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Der litera­ri­sche Maulwurf (VII)

vorgängevorgänge 2412/1976Seite 107-112

Aus: vorgänge Nr.24 (Heft 6/1976), S. 107-112

Geschichte hat die Menschen seit jeher bewegt: Fragen nach ihrer Herkunft, dem Ursprung der sie umgebenden Welt. Versuche, ihre eigene Existenz, die ihrer Umwelt und ihre Beziehungen zu dieser zu erklären, führten zunächst zur Entstehung von Mythen. Mythische Weltbilder können kompliziert sein wie moderne Geschichtsphilosophien.
Geschichte handelt von Tatsachen, von längst Vergangenem bis zur Schwelle der Gegenwart. Doch Tatsachen sind selten eindeutig. Sie müssen zu anderen Tatsachen in Beziehung gesetzt, gewertet, ausgelegt werden. So ist die wissenschaftliche Erforschung geschichtlicher Zustände und Ereignisse längst nicht mehr nur Sache der „klassischen” Geschichtswissenschaft. Um sie bemühen sich neben Historikern und Philosophen vor allem auch Anthropologen und Ethnologen, Soziologen und Verhaltensforscher.
August Nitschke, einem Vertreter der zuletzt genannten Disziplin, ist eine der interessantesten und aufregendsten Neuerscheinungen zu verdanken: „Soziale Ordnungen im Spiegel der Märchen. Band 1: Das frühe Europa (Verlag frommann-holzboog, Stuttgart, Reihe problemata, Nr 53, 219 S, Karton DM 28, geb. DM 38). Der Autor, Direktor der Abteilung Historische Verhaltensforschung des Instituts für Sozialforschung der Universität Stuttgart, war nicht zufrieden mit den gängigen Deutungen steinzeitlicher Höhlenmalereien und der spärlichen aus dieser Zeit erhaltenen Skulpturen als jagdmagischer Bild-zauber, als Manifestationen einer totemistischen Gesellschaft oder von Fruchtbarkeitsriten. Ebenso wenig befriedigten ihn die bisherigen Märcheninterpretationen. So kam er auf die Idee, die Märchen nach ihrem Alter zu befragen und sie bestimmten Epochen zuzuordnen. Hierfür mußten die Märchen analysiert und interpretiert werden. Gleichartige Verhaltensformen ließen Schlüsse auf den Gesellschaftsaufbau der Entstehungszeit zu. Für die Datierung diente als Vergleichsobjekt u.a. die bildende Kunst. Aufgrund dieser Methode ermittelte Nitschke, daß die von den Brüdern Grimm gesammelten Märchen zum Teil in der Jungsteinzeit (Märchen von der Unke), in einer auf die letzte Eiszeit folgenden Jäger-und Hirtengesellschaft (Aschenputtel; Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein) usw. entstanden sein müssen. Er weist beispielsweise ferner darauf hin, daß in der zuletzt genannten Gruppe „Helden” der Märchen ein Mädchen oder eine junge Frau ist, die von einem Tier oder einem Früchtebaum beschenkt wird, und daß zu dieser Mär-chengruppe auch der Eva-Mythos gehört, der in der biblischen Überlieferung allerdings unter einem negativen Aspekt erzählt wird, was nach Nitschke darauf hinweist, daß die israelitische Eva-Geschichte einer späteren Epoche angehört, die den früheren Mythos bekämpft.
Die Analysen, Ableitungen und Zuordnungen Nitschkes sind überzeugend vorgetragen, sie werden- unter Heranziehung auch außereuropäischer Märchen- reichhaltig belegt, die Argumentation wird konkret und jederzeit nachvollziehbar dargeboten. Selbst wenn sich nicht alle Schlußfolgerungen als beständig erweisen sollten es liegt nun an den anderen Fachdisziplinen, seine Deutung etwa der jungsteinzeitlichen Höhlenmalereien in Frankreich, Spanien und Südafrika nachzuprüfen-, so ist doch gewiß, daß Nitschkes Thesen zwingen, unsere gesamten Vorstellungen vom Weltbild der vor- und frühgeschichtlichen Menschheit zu revidieren. Während Band 1) sich vorwiegend mit europäischen Märchen und Kulturen befaßt, außereuropäische lediglich zum Vergleich herangezogen werden, soll Band 2) sich mit den Verhältnissen in den außereuropäischen Kontinenten befassen.

Ebenfalls in die Frühgeschichte zurück führt das Thema von Klaus Eder: Die Entstehung staatlich organisierter Gesellschaften. Ein Beitrag zu einer Theorie sozialer Evolution (Suhrkamp, 208 S, kart DM 20). Der Autor will, ausgehend von einer Erklärung der gesellschaftlichen Entwicklung im Neolithikum, „die archäologisch rekonstruierten Entwicklungsprozesse (der menschlichen Gesellschaft) als entwicklungslogisch nachkonstruierbare evolutionäre Veränderungen . . . interpretieren” (Seite 37). Er nimmt sich also des alten, oft diskutierten aber nie befriedigend erklärten Problems der Entstehung des Staates und von Klassengesellschaften an. Ein interessantes, reizvolles Thema: doch der Autor verschenkt es leider. Seine Schrift wird dem von ihm selbst gesteckten Anspruch in keiner Weise gerecht. Es fehlt ersichtlich schon an der behaupteten Voraussetzung, die von ihm dargestellten Entwicklungsprozesse seien „archäologisch rekonstruiert”. Eder macht nicht einmal den Versuch, seine (von ihm selbst so qualifizierten) Hypothesen anhand von Fakten, nämlich Forschungsergebnissen, zu belegen. Die allzu spärlichen Quellenangaben verweisen lediglich auf einige Sekundärliteratur, in der umfangreichen Bibliographie fehlen wichtige Autoren (wie Oppenheimer, Wundt, Benedict, Mead), mit denen Eder, auch wenn sie andere Anschauungen vertreten, sich zumindest hätte auseinandersetzen müssen. Zudem überträgt der Verfasser, wenn er schon einmal auf ein konkretes Beispiel verweist, ohne gebotene Vorsicht, Einschränkung und Differenzierung ethnologische Erkenntnisse über rezente Naturvölker, ja sogar von solchen, deren Gesellschaften zum Zeitpunkt ihrer Erforschung längst nicht mehr intakt waren, deren ursprüngliche Verfassung nur noch erschlossen werden kann (z.B. Kwakiutl, Nordwestküste Amerikas) auf frühzeitliche Verhältnisse allgemein, auch der späteren Kulturvölker Asiens und Europas.
Überhaupt zeigt der Autor die Neigung, Begriffe, die inhaltlich keineswegs feststehen, zu verallgemeinern, wie: „das archaische Recht” (S 69), ohne mitzuteilen, was er darunter versteht, woher er es kennt, wie es entstanden ist, worin es besteht und wie es gehandhabt wurde. Er stellt es dem „hochkulturellen Recht” gegenüber, das jedoch keineswegs, wie man der Darstellung Eders entnehmen könnte, (generell oder gar nur) auf Strafe und Abschreckung beruht, wie auch Recht sich nicht im Bereich des Strafrechts erschöpft. Die Beispiele ließen sich mühelos vermehren. Nur mit Hilfe solcher Verallgemeinerungen aber gelingt es dem Verfasser, die geschichtliche Entwicklung der menschlichen Gesellschaft (aller Gesellschaften) in ein allgemeingültiges Schema einer sozialen Evolution zu bringen. Das liegt nicht zuletzt daran, daß Eder an den Beginn seiner Untersuchungen Hypothesen stellt, die er dann zu beweisen versucht, anstatt das vorhandene umfangreiche Material (etwa aus archäologischen Funden, schriftlicher und mündlicher Überlieferung, anthropologischer und ethnologischer Forschung sowie das der Verhaltensforscher) zusammenzutragen, zu systematisieren und zu analysieren. Das ist heute natürlich nicht mehr ohne EDV-Auswertung möglich.
So leistet Eder dem historischen Materialismus einen schlechten Dienst, während es andererseits nicht nur interessant, sondern auch notwendig wäre, die von Marx und Engels entwickelte Lehre, daß nicht das Bewußtsein der Menschen ihr Sein, sondern umgekehrt die gesellschaftliche Situation ihr Bewußtsein bestimmt und die Veränderung der öko-nomischen Grundlagen die gesellschaftliche Evolution zur Folge hat, anhand der seither gewonnenen Fakten und Forschungsergebnisse zu überprüfen. Die Entwicklung rein gedanklicher Theoreme ist einfacher, gehört jedoch in den Bereich der Spekulation. Im übrigen erweisen sich die Untersuchungen Eders lediglich als komplizierter theoretischer Überbau, ohne daß eine wesentliche Weiterentwicklung des historischen Materialismus erkennbar wird. Das Bändchen ist zudem nicht leicht lesbar. Man quält sich durch den reichlich mit Fachjargon durchsetzten Text, da des Autors Sprache leider wenig anschau-lich und begriffsarm ist.

Einem ähnlichen Thema ist Band 84 der bei Kiepenheuer & Witsch erscheinenden Neuen Wissenschaftlichen Bibliothek gewidmet: Sozialstruktur und politisches System, hrsg von Urs Jaeggi (416 S, brosch DM 28). Er stellt eine Reihe (teilweise gekürzter) Texte „zum Problem der Sozial-, d.h. Klassenstruktur und des politischen Systems” als Ansatz zu einer Gesellschaftstheorie vor (Vorwort). Sie stützen sich durchweg auf den historischen Materialismus. Da es bei Sammelwerken unmöglich ist, jeden der Mitautoren auch nur vorzustellen, können im folgenden nur einige Beiträge stellvertretend genannt werden. Nicos Poulantzas analysiert in einem einleitenden Essay die gesellschaftlichen Klassen in der marxistischen Theorie und fragt nach bestimmten Rollen der Staatsapparate zu den gesellschaftlichen Klassen. Der Herausgeber Urs Jaeggi unternimmt es, die Problematik von Klassenstruktur und politischem System im „Kurzaufriß” darzustellen. In dem Teil des Readers, der sich mit der Entstehung von Klassengesellschaften befaßt, versucht Maurice Godelier eine kritische Bilanz zu geben. Ferner ist Klaus Eder mit einem Beitrag vertreten. Als weitere Autoren seien erwähnt: Claus 0ffe(Klassenherrschaft und politisches System), Louis Althusser (Ideologie und ideologische Staatsapparate), Siegfried Grundmann, Ernest Mandel und Charles Bettelheim. Auch manche dieser Beiträge- gewiß nicht alle- leiden an ideologischer Überfrachtung und sind schwer lesbar.

Einen Lesegenuß dagegen- freilich keine geschichtsphilosophische Theorie – bietet dtv mit der Taschenbuchausgabe von Theodor Mommsen: Römische Geschichte (8 Bde in Kassette DM 98). Mommsen war nicht Fachhistoriker, sondern Jurist, der sich auf die Rechtsgeschichte und den Journalismus verlegte. Als Journalist der Schleswig-Holsteinischen Zeitung trat er für die Einheit Deutschlands, die Frankfurter Nationalversammlung und ein allgemeines Wahlrecht ein. 1851 forderte das Ministerium des Cultus und öffentlichen Unterrichts in Dresden seine Entlassung als Professor an der Universität Leipzig. Er ging ins Schweizer Exil. Dort entstand auch ein Teil der „Römischen Ge-schichte”. Mommsens Hauptinteresse galt der Epigraphik, er gab das Corpus der lateinischen Inschriften heraus. Der Ertrag seiner epigraphischen Forschungen kam auch der „Römischen Geschichte” zugute. Er nutzte sie vor allem für die Aufhellung der Frühgeschichte Roms- indem er anhand von Sprachuntersuchungen die Siedlungsgeschichte Italiens und die Beziehungen der Römer zu den anderen italienischen Stämmen klärte – sowie für die Darstellung sozioökonomischer Verhältnisse, Im Jahre 1902 erhielt Theodor Mommsen den Literatur-Nobelpreis für seine „Römische Geschichte”. Band 8 der dtv-Ausgabe enthält den „Apparat”: eine Einführung des Marburger Historikers Karl Christ, Bibliographie, Zeittafeln, Karten, eine ausführliche Inhaltsübersicht (die Marginalien der Originalausgabe) sowie Register.

Wer sich für Geschichte interessiert, findet reiche Literatur im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. Preiswert, wenn auch von unterschiedlicher Qualität, sind die Bändchen der Kleinen Vandenhoeck-Reihe (VR), Taschenbücher, die zu Unrecht im Schatten der großen Reihen (dtv, rororo, Fischer). stehen, allerdings etwas teurer sind als jene, weil es sich fast ausschließlich nicht um Nachdrucke, sondern um Originalausgaben handelt. Von der auf 10 Bände geplanten Deutschen Geschichte ist Ende 1975 Band 3 erschienen: Joachim Leuschner, Deutschland im späten Mittelalter (VR 1410, 248 S, DM 15,80). Er umfaßt die Epoche vom Ende des 12. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, ist eher konservativ angelegt, vermittelt jedoch einen guten und informativen Überblick. Gleichzeitig erschien in 3., erweiterter Auflage von Karl Bosl: Die Gesellschaft in der Geschichte des Mittelalters (VR 1231, 118 S, DM 9,80). Bosl vertritt die These, daß inmitten des Niederbruchs im 7. Jahrhundert auf dem Boden der alten römischen Provinz Gallien so viele neue Elemente und Formen nach dem Erlöschen des römischen Weltreichs und dem Auslaufen seiner Kultur frei wurden, daß hier eine neue Entwicklung ihren Anfang nahm, die Keime dessen liegen, was später politisch, gesellschaftlich und kulturell zu „Europa” wurde (S 9). Allerdings vermißt man eine eingehendere Bestimmung dessen, was der Autor unter „europäischer Kultur” versteht, im Gegensatz zur mittelmeerischen Kultur der Antike, denn diese „europäische Kultur” wird ganz entscheidend geprägt von ihrem mittelmeerischen Kulturerbe: dem im Orient entstandenen Christentum, römischer Staatsidee sowie griechischer und römischer Bildung, die erst in der Folgezeit weitgehend verlorenging. Das Karolingerreich war ein Vielvölkerstaat, basierend auf Christentum, Antikenrenaissance und germanischen Rechtsideen bzw. Gesellschaftsstrukturen. Auch die Behauptung (S 22), der fränkische Hof- und Reichsadel habe zahlreiche Klöster „aus naiver Gläubigkeit” gegründet, verdient Widerspruch: es war massive Politik im Spiel. Christentum und Heidenmission waren ein wichtiges Mittel karolingischer Reichspolitik. Das hier angezeigte Bändchen enthält fünf Einzelstudien des Autors, zum großen Teil aus Vorträgen hervorgegangen, subtile und lesenswerte Einzelstudien des bekannten Histo-rikers. Vor allem sei noch auf den Essay über die aristokratische Struktur der mittel-alterlichen Gesellschaft hingewiesen (S 25 ff.), eine ausgezeichnete Studie zur Erläu-terung der mittelalterlichen Gesellschaftsstruktur.

Der Band Liberalismus und imperialistischer Staat (VR 1415, 176 S, DM 15,80) vereinigt neun Beiträge verschiedener Autoren zum Thema, hervorgegangen aus Referaten und Korreferaten eines wissenschaftlichen Colloquiums in der Theodor-Heuß-Akademie in Gummersbach und einem Nachwort, die sich kritisch mit dem deutschen Liberalismus zu Beginn des 1. Weltkriegs auseinandersetzen. Untersucht und als Legende entlarvt wird die Vorstellung eines immer nur am friedlichen Zusammenleben der Völker und Staaten interessierten deutschen Liberalismus. Es wird aufgezeigt, daß auch für Linksliberale (im damaligen Verständnis) – von den Nationalliberalen gar nicht zu reden – das Verhindern einer sozialdemokratischen Machtübernahme vor 1914 wesentlich wichtiger war als der Kampf gegen den Konservativismus, gegen Imperialismus-Ideale und soziale Ungerechtigkeit (Peter-Christian Witt, S 15; Peter Menke-Glückert, S 37; Herausgeber Karl Holl, s 72 ff). Imanuel Geiss untersucht allgemein Sozialstruktur und imperialistische Dispositionen im zweiten deutschen Kaiserreich. Dieses nimmt sich für ihn „als insgesamt mißlungener Versuch aus, die politischen Konsequenzen aus der seit etwa 200 Jahren anlaufenden industriellen Revolution abzuwehren, wie sie spätestens seit der Franzö-sischen Revolution aufgebrochen waren – bürgerlicher Rechtsstaat, parlamentarische Demokratie, Volkssouveränität”. Stattdessen habe das Kaiserreich versucht, die Industrialisierung zur Stabilisierung der traditionellen herrschenden Klasse, der Aristokratie, einzusetzen (S 43). Mit dem Untergang des imperialimperialistischen Faktors in zwei Stufen (1918 und 1945) sei auch die Chance zur Entwicklung einer einheitlichen demokratischen Nation untergegangen, wie das Entstehen von zwei deutschen Staaten auf den Trümmern des Dritten Reichs erweise (S 42). Weitere Autoren des lesenswerten Bändchens sind: Günter Zmarzlik, Lothar Albertin, Wolfgang J. Mommsen, Lothar Gall und Günther List.

Wenig ergiebig ist dagegen der Band Das Deutsche Kaiserreich 1871–1914. Ein histo-risches Lesebuch, herausgegeben von Gerhard A. Ritter (VR 1414, 387 S, DM 17,80; 2. Aufl., im wesentlichen unverändert gegenüber der 1. Auflage von 1967). Er teilt den Nachteil aller „Lesebücher”: subjektive Auswahl, Sammlung von Klein- und Kleinstzitaten. Darüber hinaus ist die Anordnung nicht gerade übersichtlich, Inhalts- und Quellenverzeichnis erschließen den Band nur ungenügend. Man vermißt eine klare Gliederung. Gleichwohl: es ist interessantes statistisches Material enthalten, und manche Quellen haben hochaktuellen Bezug, so die Äußerungen des Fraktionsvorsitzenden der Deutschkonservativen Partei im Reichstag, Kuno Graf von Westarp, vor dem Reichstag am 14. 1. 1913 über die Unvereinbarkeit der Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie mit dem Treueverhältnis des Beamten (S 73). Die Erklärung des preußischen Ministers der öffentlichen Arbeiten, Hermann Budde, vom 23. 2.1903 im Preußischen Abgeordnetenhaus (S 74) zeigt, daß staatstragende Gesinnung nicht erst im Jahre 1975 als Qualifikation für den Beruf eines Lokomotivführers gefordert wurde: „Mein Herr Amtsvorgänger hat den Erlaß herausgegeben: Wer sich agitatorisch an sozial-demokratischen Bestrebungen beteiligt innerhalb des Eisenbahnpersonals, der wird als Arbeiter sofort entlassen, natürlich unter Einhaltung der gesetzlichen Kündigungsfrist. Wer als nichtständiger Beamter dasselbe tut, dem wird ebenfalls gekündigt, und er wird entlassen; wer aber als Beamter, der den Treueeid geschworen hat, sich an Umsturzbestrebungen macht, der wird einfach in Disziplinarverfahren beseitigt.”

Ein weiteres Bändchen der Kleinen Vandenhoeck-Reihe, herausgegeben von Klaus Vondung, trägt den Titel Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen (VR 1420, 208 S, DM 15,80). Nach der Einleitung des Herausgebers handelt es sich um den Versuch einer „offenen” (d.h.: nicht ideologisch fixierten, also vor allem einer nichtmarxistischen) und realitätsadäquaten sozialhistorischen Analyse. Vertreter verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen kommen zu Wort. Es ist ein Jammer, daß gerade der Jurist (Gerhard Dilcher, Professor zu Frankfurt/Main), der so viel Erhellendes hätte beitragen können, sein Thema entschieden verfehlt hat. Anstelle einer kritischen Analyse bietet er eine unkritische historische Übersicht über die Rechtsentwicklung im Zweiten Deutschen Kaiserreich, die keinen Makel kennt und an Plattheit kaum zu unterbieten ist. Kein Wort zu Gerbers und Labands Verabsolutierung des Staates, kein Wort zum Gesellschaftsbild des Bürgerlichen Gesetzbuchs, das am 1.1.1900 in Kraft trat; kein Wort zum Sozialistengesetz, kein Wort auch zu Strafurteilen, die zur Einschränkung der Koalitionsfreiheit und zur Unterdrückung der Kunst unter dem Vorwand der Unzüch-tigkeit und der Gotteslästerung führten, um nur einige nahe liegende Beispiele zu nennen. Es wäre unbillig, die übrigen Beiträge an diesem Niveau zu messen. Sie sind ohne Ausnahme interessant, vor allem jene, die überraschende Themen aufgreifen: Michael Naumanns Studie etwa „Bildung und Gehorsam. Zur ästhetischen Ideologie des Bildungsbürgertums”, die zeigt, daß Bildung und Pflichtbewußtsein = Gehorsam zu wesensverwandten Primärtugenden hochstilisiert wurden; Peter Hampes Beitrag „Sozioökonomische und psychische Hintergründe der bildungsbürgerlichen Imperialbegeisterung” auch, der aufdeckt, daß in rechtskonservativen Vereinigungen wie der Deutschen Kolonialgesellschaft t und bei den Alldeutschen das Bildungsbürgertum überrepräsentiert war; oder Ulrich Linses Untersuchung der Jugendkulturbewegung, die er als Gebildeten-Revolte eines sozial und wertmäßig verunsicherten Teils des wilhelminischen Bildungsbürgertums darstellt. Weitere Autoren: Peter J. Opitz (über Max Weber), Eike- Wolfgang Kornhaß (über Kurt Riezler), Thomas Hollweck (über Thomas Mann) und ,Tanos Frecot (über die Lebensreformbewegung). Der Vorzug des Bandes ist auch sein Nachteil: man hat zum Schluß ein Bündel von Einzelaspekten, die sich nicht zu einem Gesamtbild fügen. Der Herausgeber hätte hier vielleicht stärker ordnend und verbindend wirken sollen. Doch dieser Nachteil ist eben auch der Vorzug des Bändchens: über zum Teil unbekannte, ver-gessene Aspekte informiert zu werden.

Vandenhoeck & Ruprecht bietet Geschichte nicht nur in Taschenbüchern, sondern auch in einigen Paperback-Reihen. Eine der interessantesten Neuerscheinungen davon ist sicher-lich das Ende 1975 erschienene erste Sonderheft von Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft mit dem Titel Der Deutsche Bauernkrieg 1524–1526, hrsg von Hans-Ulrich Wehler (357 S, DM 39, kart, für Abonnenten der Zeitschrift DM 35). In 11 Aufsätzen, sämtlich Originalbeiträge, versuchen die Autoren, den sozialgeschichtlichen Hintergrund der Bauernaufstände vor 450 Jahren aufzuhellen. Es erweist sich, daß die einzelnen Aufstandsbewegungen territorial durchaus unterschiedliche Ursachen hatten und daß es sich nicht eigentlich um Revolutionen handelte, sondern um Rebellionen, die sich nicht gegen den Landesherrn selbst richteten, dessen Herrschaftsanspruch unbestritten blieb, sondern gegen abgeleitete Obrigkeiten: sich neu bildende Adelsschichten, ein im Zusammenhang mit der Rezeption des römischen Rechts entstehendes neues Beamtentum usw. Führer der Bauernbewegungen gehörten denn auch zumeist der „Dorfehrbarkeit” an, also einer Schicht, deren gesellschaftliche Stellung durch den entstehenden frühmodernen Landesstaat und seine Repräsentanten in besonderer Weise bedroht war. Zu revidieren ist allerdings die Auffassung, der Bauernkrieg sei vornehmlich ein Kampf ums alte Recht gewesen; „neben den politischrechtlichen Zielen standen vielmehr ebenfalls und schwergewichtig soziale und wirtschaftliche Antriebskräfte im Drängen auf eine verschiedenartig angestrebte Änderung der politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten” (Wohlfeil). Dazu kam die Forderung nach der Ein-führung des „Evangeliums” und die Zulassung reformatorischer Prediger. „Mit der Reformation aber gewann der ,witzig` gewordene ,gemeine Mann` die Legitimation, die Rechtfertigung aus dem ,Evangelium`, zum Vorgehen gegen die Privilegierten, die er nun offen für ,unnütz` und überflüssig erklärte und deren vielfältige Vorzugsstellungen er zu beseitigen trachtete.” (Endres, S 78, zur Situation in Franken). Wer sich für deutsche Sozialgeschichte und speziell für die Geschichte des deutschen Bauernkriegs interessiert, wird vielfältige Anregungen und neue Erkenntnisse in dem angezeigten Band finden.

Eine weitere interessante Reihe des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht sind die Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft, als deren Band 19 soeben erschienen ist: Hans H. Gerth, „Bürgerliche Intelligenz um 1800. Zur Soziologie des deutschen Frühliberalismus“, mit einem Vorwort und einer ergänzenden Bibliographie herausgegeben von Ulrich Herrmann (155 S, kart DM 24). Der Text ist selbst schon historisches Dokument. Er ist vor mehr als 40 Jahren als Dissertation entstanden und konnte aus politischen Gründen nicht im Druck erscheinen. Nach zwei Raubdrucken liegt nun die erste Verlagsausgabe vor. Gerth beobachtet, daß seit der Mitte des 18. Jahrhunderts eine stetig wachsende Bereitschaft der deutschen Intelligenz besteht, bürgerlich-liberales Gedankengut von England und Frankreich aufzunehmen. Er untersucht die sozialen, politischen, ökono-mischen und geistesgeschichtlichen Voraussetzungen hierfür sowie die Erscheinungsformen des liberalen Denkens in Deutschland um 1800. Er gibt einen Aufriß der Struktursituation der Intelligenz (protestantisches Pfarrhaus; Schulen und Universitäten; „Hofmeister” als Verlegenheitsjob für Besitz und pfründelose Intellektuelle). Einen der stärksten Integrationsfaktoren des deutschen Frühliberalismus erkennt Gerth im liberalen Beamtentum, als wichtigsten Promotor liberaler Gedanken die Literaten, Buch- und Zeitschriftenverleger, die – bei aller Verschiedenheit in Lebensführung und sozialer Position – einig waren in der Opposition gegen die Zensur als dem Willkürmoment im Bereich der öffentlichen Meinung.

In der gleichen Reihe schließlich ist als Band 18 unter dem Titel Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte ein Sammelband von Arbeiten Thomas Nipperdeys erschienen (466 S, kart DM 64). Neben Texten zur Theorie der Geschichtswissenschaft (Über Relevanz, Die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft, Historismus und Historismuskritik heute) enthält der Band vor allem Beiträge zur Geschichte des späten 18. Jahrhunderts bis zu den ersten Jahren der Weimarer Republik. Nipperdey bezieht vorwiegend konservative Positionen, einige seiner Aufsätze stellen Auseinandersetzungen mit jüngeren kritischen Historikern (wie Hans- Ulrich Wehler) dar. Dabei versteigt er sich- es sei dem Eifer des Engagements zuge-schrieben- gelegentlich zu so unreflektierten Aussagen wie: es stelle eine Zumutung Gustav Heinemanns an die Historiker dar, Geschichtswissenschaft und Beschäftigung mit der Geschichte „in den Dienst eines gegenwärtigen Interesses” stellen zu wollen und ihr die Aufgabe einer „politischen Pädagogik” zuzuweisen; oder: die Behauptung Nipper-deys, die von ihm stets in Anführungszeichen gesetzten kritischen Historiker wollten uns „modische Geschichtsmythen” aufdrängen (S 261), ohne sich zu befragen, ob er uns nicht selbst eine „Geschichtsmythe” vorsetzt, wenn er „sich auf das Feld der Reflexion über Alternativen und Möglichkeiten” der politischen Mitte begibt (S 265) und feststellt, auf die Dauer hätte die Mehrheit des Volkes 1848 eine radikalere Politik als die der liberalen Mitte nicht getragen (S 272). Auch die „Trauer über das Fehlen der gelungenen Revo-lution” in Deutschland als „Revolutionsnostalgie” abzutun, ist wohl zumindest leicht-fertig, wenn nicht frivol. Abgesehen von polemischen Auseinandersetzungen dieser Art, die zweifellos legitim sind, enthält der Band auch eine Reihe informativer Analysen, so über die Organisation der bürgerlichen Parteien in Deutschland vor 1918 oder über Interessenverbände und Parteien in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg.

Ganz kurz soll abschließend noch auf drei Publikationen zur Zeitgeschichte hingewiesen werden: Bei Kiepenheuer & Witsch ist in der Reihe pocket als Nr. 60 ein Bändchen In Sachen Wallraff, hrsg von Christian Linder, erschienen, mit einem „Dossier” zur Person Günter Wallraffs und Aufsätzen von Heinrich Böll, Oskar Negt, Heinrich Vormweg, Peter 0. Chotjewitz ua (176 S, DM 10) sowie als pocket 65 die Aufzeichnung eines Gesprächs von Christian Linder mit Heinrich Böll: Drei Tage im März (115 S, DM 12). Eine Sammlung politischer Schriften Heinrich Bölls hat schließlich höchst verdienstvoll dtv unter dem Titel Schwierigkeiten mit der Brüderlichkeit herausgebracht (Nr. 1153,112 S, DM 3,80): Texte, die, obgleich sie zum Teil zehn Jahre alt sind, nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben, die nach wie vor provozieren, den Leser zwingen, Stellung zu nehmen.

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