritik der FAZ wurden immerhin so viele Feindbilder neu festgeschrieben, daß die Provinzpresse einerseits und die Nachschreiber in den katholischen Kirchenblättern andererseits davon noch bis über den Wahltermin hinaus leben konnten: „Wer Kritik übt am eigenen Land, steht im Sold des Feindes.” – Auch das hatte Max Frisch in Frankfurt gesagt.
Was den Tageszeitungen und gewissen Medien-Berichterstattungen noch nicht gelang, Frischs deutliche politisch-utopische Aussagen zu relativieren, sie zu eliminieren und zu diffamieren, setzen zahlreiche kleine Fach- und Verbandsblätter in so etwas wie einer End-Bewußtseinskampagne gezielt fort. So lese ich zB. in der jüngsten Ausgabe der Niedersächsischen Wirtschaft (20/1976) im „Brennpunkt”: „Max Frisch im Kreuzfeuer der Kritik!” Im Heft trägt ein Artikel den Titel: „Max Frisch für Utopie statt Wohlstand”. Nachdem der ungenannte Artikelschreiber den Schriftsteller Frisch zunächst wegen dessen „Wortungetüme” und „kaum lesbarer Passagen” seiner Rede rügt, unterstellt er ihm „Unsicherheit, manchmal sogar Unwissenheit hinsichtlich der eigentlichen Sachaussagen!” Diese „Sachaussagen” sind gemeint: „Frisch ging es in der Frankfurter Paulskirche um eine ,Abrechnung` mit den Besitzenden, um eine Philippika gegen das Eigentum, den Wohlstand schlechthin. Andererseits plädierte der Schweizer Intellektuelle – der angesichts seiner Einkünfte aus vielen (sehr lesbaren) Romanen und Dramen sicher nicht zu den oft von Neidkomplexen geplagten Besitzlosen oder gar Ausgebeuteten zu rechnen ist- für die Utopie, und zwar für die utopischen Ideen der Linken”.
Frischs und anderer „Linker” Plädoyer für die Utopie einer radikalen Humanität, für eine „friedensfähige Gesellschaft”, hat allerdings zur Voraussetzung die „Wiederherstellung der Politik”- zur Emanzipation des Einzelnen durch die „Möglichkeit, kreativ zu leben”. Diese sei- so Frisch ausdrücklich- „durch Wohlstand allein noch nicht gegeben“. Darauf reagiert die Niedersächsische Wirtschaft, ob Frisch es eigentlich „nötig” habe, „den Wohlstand so einseitig zu karikieren?”; und er wird belehrt, „daß Besitz (auch und gerade in der Hand des kleinen Mannes) Unabhängigkeit und die Fähigkeit wenigstens zu materieller Leistung an den Staat… verschafft”. Frisch habe in Frankfurt ideologische Gedanken „hochgejubelt”. Dabei habe er es an „Toleranz” fehlen lassen. „Deshalb ist es so schwer, ihn zu verstehen oder ihm gar zu folgen. Schade! „, meint der Kritiker abschließend.
Die Diffamierung jeglicher Utopie und die daraus entwickelten real-utopischen Entwürfe als gefährliche intellektuelle Links-Ideologie hat selbstverständlich System. Sie reicht von der veritablen Diskussionsrunde eines „Salzburger Humanismus-Gespräches” über „Anspruch und Auftrag der Intellektuellen”, das offensichtlich keinen anderen Zweck verfolgte, als einen „Abschied von Utopia” durch Leute wie Schlamm, Schelsky und andere sanktionieren zu lassen, über akademisch verbrämte Darmstädter Jugendstil-Schwärmereien, wie sie Sternberger kürzlich zur Eröffnung einer Ausstellung auf der Mathildenhöhe vortrug und, bei gleicher Gelegenheit, die Verurteilung jeglichen uto-pischen Denkens (weil das nur zur Praxis sowjetischer Straflager führen könnte) durch den sozialdemokratischen Oberbürgermeister Sabais, bis hin zu der er-wähnten Frisch-Beschimpfung von Wirtschaftsverbands-Publizisten zur ideologischen Festigung der Industrie- und Handelskammern-Mitgliedschaft.
Auch wenn sich in letzter Zeit solche Kampagnen häufen, so sind sie doch nicht bloße aktuelle Auswirkungen einer „Gegenreform”, können nicht nur als Ausfluß einer soge-nannten Tendenzwende angesehen werden, sondern sind prinzipiell und latent in der tradierten Kultur dieser Gesellschaft angelegt und werden durch die herrschende Kulturpolitik gefördert.

II. Konter­re­vo­lu­ti­o­näre Kultur­po­litik

Ein exempla­ri­scher Ausschnitt

Die Rolle der Kultur in unserer Gesellschaft, anhand von Buchmessen- Einexemplarischer Rummel und Friedenspreis-Verleihung dargestellt, kann zwar nur einen Ausschnitt kleinen Ausschnitt des kulturellen Spektrums in der Bundesrepublik bieten, vermittelt aber einen durchaus exemplarischen.
Das alles sei nichts als das Spiegelbild eines Kulturbetriebes, mag man einwenden, und daher nicht die „eigentliche Kultur”. Könnten nicht gerade „bürgerliche” Kultur-Werte in der immer stärker warenkonsumbestimmten Phase des Spätkapitalismus Anhaltspunkte zur Neudefinition von Kunst bieten? Sind nicht schon durch gewisse mediale Aktualisierungen und neue Ästhetisierungsversuche erste Ansätze einer „alter-nativen” Kultur erkennbar? Ich sehe darin nur anders definierte, definierbare und dargestellte Zusammenhänge eines aktualisierten Kultursachverhaltes, aber keine Anzeichen einer neuen, etwa einer nach-bürgerlichen „demokratischen” Kultur.
Ich sehe allerdings Anlaß, diesen Kultur-Sachverhalt nicht mehr als den typisch großbürgerlichen Überbau zu qualifizieren. Der Ausspruch, daß die jeweilige Kultur auch immer die Kultur der Herrschenden sei (damit die Ideologie stimme), ist insofern jedenfalls begrifflich korrekturbedürftig als längst die Gesamtsphäre des Massenkonsums durch das Kleinbürgertum besetzt wird. Hans Magnus Enzensberger spricht davon- ich meine zurecht-, daß das Kleinbürgertum bereits über die „kulturelle Hegemonie” verfüge: „(Es) ist die einzige Klasse, die Kunst und Mode, Philosophie und Architektur, Kritik und Design erzeugt” (Kursbuch 451 1976, S 6); er meint, daß die „alte Lebensweise der Großbourgeoisie” durch sie „vollständig liquidiert” und „auf das Format der Illustrierten” geschrumpft sei (S 7).

Unsere Kultur: Bürger­kultur

Was also ist unsere Kultur? Sie ist, in dieser massenhaft kleinbürgerlich bestimmten Gesellschaft, nichts als Bürgerkultur: Präsentation, Affirmation, Ästhetisierung des Alltags – also stets, noch in ihrer Negation, so etwas wie Abglanz des idealistisch Guten, Wahren und Schönen (oder was man dafür hält, halten möchte). Selbst dort, wo sie von Schriftstellern und Künstlern aus Arbeiterkreisen gemacht wird, ist sie bourgeois. Auch bei ausdrücklicher Ablehnung der „bürgerlichen Kultur” liefert diese noch die Topoi, Denkraster, Artikulationsbasen, werden darin die Humanitätsmuster der Klassik rezipiert, wenngleich kritisch gesellschaftlich. Das gilt prinzipiell für die Kunst-Werke der Gegenwart. Wo in dieser allerdings inhaltlich-politische Aussagen gemacht werden, die antibürgerlich erscheinen, also vor allem utopische Denk-Ansätze, und wo neue Möglichkeiten sozialer und politischer Emanzipation aufgetan werden, schränkt sie diese in ihrer Wirkung dadurch zumeist wieder ein, daß sie, statt sie für die notwendigen breiten Kreativitäts-Innovationsprozesse aufzubereiten, in bürgerlich-tradierter Esoterik der Darstellung befangen bleibt.
Daß ein Ausbruch aus diesen überlieferten Kulturbahnen in Deutschland nicht gelang, hat nicht nur seine Ursachen in der prinzipiell autoritären Gesellschaftsstruktur, sondern ist begründet einerseits in dem kulturpolitischen Versagen einer traditionell kunstfeindlichen Intellektuellenschicht und andererseits, und darin vor allem, an den an Kulturprozessen als Emanzipationsmittel offenbar desinteressierten Arbeiterparteien und Gewerkschaften. Beides hatte historisch und hat weiterhin fatale kulturpolitische Konsequenzen: Seit 1945 für die Bundesrepublik insbesondere aufgrund sozialdemokratischer kommunaler Kulturpolitik und in der DDR durch die „marxistisch-leninistische” der Kommunisten; beides hatte mehr oder minder die gleichen Ergebnisse: es herrscht in Deutschland keine andere Kultur als die von nicht-emanzipierten Kleinbürgern!

Verdrängte Alter­na­tiven

Dabei hat es in der Geschichte der Arbeiterbewegung durchaus Alternativen, eigenständige proletarische Kulturansätze gegeben. Sie wurden partei-offiziell jedoch nie ernstlich zur Kenntnis genommen, bzw. ihr politischer Stellenwert wurde ideologisch gar nicht registriert. Von Partei Theoretikern nie als wirkliche Alternativen akzeptiert – vorgeblich wegen minderer Qualität (eher wohl aus Ignoranz dem kreativen Sektor gegenüber) -‚ hat sie für die Entwicklung und Strategie materialistischer Dialektik bestenfalls verbale Bedeutung gehabt. Wo die Produktivkräfte und ihre Kontrolle durch die Arbeiterpartei sowie der politisch-rechtliche Bezugsrahmen so sehr im Interesse der Partei stand, konnte sie keine Rolle spielen und sich folglich nicht eigenständig entwickeln.
Die Auswirkung dieser Ignoranz förderte nicht nur die gesellschaftliche Dominanz der bürgerlichen Kultur, sondern bewirkte auch deren leitfossilartige Verengung zur massenhaften kleinbürgerlichen Kultur. Die Bewußtseinsprozesse in der Geschichte der politischen Parteien, namentlich der Sozialdemokraten, aber auch von Sozialisten und Kommunisten, geben darüber, jedenfalls in Deutschland, hinreichend Aufschluß. Um die gegenwärtige kulturelle und kulturpolitische Situation historisch zu begreifen, scheint mir ein Blick in frühe ideologische Kulturbegriff-Diskussionen der SPD hilfreich zu sein.

Die Mehring – Diskussion

In der Auseinandersetzung um die Bedeutung von Werk und Person Franz Mehrings (1840—1919) werden zugleich Chancen und Verhängnis des sozialdemokratischen Kulturbegriffs erkennbar und die spätere kommunistische (in der DDR) kulturelle Entwicklung bereits ablesbar: Ereignisse wie beispielsweise die „Ruhrfestspiele” des DGB oder die (Ost-)„Berliner Festwochen“ sind eben doch Ausfluß einer historischen Kontinuität. T1 heute von SPD-Politikern wegen nichtfortschreitender Bewußtseins-bildung der lohnabhängigen Bevölkerung vorschnell einer sogenannten Tendenzwende oder den Mächten der Gegenreform zugeschrieben wird, ist auch Ergebnis ihrer eigenen „Kultur“-Geschichte: aufklärerische Vernunft hat sich für sie im Kulturprozeß nicht manifestiert. Es ist notwendig, das im Kontext zu begreifen. Daher wollen die folgenden Darlegungen nicht nur als historischer Exkurs verstanden werden.
Franz Mehrings kulturpolitisches Wirken liegt vor dem Ersten Weltkrieg und war vor der Spaltung der Sozialdemokratie, durch die er als einer der KPD-Mitbegründer (neben Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg) in die deutsche Parteiengeschichte einging, im wesentlichen abgeschlossen. Ohne den Zwang, sich mit der „sozialistisch-realistischen” Kultur-politik der DDR auseinanderzusetzen, wäre eine neue Mehring-Rezeption in Deutschland sicher nicht erfolgt (,zit. Franz Mehring: Werkauswahl 1—111, 1974f). Wären wir für unsere heutigen Überlegungen zur gesellschaftspolitischen Relevanz von Literatur und Kunst dann ärmer dran? Eine solche Frage erscheint deshalb berechtigt, weil der Streit über die Einschätzungen des politischen Stellenwerts von „Kultur” zwischen „rechten” und „linken” Sozialdemokraten noch nicht entschieden ist. Auch wenn Vorfälle wie der Literaturstreit auf dem Gothaer Parteitag von 1896 heute – man denke etwa an den Mannheimer Parteitag der SPD vom November 1976 – überhaupt nicht vorstellbar wären, so gehören sie doch zur Geistesgeschichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.

Mehring: Keine Experimente

Mehring hat immerhin knapp zwei Dezennien lang jeweils aus aktuellem Anlaß die meisten und meistgelesenen Beiträge zur sozialdemokratischen Kulturpolitik verfaßt. Auch wenn diese theoretisch nicht ganz auf einen Nenner gebracht werden können, so ist ihre politische Tendenz doch ziemlich einheitlich – und sie zieht sich bei der SPD bis in die Gegenwart hinein. Ist heute seine rhetorische Frage von 1896 etwa revidiert? „Will sie (die reine Kunst) auf einer höheren Warte stehen als auf der Zinne der Partei, so muß sie nach rechts und links sehen, so muß sie nicht nur die alte, vergehende, sondern auch die neue entstehende Welt schildern”, und im gleichen Aufsatz „Kunst und Proletariat I” heißt es weiter: „Was wir verlangen, ist nur, daß die starken Vorbehalte, welche die arbeitende Klasse gegen die moderne Kunst macht, nicht an falschem Orte gesucht werden” (III, S 20f). Und darauf läuft es dann schließlich hinaus, daß man sich „davor hüten (soll), die Bedeutung der Kunst für den Emanzipationskampf des Proletariats zu überschätzen” (III, S 22).
Heute können sich viele auf Franz Mehring berufen- insbesondere solche Sozialdemokraten und Gewerkschafter, die die bürgerliche Kultur mitsamt ihren tradierten Instituten wegen der Pflege „des klassischen Humanismus” perpetuieren wollen und wenig geneigt sind, Experimente, also kulturpolitische Alternativen, diese unter Aufnahme auch durchaus vorhandener „proletarischer Kulturprozesse”, zu wagen.
Was das kulturpolitische Parteienspektrum in Deutschland angeht, so hat Mehrings Beitrag zur „Ästhetik der linken deutschen Sozialdemokratie”, der in theoretischen Veröffentlichungen der DDR immer wieder hervorgehoben wurde, politisch keineswegs konsequent zur Spartakus und KPD führen müssen – allerdings zu Johannes R. Becher, dem ersten DDR-Kulturrepräsentanten und SED-Kulturfunktionär. Dennoch wird Mehring auch in der DDR nur halbherzig rezipiert – so wird er etwa unter den Stichworten des „Kulturpolitischen Wörterbuches” (Berlin DDR 1970) nicht erwähnt.

Mehring ist tot, aber…

Schon in den zwanziger Jahren hat Mehring für Standpunkt-Diskussionen innerhalb der SPD nur noch eine sehr untergeordnete und danach praktisch überhaupt keine Rolle mehr gespielt. Auch beim sozialdemokratischen Neubeginn 1945 hat er auf kulturelle Programm-Entwürfe und auch auf den Kultur-Teil des späteren Godesberger Programms (1959) keinen erkennbaren Einfluß gehabt. Auch der Neo-Marxismus der studentischen Intellektuellen der späten sechziger Jahre hat, außer der Erkenntnis, daß er als so etwas wie ein Begründer der materialistischen Literaturgeschichtsschreibung anzusehen sei, politisch-ästhetisch von ihm nicht profitiert; außer in kleinen moskau-kommunistischen Universitäts-Grüppchen, die sich seiner gegen Benjamin, Brecht, Bloch usw meinen ideologisch bedienen zu müssen, hat er keine Rolle gespielt. Und nichts läßt künftig erwarten- nicht in der DDR, die immerhin mit einer 15bändigen Werksausgabe seiner Schriften beinahe alles vollständig neu ediert vorgelegt hat, was dieser emsige Publizist schrieb, und schon gar nicht in der Bundesrepublik, deren progressives Kulturpotential sich anders orientiert hat-, daß er seine Zeit noch vor sich hat.
Wer literarisch sensibilisierter ist, erkennt unschwer gewisse unmaterialistische „Zwischentöne” selbst im „Lesen und Schreiben” (Christa Wolf) des gegenwärtigen sozialistischen Realismus in der DDR, der nicht auf den Humanismus-Begriff eines Franz Mehring kulturpolitisch rekurriert. Da die Kultur-Diskussion innerhalb der etablierten deutschen Sozialdemokratie überhaupt nicht stattfindet, wird von hierher Franz Mehrings Ansatz nicht wiederbelebt: Wer aber denkt, daß damit sein kulturpolitischer Ansatz und seine Ästhetik-Ideologie überwunden seien, der irrt sich.

„Begeis­te­rung für die Klassiker“

Wofür steht Franz Mehring? Ich greife auf seinen, wie ich meine exemplarischen, Beitrag „Kunst und Proletariat” zurück, mit dem er auf den Kunst-Streit des Gothaer Parteitages von 1896 in der Zeitschrift Die Neue Zeit unmittelbar reagiert hat. Der Reichtagsabgeordnete Frohme hatte sich, unterstützt von Wilhelm Liebknecht, vehement und sehr scharf gegen Edgar Steiger, den Redakteur der Neuen Welt, gewandt, weil dieser- in der Konsequenz seiner Zeitung mit ihrer positiven Haltung gegenüber dem Naturalismus- zwei naturalistische Romane abgedruckt hatte. Steiger pries das Demokratie-Verständnis des Naturalismus und hob die positive Schilderung der Arbeiter in dieser Literatur hervor, während August Bebel in seiner Parteitags-Intervention in die Ablehnung des Naturalismus, die er durch eine offensichtliche Mehrheit, deren Rückständigkeit in Kunstfragen er kannte, sehr vorsichtig und differenziert einstimmte. Mehring, hingegen hat, nachdem er zunächst den „tief pessimistischen Grundzug” der „modernen Kunst” eines Halbe oder Hauptmann konstatierte und ihn mit der „frohen Hoffnung in die Zukunft”, dem grundsätzlichen „optimistischen Grundzug” des „modernen Proletariats” konfrontierte, mit großer Schärfe die „zweifelhafte Ästhetik” der „Herren Brahm und Schlenther” als unrichtig abqualifiziert. Immer wieder steuert er auf die traditionelle idealistische Ästhetik und ihre hervorragenden Exponate in der Literatur zu: auf die „Begeisterung für die Klassiker”, die er überall in der Arbeiterklasse vorzufinden meint! Dabei sieht er die künstlerische Vorliebe des „modernen Arbeiters” keineswegs durch „Moralfexerei” bestimmt und „sollte den ästhetischen Anschauungen der modernen Arbeiterklasse wirklich noch ein kleines Moralzöpfchen hinten hängen, so braucht sie sich dessen gar nicht zu schämen”. Damit kann sie sich schließlich auf den „jungen Schiller” berufen, der die Bühne auch eine „moralische Anstalt” genannt hat (III, S 20). Wenn er sich dann doch an einer Stelle, vage genug, gegen kleinbürgerliches Denken innerhalb der Sozialdemokratie wendet, so geschieht das ebenso halbherzig wie heute in der Kunstpolitik der DDR.

Anti-e­man­zi­pa­to­ri­sche Tendenz

Ist alle Kunst „bürgerlichen Ursprungs”? Sie ist es für Mehring offensichtlich, was natürlich historisch nicht richtig ist. Von ihm wird sie stets gegen den ihm so unliebsamen Naturalismus positiv ins Feld geführt wie später Sozialdemokraten sich ihrer immer wieder gegen allzu progressive Intellektuelle bedienten. Das Diffamieren von utopischen Entwürfen in Kunst und Literatur durch „rechte” Sozialdemokraten heute, liegt auf der gleichen Ebene und ist sicherlich noch nicht der Schlußpunkt dieser anti-emanzipatorischen Entwicklung.
Entspricht „Denken und Fühlen des Proletariats” der Bürgerlichkeit? Sind Proletarier das Spiegelbild kleinbürgerlicher Kunst? (Daß Karin Struck in ihrer „Klassenliebe” ihren literarischen Ansatz proletarisch sieht, dann aber beim Schreiben nur bürgerliches Instrumentarium vorfindet, ist ein methodisches, nur am Rande auch ein inhaltliches Problem). Wer die Weichen für die Chancen einer alternativen Kultur politisch so sehr verstellt, dem scheint seine Warnung schon bewiesen zu sein, nämlich, daß „die Bedeutung der Kunst für den Emanzipationskampf des Proletariats (überschätzt) wird” (III, S 22) ; Mehring fügt dieser Einschränkung wenige Jahre später noch die Feststellung hinzu, daß „sich der proletarische Emanzipationskampf .., von vornherein auf ökonomischem und politischem Gebiet- und zwar nicht zu seinem Schaden- vollzieht” (III, S 24). Sein in diesem Zusammenhang alle sozialistischen Ansätze einer neuen Kulturpolitik diffamierendes Wort hat Geschichte gemacht: „Unter den Waffen schweigen die Musen!”

Schiller und Kant als Maßstab

Franz Mehring hat in der Abwehr des ihm Widerwärtigen- namentlich des Naturalismus- keine Konzessionen gemacht; dafür war er sogar bereit, die Existenz der Berliner Volksbühne aufs Spiel zu setzen. Wo ihm Inhalte Schillerscher Kategorien der „ästhetischen Erziehung” und Forderungen des Kantschen Imperativs nicht als höchste Maxi-men gewährleistet waren, vermochte er keine dem Arbeiter nützliche „Kultur” zu erkennen.
„Keiner”, stellt er relativ richtig fest, „eröffnet zu seiner Zeit eine neue Ära der Kunst” (III, S 25). Er jedenfalls läßt ideologisch keine Bereitschaft erkennen, den Prozeß der Umsetzung von politischer Utopie in gesellschaftliche Realität durch Mittel der Kunst
und Literatur zu fördern. Das hat sich durchaus lähmend auch auf den derzeitigen Kulturprozeß ausgewirkt, der in der Arbeiterschaft begonnen hatte. Denn neben der herrschenden Bürgerkultur hat es um die Jahrhundertwende selbstverständlich wie später auch immer wieder deutliche Anzeichen von ästhetisch-politischen Alternativen gegeben: von den Ressourcen „proletarischer Lebensläufe” bis hin zu sozialkritischen Kulturansätzen etwa eines Heinrich Vogeler in Worpswede, von den Arbeiter-Literatur-Zirkeln in den Arbeitersiedlungen des Ruhrgebietes bis hin zur „revolutionären Literatur” in Frankreich oder den amerikanischen „Community-Centers” etc.
Mehring hat in einem sehr späten kulturpolitischen Aufsatz, den er angesichts der sich abzeichnenden weltpolitischen Katastrophe, der Zerstörung europäischer Herrschaftsstrukturen, verfaßte – er, der wie kaum ein anderer gegen das kriegslüsterne Geschrei der deutschen Hurra-Patrioten geschrieben hatte – wiederum nichts als das „Erbe des klassi-schen Humanismus” für die Arbeiterklasse beschworen! In dem Artikel „Philosophie und Proletariat” (1914) setzt er sich – Fichte preisend – eingehend mit dem Verhältnis von Philosophie und Arbeiterklasse auseinander. Ist die Philosophie die „Retterin” des Prole-tariats, fragt er. Natürlich nicht, argumentiert er gegen Karl Marx (der sie bekanntlich für den „Kopf” und das Proletariat für das „Herz” im Emanzipations-Kampf hielt), denn für ihn hatte Immanuel Kant Priorität. So kann Philosophie sogar gefährlich sein – jedenfalls als „bloße Wortberauschung” (1, 5 317) wie jedes „bloße Schlagwort” – auch das von dem zu bewahrenden „Erbe bürgerlicher Kultur . . . ohne die Vorbehalte… ihre(r) Klassen-interessen” (1, 5 318). Er argumentierte damit nicht gegen seine eigene Humanismus-Kulturtheorie. Nein, er setzt sich keine neuen ästhetisch-politischen Perspektiven, sondern nimmt die „klassische Philosophie” Fichtes (dessen 100. Geburtstag er für seine sozial-demokratischen Leser würdigt!) durch die Arbeiterklasse nur in Beschlag, um sie „vor den Entstellungen der Bourgeoisie zu schützen”.
Mehring hat den politischen Stellenwert der Kunst gering veranschlagt. Bis zu ihrer „Wiedergeburt”, meint er, müsse mit dem durch die Arbeiterklasse gereinigten klassischen Erbe vorliebgenommen werden. Und mit der „Wiedergeburt” rechnet er erst bei „dem ökonomisch-politischen Siege des Proletariats.” Und in diesen „Befreiungskampf vermag sie nicht tief einzugreifen” (III, 5 29).

Mehring-Prä­fi­gu­ra­tion sozial­de­mo­kra­ti­schen Kultur-(Miß)verständ­nisses

Daß sich in solcher Haltung prinzipiell auch in den Grundsatzdiskussionen der SPD und der Gewerkschaften bis heute nichts wesentlich geändert hat, führe ich allerdings nicht auf den Einfluß von Person und Werk Mehrings zurück. Er ist nicht mehr und nicht weniger als eine typische Präfiguration sozialdemokratischen Kultur-(Miß)verständnisses! Wie traditionell in der marxistischen Diskussion wurde Kultur auch nach 1945 nicht als poli-tisch konstitutiver Faktor begriffen. Die Produktivkräfte werden nicht nur (zurecht) als die wesentlich wichtigeren politischen Faktoren, sondern (zuunrecht) als die einzig entscheidenden erachtet. Das gilt für die Theoretiker der Partei sowie für die Praktiker an der Basis- mit anderen Worten: für „Linke” und für „Rechte” gleichermaßen heute noch.
Auf den berühmt gewordenen selbstkritischen Brief, den Friedrich Engels an Franz Mehring zur Kritik des Kulturbegriffes, also des marxistischen und sozialistischen Realitätsverständnisses, geschrieben hat (und auf den Heinrich Vormweg im Band I von L 76: Demokratie und Sozialismus erneut aufmerksam macht), haben Sozialdemokraten und Sozialisten bis heute noch keine substantielle Antwort gefunden! Engels konkreter Anlaß war die Kritik an Mehrings Lessing-Legende; er setzt sich gründlich mit der Tendenz des Mehringschen Begriffes von kulturellem Erbe auseinander, dessen Auffassung er nicht teilt- formuliert aber selber auch nicht ansatzweise eine Alternative. Er gibt vielmehr unumwunden zu, daß es ihm und Karl Marx in den theoretischen Arbeiten zunächst hauptgewichtig um die „Ableitung der politischen, rechtlichen und sonstigen Vorstellungen und durch diese Vorstellungen vermittelten Handlungen aus dem ökonomischen Grundtatsachen” ging. „Dabei haben wir dann die formelle Seite über der inhaltlichen vernachlässigt: die Art und Weise, wie diese Vorstellungen usw. zustande kommen”, schreibt er. Das hier formulierte inhaltliche Defizit hat in der weiteren Geschichte der deutschen Arbeiterparteien immer neue Entsprechungen gefunden: nach dem Weltkrieg II im Godesberger Programm (1959) bis hin zum „Orientierungsrahmen 85” (1975) innerhalb der SPD (Kultur im wesentlichen repräsentativ verstanden) und in der DDR von ihren Anfängen 1949 bis hin zum „Bitterfelder Weg” (1959 und 1964) wo Kultur als Agitationsmittel begriffen wird.

Sozial­de­mo­kraten und Kommunisten pflegen bürgerliche Reprä­sen­ta­ti­ons­kultur

Das sieht beispielsweise so aus: Die „Ruhrfestspiele” in Recklinghausen, wie sie DGB und sozialdemokratisch regierte Stadt in Inhalt und Form bestimmen, sind nichts als bürgerliches Theater von deutlich kleinbürgerlichem Zuschnitt. Ein analoges Exempel haben soeben Österreichs Sozialdemokraten statuiert: als in diesem Sommer die Wiener Schlachthallen abgerissen werden sollten, engagierten sich Tausende von jungen Leuten-Arbeiter, Studenten, Schüler, Künstler, Schriftsteller, Pädagogen usw.- in einer spontanen Aktion für die Erhaltung der „Arena”, um hier, außerhalb Wiens und der herkömmlichen Kulturinstitute, eine ihnen angemessene, eigenverantwortete Kommunikation, Partizipation und Sozialisation als „Kultur” zu praktizieren. Die verantwortliche Wiener Sozialistische Partei hat das Gebäude gegen dieses unübersehbare Masseninteresse abreißen lassen- zugunsten der ökonomischen Interessen eines Unternehmers. Hier emanzipa-torische Alternativ-Kultur-Versuche einer breiten Bevölkerung mit kreativinnovatorischem Interesse, dort die Pflege bürgerlicher Repräsentationskultur!
Wer kulturelle Veranstaltungen in Ostblockländern erlebt, wird bestätigt finden, daß sich in der dortigen offiziellen Kulturpolitik seit Mehrings Zeiten Wesentliches nicht verändert hat: marxistisch-leninistisch verbrämt blieb uneingeschränkt das bürgerliche Huma-nismus-Erbe! Insbesondere in der DDR stehen in traditionellen Kunsthäusern wie Oper, Theater und Orchesterhaus die Produkte der bürgerlichen Vergangenheit im Mittelpunkt des kulturellen Lebens. „Dieser Marxismus” ist jedenfalls zwar nicht der „höchste”, aber doch wohl „geistiger Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaft”, wie Simone Weil ihn schon vor beinahe fünfzig Jahren kritisierte.

Neue Ansätze

Dennoch gibt es hoffnungsvolle Ansätze hier wie auch im Osten. Kultur- Neue Ansätze innovierende Anstöße, wie sie in Zeiten östlicher Ent-Dogmatisierungen initiiert wurden, sind aus einigen Volksrepubliken bekannt. Wenn meine Beobachtungen richtig sind, vollzieht sich, weniger offiziell natürlich, selbst in der DDR, sichtbarer in der Tschechoslowakei, in Ungarn und Polen, und nachdrücklich in kulturpolitischen Programmen der KPI und KPP (unter dem Stichwort „Dezentralisierung” als soziokulturelle Animation) ein Wandel der Mehringschen Kultur-Klassik-Ideologie zu einem gesellschaftsrelevant verbreiterten Kulturbegriff, der jedenfalls im Bereich von Literatur und Theater erste Ansätze eines emanzipatorisch offenen Systems auch politisch konstitutiv impliziert. Dahinter mag die Erkenntnis stehen, daß die von Marx geforderte ,;vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften“ nicht ohne die Medien Literatur und Kunst durchgesetzt werden kann. Selbstverständlich gibt es auch innerhalb sozialdemokratischer Parteien (besonders stark im skandinavischen Raum) in der Auswirkung von Systemkritik, Kritik der Wachstumsideologie und unter den Kriterien von „Lebensqualität” Ansätze einer umfassenden Neudefinition des Kulturbegriffs im Prozeß einer zu verändernden, einer zielorientierten humanen Gesellschaft.

III. Gegenent­würfe und neue Perspek­tiven

Bürgerliche Kultur heute: Schein ohne gesell­schaft­liche Wirklich­keit

Während unsere Feuilletons die schöne heile Welt unserer ,bürgerlichen Kultur- noch in ihrer Kritik- weiterhin widerspiegeln (wozu sie durch Ereignisse unserer offiziösen Kultur-Stätten: den Schauspielhäusern, Staatsopern, Balletten, Philharmonischen Orchestern, Landesmuseen, Nationalgalerien etc. auch hinreichend Anlaß haben), weiß längst jedermann: diese Kultur ist bloßer Schein ohne gesellschaftliche Wirklichkeit. Die Welt des Adels und dann die des Hochbürgertums, die diese Kultur hervorgebracht hat, existiert längst nicht mehr. Die tradierte Kultur und das individuelle Bewußtsein stimmen nicht nur schon lange nicht mehr überein, sondern klaffen immer weiter auseinander: unserem Erkenntnisstand, Sprachvermögen und politischen Handlungs- und Erfahrungs-Spielraum entsprechen selbst aktualisierte Elemente jener Kultursphären nicht mehr. Sie ist in ihrer moralischen, intellektuellen und ästhetischen Gestalt für keine Gesellschaftsgruppe mehr relevant. Darüber gibt es Demokratischer Sozialismus und gesellschaftsrelevante Kultur jedenfalls in Westeuropa keinen Zweifel mehr, während diese Kultur im Herrschaftsbereich des „entwickelten sozialistischen Gesellschaftssystems” als (scheinbar) entbürgerlichtes Surrogat „humanistischen Erbes” neue marxistisch-leninistische gesellschaftliche Funktionen, ich meine: entpolitisierende übernommen hat. Wer zieht politische Konsequenzen aus der Erkenntnis, daß die in den städtischen Kunst-Institutionen festgeschriebene „Kultur” nicht gesellschaftsrelevant ist? Den Kultur-Produzierenden und -Reproduzierenden stellt sich diese Aufgabe kaum; aber die Kulturpolitiker hätten schon darauf zu reagieren. Und, wenngleich der Mut zur gesellschaftspolitischen Konsequenz dazu fehlt (solcher Mut, der nicht selten aus Furcht der Sozialdemokraten vor den Repressionen bürgerlicher Feuilletons unterbleibt und höchstens als Mut des Kämmerers exekutiert wird), drängen doch andererseits verstärkt praktischpolitische Erkenntnisse, allerjüngst auch wieder beachtenswerte theoretische Entwürfe und nicht zuletzt populare Sachzwänge zur Veränderung, zu gesellschaftlicher Reaktion.
Anlaß genug, die herrschende Kulturpolitik radikal zu ändern, ist nicht zuletzt die wachsende Bedeutung des Kulturbereichs für die Gesellschaftspolitik: immer weiter fortschreitende Technisierung, immens zunehmende frei verfügbare Zeit immer größerer gesellschaftlicher Gruppen und die aus diesem Kontext bedingte künftige Auseinandersetzung im Verteilungskampf (wofür notwendigerweise nicht nur strategisch politische, sondern auch kreative Energien, unter Aktivierung sozialer Phantasien, notwendig werden). Eine durchaus politisch resultierende alternative Kultur hat die der Bourgeois abzulösen. Diese neue Kultur wird primär radikaldemokratisch qualifiziert sein müssen. Dazu gibt es in anderen europäischen Ländern Beispiele – die sich eng an die kommunikationstheoretischen Erkenntnisse sozialistisch-marxistischer Wissenschaftler anschließen.

Demokra­ti­scher Sozialismus und gesell­schafts­re­le­vante Kultur

Seit Ende der sechziger Jahre gibt es auch bei uns eine linke kulturpolitische Debatte, die, wenngleich sie nicht gerade unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit geführt wurde, auch der Bundesrepublik neue Perspektiven setzte. Sie ist zwar längst wieder- jedenfalls für die breite Öffentlichkeit- verstummt, doch wird sie von einigen Sozialdemokraten und Liberalen fortgeführt, obgleich auch die allgemeine parteipolitische Resonanz nachgelassen hat (wer sie dennoch führt, nimmt inkauf, sich in seiner Partei als „Spinner” auf parlamentarische Hinterbänke verziehen zu müssen). Doch eines steht jedenfalls offenbar auch für Parteistrategen fest, jedenfalls soweit sie nicht ausschließlich kleinbürgerlich denken: im Zuge eines offensiver zu realisierenden demokratischen Sozialismus wird auch „Kultur” zu einem politischen Konstitutivum werden müssen. Mit Namen wie Herbert Marcuse, Adorno und Habermas, überhaupt den politisch-ästhetischen Beiträgen aus dem Kreis der „Frankfurter Schule”, verbinden sich Konzepte einer gesellschaftsrelevanteren Kultur. War diese Debatte bislang weitgehend außerhalb des kulturpolitischen Aktionsfeldes angesiedelt, sodaß sie praktisch ohne Bedeutung blieb, so sind heute auch die Diskussionsbeiträge eines Marcuse (vgl. Konterrevolution und Revolte, 1973) und weitaus stärker noch Jürgen Habermas‘ (allerjüngst: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, 1976) praxisorientierter. Hier liegen aus politisch-philosophischem Zusammenhang instrumentalisierbare Gedankenentwürfe vor, die den soziokulturellen Bereich durchaus fruchtbar beeinflussen könnten.
Was beispielsweise Habermas mit Vorstellungen einer „sozialen Evolution” verbindet – bei ihm von der Kommunikationstheorie her problematisiert -‚ könnte durchaus für eine Herstellung von Kulturpolitik im öffentlichen Raum hilfreich sein. Sein „Kultur“-Rekonstruktionsversuch könnte politischpraktische Folgen haben: „Kultur”, wie er sie versteht, ist natürlich nach wie vor „Überbauphänomen, auch wenn sie beim Übergang zu neuen Entwicklungsniveaus eine Rolle zu spielen scheint, die prominenter ist als viele Marxisten bisher angenommen haben” (S 12). Diese bislang vernachlässigte „Prominenz” der Kultur sieht er aufgrund neuerer Erkenntnisse der Kommunikationstheorie anwachsen. Damit ist zweifellos ein wichtiger, künftig maßgeblicher Theorie-Ansatz möglich, durch den alter-native Kulturpolitik breiter tragbar wäre: „Kommunikation” als Basisbegriff zur Entwicklung eines „höheren Niveaus” von Kunst! Das kann allerdings nur dann gelingen, wenn weitere gesellschaftliche Bedingungen gewährleistet sind:

Bedingungen für eine neue gesell­schaft­liche Kultur

e r s t e n s, wenn der Prozeß der Demokratisierung, den für die Bundesrepublik Deutschland das Grundgesetz verbindlich vorschreibt, und zwar in den Grundrecht-Artikeln, diese insbesondere in Verbindung mit Artikel 20 (der die herrschende bürgerliche Kulturpolitik rechtlich nicht absichert), fortgeführt wird;
z w e i t e n s‚ wenn praktische Chancen für Kreativitäts-Innovationen für alle Bürger geboten werden, wie sie westeuropäische Nachbarländer in der Korrektur des enggefaßten bürgerlichen Kulturbegriffes weitgehend schon entwickelt haben (vgl. die Europarats-Dokumentation von Finn Jor, „The De-Mystification of Culture”, Oslo 1976) und solche bei uns erst durch wenige, öffentlich kaum geförderte Kommunikations- und Aktionszentren existieren;
d r i t t e n s, wenn eine angemessene, öffentlich konstruktive Reaktion auf die empirischen Ergebnisse der „Künstler-Enquete” der Bundesregierung (1975) erfolgt; hier war statistisch das „Kunst“-Interesse von 89% der Bürger nachgewiesen worden und diese Bedürfnisse waren, j e differenziert, schwergewichtig im gesellschaftspolitischen Raum angesiedelt;
und schließlich v i e r t e n s, wenn der Prozeß der Stadtsanierung unter Berücksichtigung soziokultureller Gegebenheiten und topographisch-sozialer Bedürfnisse energisch vorangetrieben wird; konkret unter dem übergreifenden Lebensqualität-Kriterienkatalog so etwas wie „kollektive Identität” (Habermas) praktisch zu realisieren, wobei das Modell Bologna beispielhaft sein könnte.

Kommunikation-Sozialisation-Partizipation

Für den politsch-ästhetischen Emanzipationsprozeß wären dafür Kommunikation, Sozialisation und Partizipation zu instrumentalisierende Voraussetzungen. Unter solchen sich jeweils bedingenden und politisch korrespondierenden Voraussetzungen wären „utopische” Vorstellungen keine „Hirngespinste” mehr, sondern real-utopisch durchaus praktizierbar. Ansätze einer gesellschaftsrelevanten Kultur-Politik zu konkretisieren, würde durch folgende Maßnahmen geschehen können:
– Kommunikationsmodelle für vielfältige Interaktionsformen zu entwickeln, deren Strukturen durch alle Beteiligten in einem öffentlichen Prozeß erprobt werden; diese wären weiterhin auf die Entwicklung einer Kommunikationskultur hin sukzessive zu qualifizieren und kritisch zu quantifizieren;
– Partizipation als kommunale Aufgabe jeweils projektbezogen zu definieren, zu Selbst- und Kollektividentifikation zu disponieren und in konkrete Reflexions- und Aktions-Felder umzusetzen;
– Sozialisationsmöglichkeiten milieubezogen anzubieten; insbesondere zum Abbau klassenspezifischer Sprachbarrieren und Abarbeitung urbaner Isolation.
Solche Kommunikation hat in den je spezifischen Topographien stattzufinden, um
– Menschen zu helfen, ihre volle Mitbestimmung über ihren Lebensraum durch eigene Aktivität zu gewinnen und
– Initiativen und Institutionen im Gemeinwesen zu schaffen, die die soziokulturelle Bildung fördern und auf die Umweltgestaltung konkreten Einfluß haben.
Dazu bedarf es speziell, – also anders als für die übliche Arbeit im kulturellen Feld, Ausgebildeter: weniger Selbstdarsteller und Individualisten als Animatoren, Moderatoren, Kulturdidaktiker. Derart Befähigte müssen Initiativen anregen und Aktivitäten im sozio-kulturellen Bereich für andere durchführen können und in der Lage sein, in Reflexion und Aktion sowohl die Bewußtseinsbildung zu fördern als auch die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse wirksam voranzutreiben.

Kultur als politisches Konsti­tu­tivum

Auch wenn sich der Prozeß der gesellschaftlichen Veränderung mit dem  Ziel einer freien sozialistischen humanen Gesellschaft gegenwärtig verlangsamt hat, bleibt sein Fortschritt umso dringlicher zu organisieren. Kultur als politisches Konstitutivum, in kulturpolitische konkrete Schritte umgesetzt, bietet dafür Chancen; und diese sind ungemein viel größer als angenommen wird, gerade weil sich gegenwärtig kleinbürgerliche Bedürfnisse so sehr mit gegenreformerischen, tendenzwendlerischen Maßnahmen zu verbinden scheinen.
Die Kultur neuer Lebenswelten entwickelt sich j a nicht aus dem hehren Idealismus reiner Ideen, sondern basiert auf realen sozialen Bedürfnissen und greifbaren politischen Interessen. Das, was zumeist abwertend als Sub- oder Anti-Kultur bezeichnet wird, rückt nicht ohne Grund immer deutlicher in den Vordergrund und die bürgerliche Repräsentationskultur entleert sich weiter. Das, was Margaret Mead „präfigurativ” genannt hat, eine weniger individuell als durch kollektives Identifikationsbedürfnis geprägte Kultur, hat wachsende politische Chancen. So hat sich trotz eines kaum zu übertreffenden Zynismus seitens der journalistischen Vertreter einer „Welt des Geistes” die von ihnen diffamierte „proletische Kommunikation” (in Anspielung auf die Hamburg-Altonaische „Fabrik”) durchaus politisch weiter qualifizieren können, während dagegen Aufführungen etwa in der hochfeinen Staatsoper immer mehr in den politisch unrelevanten Raum gerückt sind.
„Ohne Utopie wären wir Lebewesen ohne Transzendenz”, hat Max Frisch in Frankfurt gesagt. Es gilt, Utopie in realutopische Strategien umzusetzen. Das wird ein langjährender politischer, kulturpolitischer Prozeß sein; mit dem Ziel: eines ferneren Tages Ästhetik und Ethik als die zwei Seiten der gleichen Medaille „Kultur” für alle Menschen konkret erfahrbar zu machen.
Die Hoffnung auf eine solche Rolle der Kultur in unserer Gesellschaft ist keine Illusion!

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