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Arbei­ter­klasse und Kultur

vorgängevorgänge 2412/1976Seite 56-62

Für Wolf Biermann, Aus: vorgänge Nr.24 (Heft 6/1976), S.56-62

Für Wolf Biermann

Ich mache mir einen Kaffee. Der Kaffee ist, laut Etikett, „kultiviert, elegant und von noblem Charakter”. Wer möchte das von den Menschen behaupten, die ihn pflücken, transportieren, herstellen?

Hermann Peter Piwitt(1)

I
„Dreiklang: Kunst/für die Kunst // Kapital für die Kapitalisten //Arbeit / für die Arbeiter”. Man könnte dieses Gedicht des Arbeiterschriftstellers Artur Troppmann(2) gleich in mehrerlei Hinsicht für einen Einstieg ins Thema in Anspruch nehmen. Aber einerlei, ob es einen in der Erkenntnis bestärkt, daß eine elitäre Kunst die „prästabilierte Harmonie” einer Klassengesellschaft nicht zu stören vermag, oder ob man darin eine konsequent zuendegedachte Auslegung des Prinzips „Jedem das Seine” erblickt: in jedem Fall wird man bemerken, daß dieser „Dreiklang” für unser gesellschaftliches und politisches System kein Mißklang, sondern ein harmonischer ist. Der Kaufhauskitsch a la Zigeunerin, der ein Träger über die lasziv vorgestreckte Schulter gerutscht ist, der Bergsee, Schiffe vor untergehender Sonne; die Massenkultur der Pabel-Verlage, die Brummer-Kinos, die ganze Nippesproduktion, das scheint für die Arbeiter wie geschaffen.
Wenn man wissen will, was Kultur ist, wirft man lieber einen Blick auf andere Kreise. Bernt Engelmann gewährt uns einen Blick in die Welt der Gabriele Henkel:

,,… Eingeweihte wissen, daß die Tischordnungen und Menüs für die gesellschaftlichen Ereignisse im Hause Henkel in nervenzerrüttender Generalstabsarbeit von der Hausfrau und ihrem Sekretariat ausgearbeitet, verworfen, von neuem geplant und schließlich perfektioniert werden; daß alles ganz genau zueinander passen muß: Tapeten, Vorhänge, Stuhlbezüge, Blumen, Porzellan sowie Abendrobe und der Schmuck der Gastgeberin, daß hierfür berühmte Designer und Innenarchitekten von weither, sogar aus den USA, eigens eingeflogen werden, daß dabei auch der sogenannte kulturelle Rahmen genau eingeplant wird. (…), das Programm, auf handgeschöpftes Bütten gedruckt (…), sieht im allgemeinen einen Vortrag oder eine Dichterlesung, ein fünfgängiges hochfeines Menü nebst besten Weinen sowie Musikdarbietungen durch bekannte Solisten oder Orchester vor (…) Spricht etwa ein katholischer Wissenschaftler über ,Das Leben Jesu`, so wird das Abendessen – ,ganz ganz schlicht‘ – etwa aus gebeizter -Regenbogen-Forelle mit iranischem Schahkaviar, Essenz von jungen Trauben, Gazellenrücken ,Bambi`, Käsesoufflet Rothschild, frischen Mangofrüchten und Mokka sowie 1969er Wiltinger Gottesfuß feine Auslese, 1964 Chateau Lafite und 1957 Moet Chandon Brut Imperial bestehen, von den Herren auch nur Smoking getragen werden und das Orchester der Accademia di Santa Cecilia di Roma mit Werken von Cesar Frank die Gäste unterhalten „(3).

II
Die Frage, was nun A r b e i t e r mit Kultur zu schaffen haben, kann man entweder für zynisch, für unwissend oder auch für legitim halten. Im ersten Fall wird übersehen, welche Rolle die Arbeitenden für die Kultur haben, daß sie es sind, die die Grundlagen für menschliche Kultur schaffen. Die feinen Gäste der Gabriele Henkel, die privaten Umgang mit Arbeitenden kaum pflegen werden, würden sich dumm anschauen an den feingedeckten Tafeln, wären da nicht die Diener und das Personal, wären da keine Köche und Garderobef rauen, keine Kellner und Jäger, Schneider und Tischler und all jene, ohne deren Mehrwert Reichtum in dieser Form gar nicht anzuhäufen wäre.
Im zweiten Fall weiß der Frager einfach nichts von der Entschiedenheit und den Anstrengungen des Kampfes, den die jeweiligen politischen Avantgarden der Arbeiterklasse (oft verstärkt durch die besten Köpfe der künstlerischen Intelligenz) um eine eigene Kultur und um das gesamte umanistische Kunsterbe geführt haben und führen. Für legitim schließlich kann man die Frage halten, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Rolle und Funktion Künste und Kultur für das Leben der Mehrheit haben und welche sie haben könnten für die Ausbildung und Erweiterung ihres Anschauungsreichtums, ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten, ihrer Genußfähigkeit und ihrer politischen Emanzipation.
Aber den Arbeitenden wird eine Bildung vermittelt, die ihnen das Vorfindliche nicht als zu gestaltende Aufgabe nach den Prinzipien von Gemeinnutz und Solidarität vorstellt, sondern als eine fertige Welt, aus deren Ecken und Enden ihnen das ideologische „Ick bün all hie” des Privatinteresses immer schon entgegenschallt. Es ist eine Bildung, die den Arbeitenden keinen Zugang zu den großen Traditionen und Kämpfen, zu Geschichte und Kultur der Arbeiterbewegung erlaubt- zugleich wirken sich Ideologie und Interesse der Freizeit- und Massenkultur auf Erfahrungslage und Bewußtsein der Lohnabhängigen behindernd aus.
In seiner Schrift Gesellschaftliche Arbeit und private Hauswirtschaft(4) hat Lutz Holzinger gezeigt, wie die kollektiven Erfahrungen und Interessen Lohnabhängiger (wie sie unter der Perspektive der Produktion entstehen) in der Vereinzelung der Re-Produktionssphäre zerstört werden: was sich im vergesellschafteten Arbeitsbereich als Bewußtsein Lohnabhängiger an solidarischer Interessenorientierung herausbildet, muß im Interesse der Aufrechterhaltung der Herrschaft des Kapitals über die Arbeit notwendig verändert und entpolitisiert werden. Hierzu taugt in erster Linie die Privatheit und Vereinzelung im Bereich der Wiederherstellung der Arbeitskraft, ihn bezeichnet Holzinger in der zitierten Arbeit als den Ort der Entstehung falschen Bewußtseins, d.h. eines Bewußtseins, das der objektiven gesellschaftlichen Situation seines Trägers inadäquat ist.
Es ist klar, daß das System der freizeit- und massenkulturellen Inhalte im Rahmen dieser Veränderung und Zurichtung von Erfahrungslage und Bewußtsein eine herausragende Stellung einnimmt. Im Freizeit- und Reproduktionsbereich setzt die erwünschte und systemrationale individualistische Interessenorientierung an, die- samt den Eigentumsfetischen- als Garant der Freiheit erscheint; und die Massenkultur hat die Bindung an Werte und Normen des Systems längst in eigene ästhetische Regie übernommen. Innerhalb ihrer mögen sich Stile und Richtungen ablösen, denen subjektiv die Qualität von Freiheiten zukommen mag- die eine Freiheit erlauben sie nicht: kritisch durchschauen zu können, wes Geistes Kind diese Kultur ist, welches Menschenbild sie vertritt und gar welches sie behindert, verstellt, unmöglich macht. Nämlich das, das von der Notwendigkeit gesellschaftlicher Teilhabe aller an den großen und gestaltgebenden Prozessen ausgeht. Dagegen hat die Massenkultur vor allem zweierlei sicherzustellen: Die Angepaßtheit der Mehrheit als Lohnabhängige und den Zuspruch der Konsumenten an die Surrogate der Warenwelt, die Zufriedenheit und Bereicherung suggerieren sollen.
Dieses pervertierte Prinzip der Aneignung hat Karl Marx kritisiert, wenn er schreibt:

„Seitdem der materielle Reichtum, diese Summe der Erzeugnisse produktiver menschlicher Arbeit, im Geld seinen abstrakten, anonymen Repräsentanten gefunden hat, seitdem der unmittelbare Zweck der produktiven Arbeit nicht mehr die Vermehrung des dinglichen Reichtums, die Herstellung von Gütern, sondern diese nur Mittel zu einem weiteren eigentlichen Zweck: der Vermehrung von Geldreichtum geworden ist, seitdem es genügt, Geld zu besitzen, um reicher werden zu können- seither hat das Reichwerden im engeren, materiellen Sinne aufgehört, notwendig auch ein Reichenverden im geistigen, kulturellen Sinne nach sich zu ziehen“(5).

Hier liegt die Ursache für die „Entwertung der Menschenwelt” und die „Verwertung der Sachenwelt”, und Kultur- im systemrationalen Sinn verstanden als vergeistigtes Prinzip der Durchdringung der Verhältnisse- kann diesen Sachverhalt im besten Fall noch Sonntagsrednern und Zuhörern von „Fragen der Zeit” zum Bedauern überlassen, ohne seine Ursachen und Antriebskräfte zu durchschauen.
Es ist das Elend herkömmlicher Kulturkritik, daß sie die Entwürdigung des Menschen unter kapitalistischen Bedingungen erkennt, aber ohne die Handhabe analytischer Erklärungskraft bleibt und ihr Heil in der Rückgewinnung überkommener historischer Strukturen sucht. Und sie übersieht, daß das materielle Reichwerden der Henkel, die Akkumulation von Kapital, Sinn und Inhalt von Kultur als ganzheitlicher Lebensform des Menschen pervertiert, die Möglichkeit zur Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung für die Mehrheit zerschlägt. Arbeit kann nicht Quelle menschlicher Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung werden, nicht „Quelle kulturellen Schöpfertums”, sondern „wird unter der Herrschaft des Kapitals zur Hauptsphäre menschlicher und kultureller Degradation, (indem) alle Mittel zur Entwicklung der Produktion umschlagen in Beherrschungs- und Exploitationsmittel des Produzenten, (sie) verstümmeln den Arbeiter in einen Teilmenschen, entwürdigen ihn zum Anhängsel der Maschine, vernichten mit der Qual seiner Arbeit ihren Inhalt“(6).
Ist so die Kultur erst einmal in ihrer Funktion von den gestaltgebenden gesellschaftlichen Bereichen abgedrängt, ihre unteilbare Zuständigkeit für alle menschlichen und gesellschaftlichen Bereiche für die harte Gesetzlichkeit des Schacherns und Feilschens bestritten, wächst ihr jene Trösterfunktion für die Versagungen und Verletzungen einer schlechten Wirklichkeit zu, die für ihr konkretes Aussehen in unserer Gesellschaft so charakteristisch ist; sie wird zum Ausdruck dessen, was im Leben nicht zu haben ist. Nach der „offiziellen” Funktionszuschreibung soll Kunst sich selbst genug sein und möglichst unpolitisch sein- hat sie sich erst einmal damit abgefunden, den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen nichts dreinzureden, wird sie zur „letzten Oase der Menschlichkeit”, zum „Spezialistentum für unterdrückte und gequälte Menschlichkeit”.
Gewöhnt an ein System von Kultur, die als Konsumgut doch nur für Leerstellen aufzukommen hat und ihre Ohnmacht in der verkrümelten Lamentation über eine schlechte Wirklichkeit auslebt, ist es für die psychische Stabilität der Lohnabhängigen gleich gescheiter, sich einer „Kultur” zuzuwenden, die wenigstens die Ablenkung von der eigenen Wirklichkeit total sicherstellt. So kommt es zu jenem vorherrschenden Typ unserer Zivilisation, der „eigentlich ständig den Wunsch hat, abzuschalten. Bei der Arbeit schaltet er ab. Er wünscht sich, im Urlaub abschalten zu können. Er schaltet ab, wenn er den Fernseher anschaltet. Und im Schlaf sowieso. Einmal von allem nichts mehr hören und sehen zu müssen, ist der merkwürdige Wunschtraum von Menschen, die unter Bedingungen arbeiten müssen, unter denen Hören und Sehen vergehen“(7). Noch deutlicher als durch die Letztrangigkeit der Kultur (was damit aber zu tun hat), beweist das System hier seine Kulturlosigkeit und -feindlichkeit: während man an der Verfeinerung und Ästhetisierung der Warenwelt mittels Reizstimuli, raffinierter Produktästhetik und fragwürdiger Produktdifferenzierung arbeitet, bleibt die „Schönheit” des Menschen ungefragt, bleiben die Bedingungen seines Handelns und Arbeitens aus dem Kulturbegriff ausgeklammert.

III
Sozialisten wissen deshalb, warum sie Kultur als die Frage danach definieren, wie der ganze Mensch lebt. Diese Ganzheitlichkeit der Auffassung schafft die Voraussetzung für die radikalste Kritik einer Gesellschaft, in der den Menschen nur soviel an Kultur zugestanden wird, wie sie zur Reproduktion ihrer Arbeitskraft brauchen, und in der sich die Herrschenden den Hauptanteil des gesellschaftlich geschaffenen kulturellen Reichtums aneignen.
Aber dieser kulturelle Reichtum ist – Ausdruck der Klassengesellschaft und des Klassencharakters von Kunst – selbst in den Widersprüchen und der Krise des Kapitalismus befangen. Der ästhetische Ausdruck, den die moderne Kunst der Welt gegeben hat, stellt sich nicht in den Dienst der Erkenntnis der gesellschaftlichen Natur des Menschen, will kein Kompaß durch die Orientierungslosigkeiten dieser Zeit sein, sondern ist – unter Aufkündigung ihres gesellschaftlichen Auftrags und unter Reklamierung eines formalistischen Freiheitsbegriffs – selbst Ausdruck der Orientierungslosigkeit und des gesellschaftlichen Werteverlustes. Angesichts von Künstlern, die die Eifel in Cellophan ver-packen (Christo), in der Wüste Lichtsegel setzen (Mack), es zu ihrem Lebensprogramm erklären, Nägel in Objekte zu schlagen (Uecker), Tonnen Altpapier auf Straßen und Plätze karren lassen (Schult) oder in die Ecken von Galerieräumen Margarine schmieren (Beuys), scheint mir das Urteil des amerikanischen Sozialisten Sidney Finkelstein von Bedeutung: „Die Menschen lieben die moderne Kunst nicht, weil diese Kunst den Menschen nicht liebt“(8).
Was immer sich an Programmatik und Intention in die Aktionen dieser „Macher” hinein-geheimnissen oder interpretieren läßt- es ist den Erfahrungen der Menschen fremd, unzugänglich. Das eigentlich Zynische daran liegt darin, daß solche Künstler ihre- nicht immer materiell- privilegierte Existenz einem Widerspruch verdanken: der extremen Entgegensetzung von physischer und geistiger Arbeit. Aber dieser Zynismus beginnt nicht erst beim Allotria der „Macher”, schon die offizielle Staatskunst des westlichen Nachkriegsdeutschlands, die abstrakte Kunst, betrieb den Ausverkauf des humanistischen Menschenbildes und drängte Künstler, die betont realistisch arbeiteten, in die Rolle von Außenseitern, ließ sie als hoffnungslose Fälle vermeintlich überholter Moden und Stile erschei-nen. „Ein hysterischer Antikommunismus”, schreibt Richard Hiepe dazu in seiner Aufsatzsammlung Die Taube in der Hand, „redete den Abstrakten ein, sie verkörperten Freiheit und Fortschritt, während sie als Fassadenmaler eines gesellschaftlichen Gebäudes funktionierten, dessen Bewohner auf die Bild-Zeitung abonniert und vom Verständnis der Weltläufe ausgeschlossen waren“(9). Genau diese abstrakte Kunst, die Kunst der Ausdruckslosigkeit, hatte auch Adorno vom Blickpunkt seiner normativen Ästhetik aus- und aus Verzweiflung am gesellschaftlichen Wert der Kunst- gefordert. Am Beispiel des Romans hatte er geschrieben: „Will der Roman seinem realistischen Erbe treu bleiben und sagen, wie es wirklich ist, so muß er auf einen Realismus verzichten, der, indem er die Fassade reproduziert, nur dieser bei ihrem Täuschungsgeschäft hilft”(10). So kommt es auch zu dem seltsamen Umstand, daß Adorno, obwohl energisch Partei nehmend für „Vernunft und Menschlichkeit”, in einem absurden Theaterstück (Becketts Endspiel) „das gegenwärtige Geschick der gesamten Menschheit verhandelt zu sehen” glaubte(11). Dagegen ist festzustellen, mit welcher Konsequenz die Sterilität des Nicht-Realismus, seine Ausdruckslosigkeit, mit welcher Konsequenz die elitäre abstrakte Kunst- die konkreten ästhetischen Bedürfnisse der Menschen nach Faßlichkeit und Sinnlichkeit mißachtend- die Mehrheit der Bevölkerung und insbesondere die Arbeitenden in die Arme der trivialen kulturellen Schundproduktion getrieben hat.

IV
Der Realismus ist das geeignetste Mittel, eine neuentdeckte gesellschaftliche Wahrheit zu sagen.

RichardHiepe(12)

Heute gibt es in der Bundesrepublik eine breite und an Breite ständig gewinnende Ström-ung realistischer Kunst und Kultur, die- u.a. durch Auseinandersetzung mit Positionen wie den geschilderten- die Verzweiflung am gesellschaftlichen Wert der Kunst überwunden hat und darauf besteht, sich mit den Kräften einzulassen, die imstande sind, eine Gesellschaft zu errichten, in der Ausbeutung und Fremdbestimmung unbekannt sind. Der allgemeinste Begriff dieser Anstrengungen ist der des R e a l i s m u s, der nicht die Kanonisierung eines Stiles meint, sondern ein variables Verhältnis zur Wirklichkeit, bestimmt. und „festgelegt” durch Verständlichkeit, Volkstümlichkeit, Parteilichkeit und Perspektive. Die realistische Schreibweise, sagt Martin Walser mit Blick auf die methodische Vielfalt des Realismus, ist die auf ihren Anlaß bezogene. Andererseits ist mit diesen Bestimmungen zugleich eine Grenze gezogen, die einen sinnvollen Gebrauch des Realismus-begriffs erlaubt, den es aus der Grauzone willkürlicher Verwendung und inflationären Sprachgebrauch hinauszumanövrieren gilt: auf ein landläufiges Verständnis von Realismus läßt sich ja gemeinhin auch bringen, was mit demokratischen und demokratisch legitimierbaren Lektüreinteressen nichts am Hut hat.
Realismus aber will Erfahrungen der Menschen gestalten und organisieren helfen und aufräumen mit der Klage Paul Klees gegenüber der modernen Kunst, daß „uns kein Volk trägt”. Realistische Kunst geht davon aus, daß ihre Schöpfer und Produzenten den Menschen keine Rätsel zu sein haben, sondern hilfreich bei der Erkenntnis und Bewältigung von drängenden Lebensfragen; Realismus versucht, Tatsache und Ausmaß der Verdrängung von Geschichte und Kultur der Arbeiterklasse und -bewegung bewußtzumachen, an die verschütteten Formen proletarischen Bewußtseins anzuknüpfen und wirksame Möglichkeiten in der künstlerischen Darstellung zu entwickeln, um die eigene Klassengeschichte als Anknüpfungspunkt für solidarisches Handeln zu nutzen.
Am Beispiel der Literatur dargelegt, verlangt die Wirklichkeitsdarstellung des Realismus die Ausweitung und Weiterentwicklung aller Formen und Techniken, die Bereicherung um neue Darstellungsmöglichkeiten, die die Komplexität gesellschaftlicher Prozesse adäquat abzubilden vermögen. Das heißt nicht Festlegung des Realismus auf dokumentarische oder halbdokumentarische Schreibweisen, gerade anhand „erfundener” (aber deshalb auch nicht schon der Wirklichkeit enthobener) Texte lassen sich beispielhaft gesellschaftliche Prozesse verdeutlichen und „durchspielen”. Diese Darstellung schließt eine Beschränkung auf Oberflächenphänomene aus, sie muß etwas von den Antriebs-gesetzen und Motiven zeigen, die den Gang der Gesellschaft oder einer seiner Teil-bereiche erklären. „Weniger denn je”, formulierte Brecht, „sagt eine einfache Wiedergabe der Realität etwas über die Realität aus”; Realismus hat daran zu arbeiten, den Menschen ihre Arbeits- und Lebenszusammenhänge klarzumachen und an der Organisation ihrer Lebenserfahrung mitzuwirken.
Damit ist eine der wichtigsten Forderungen an Realismus überhaupt berührt: Kunst kann sich heute nicht mehr „darauf einlassen, der Wirklichkeit ein neues Ideal bloß entgegenzusetzen, sondern muß sich selbst als ein Faktor seiner Verwirklichung erweisen. Den Vernunftwillen (…) in den Massen selbst politisch werden zu lassen, das ist ihre Aufgabe. Kunst ist eine politische Kraft (…) nur in Verbindung mit den wirklichen gesellschaftlichen Mächten, die befähigt sind, die neue Gesellschaft heraufzuführen und auszubauen“(13).
In einer neueren Debatte über Realismus hat Jörg Drews unterstellt, ein dezidierter Realismus bedeute „Abbau oder Mißachtung all jener Differenzierungen, welche die literarischen Techniken in den letzten 70 Jahren erfahren haben, eine Rückkehr zu weniger komplizierten, -allgemeinverständlichen Schreibweisen. (…) Der Wunsch nach einer neuen realistischen Literatur läuft weitgehend auf den Wunsch nach einer Entlastung von der ganzen Bürde der Erkenntnisse hinaus, die das naive Erzählen immer schwieriger machen” (14). Unschwer ist die Vorstellung von Realismus auszumachen, die Drews zu dieser Attacke geführt hat: ein öder, mit literarischen Versatzstücken ausgarnierter Aufweis von Interessen, literarisierte Leitartikel, die Absicht und Tendenz wie eine Monstranz vorneweggetragen. Dagegen wäre anzuführen, daß Drews‘ Verdikt – das hier für weitergehende Realismusvorbehalte stehen mag – jedoch an der Diffamierung breiter realistischer Strömungen mitarbeitet zugunsten einer von Drews persönlich geschätzten Literatur – oder soll man sagen: Eliteratur – a la Arno Schmidt. Demgegenüber halte ich Uwe Timms Entgegnung an Drews für vernünftig, daß sich die Fortschrittlichkeit einer Literatur nicht nach deren Kompliziertheit bestimmen läßt.
Gerade vor dem Hintergrund der Forderung, daß Literatur „das Ganze”, die Ganzheitlichkeit des Menschen abzubilden und zu verteidigen habe gegenüber dem kapitalistischen Menschenbild, das der Mensch ja immer nur als Teilwesen interessiert (als Mehrwert-Kuli und nicht als Arbeitender, als Konsument und nicht als Genießender, usw.), halte ich dafür, es als einen Irrtum anzusehen, wenn man den Realitätszerfall durch einen Zerfall der Literatur und ihrer Mittel aufheben will. Aurel Schmidt, der sich in einem Dokumentationsband der genannten Realismusdebatte zu Wort meldet, schreibt zurecht:

,,… Hiergegen wäre ein Realismus abzugrenzen, der als organisierender bezeichnet werden könnte. (…) Schreiben ist für den Schriftsteller Herstellung des Ganzen, sagt Martin Walser: Diese Bezogenheit auf das Literarische erfüllt sich nun aber nicht als Selbstzweck, sondern bezweckt ist damit eine organisierende Funktion des Bewußtseins: die Fähigkeit des Erkennens und des Zusammensetzens von Eindrücken und Erfahrungen zu einem Ganzen. Der organisierende Realismus würde, durch seine Intention des Zusammenfügens, versuchen, dazu beizutragen, das konkretisierende Denken zu verstärken, das notwendig ist, um in dieser Welt zu begreifen, was sich ereignet“(15).

Dieser Perspektive fügen sich beispielsweise auch solche literarisch-technische Absichten ein: „Realismus ist eine Tendenz, vereinfachende, realitätsabweisende Schemata aufzulösen zugunsten größerer Komplexität” (Dieter Wellershoff) und: Realismus bedeutet auch „Verfremdung und Verzerrung der vorgefundenen Fakten mit dem Ziel, die automatisierte Wahrnehmung zu durchbrechen und so wesentliche Züge der dargestellten Wirklichkeit sichtbar zu machen, die sich der einfachen Wahrnehmung entziehen” (Hans Christoph Buch). Beide Stimmen gehören zum Arsenal und zur Technik des Realismus, der sich freilich dienstbar zu machen hat: der Erkenntnis und der Genußfähigkeit von Menschen, die sich aus überkommenen Abhängigkeiten befreien. Und diese Befreiung, ihre Notwendigkeit ins breite Bewußtsein treten zu lassen, Bedingungen des Kampfes zu markieren – ist die Aufgabe des Realismus. „Diesen Menschen beizustehen, daß sie ihr Selbstgefühl stärken oder erst wiedergewinnen und von ihrem Anspruch nicht lassen, als Menschen leben und sich betätigen zu dürfen, dazu kann die Kunst unendlich viel beitragen”(16).

V
Realismus ist aber nicht nur Methode, er ist auch eine Haltung. Wer Wirklichkeit umfassend darstellen will, muß sich auch um arbeitskritische Kontakte bemühen, und das nicht nur zu anderen Künstlern, sondern vor allem zu denen, für die er schreibt, malt, komponiert. Ohne eine genaue Kenntnis der ästhetischen Bedürfnislage und von Ansatzpunkten zu demokratischer Kulturarbeit läßt sich das Operative kaum erreichen, das Realismus immer schon mitmeint. Und es bedarf eines sich auch nach außen dokumentierenden Zusammenhangs zu den Organisationen und Parteien der Arbeiterbewegung. Wohl (noch) die meisten Kulturschaffenden sehen kaum einen Zusammenhang zwischen ihren Idealen einer freien Gesellschaft und denjenigen demokratischen und sozialistischen Kräften, die sie befördern können. Entweder ist, wie Engels anhand der Utopisten kritisierte, das Vernünftige für einen solchen Kulturschaffenden „Ausdruck der absoluten Wahrheit und Gerechtigkeit und braucht nur entdeckt zu werden, um durch eigene Kraft die Welt zu erobern”; oder aber er ist unfähig, „sich anderen unterzuordnen, unfähig zur Zusammenarbeit, unfähig zur Klassensolidarität, Individualist, der bürgerliche Revolutionär, der sich zornig sein eigenes Heil zimmert, kritisch gegen alles, allein im Besitz der Gnade”, wie Christopher Caudwell schrieb.
Angesichts der Zähigkeit, mit der sich Fortschritt verwirklicht, angesichts der Rückschläge und Opfer, die er fordert, der vielen Parteigänger des Alten, ist der Einzelkämpfer schnell am Ende: seiner Zuversicht, seiner Möglichkeiten, seiner Kräfte. Daß so viele Arbeitende gegen ihre eigenen Interessen handeln und seinen Arbeiten die massenkulturellen Produkte vorziehen, wird ihm dann weniger zur Herausforderung als daß es seine politische Apathisierung und Enttäuschung begünstigt. In diesem Sinn hat Thomas von der Vring an die Adresse der Gewerkschaften gesagt: „Holt uns zu Euch, helft insbesondere den kritischen Intellektuellen, in der Arbeiterbewegung heimisch zu werden. Helft uns auch insbesondere gegenüber denjenigen, die innerhalb der Reihen der Arbeiterbewegung sich gegen unsere Kritik wehren, weil sie ihnen lästig oder unheimlich ist“(17).
Eine Haltung ist Realismus auch insofern, als sie vom Kulturschaffenden verlangt, sich ständig auf die Herausforderung und zweckgebundene Verunsicherung einzulassen, die Resultat einer ständigen Auseinandersetzung mit der Vielschichtigkeit eines interdisziplinär aufgefaßten Arbeitsbereichs ist. Nur wer zu einem ständigen Prozeß der Neudefinition seiner Arbeitsweise, seines Selbstverständnisses nach Maßgabe der politischen Notwendigkeiten, seiner Möglichkeiten im künstlerischen und kunstvermittelnden Prozeß bereit ist, darf sich Realist nennen. Nur so können an Qualität gewinnende Arbeitskontakte die künstlerische Intelligenz am „Entschweben” hindern und an der Beseitigung ihrer Kleinbürgerlichkeit arbeiten. Es hat deshalb nichts mit der Inthronisierung zweifelhafter Autoritäten anstelle „künstlerischer Autonomie” zu tun, wenn die Forderung an die Kulturschaffenden und -vermittler lautet, die eigene Funktion und Tätigkeit fortwährend in Frage zu stellen, tendenziell seine Funktion aufzuheben. Denn, mit Heinz-Joachim Heydorn, der Intellektuelle verdankt seine Existenz einem Widerspruch:

„Der Widerspruch der Arbeitsteilung, von Einsamkeit des Bewußtseins und bewußtloser Einsamkeit, der mit ihm (dem Intellektuellen, M. B.) seine äußerste Zuspitzung erfährt, muß von ihm selber erkennend überwunden werden (. ..) Es war das bürgerliche Milieu, das den Zweifel erzeugte; der Intellektuelle war der gegen sich selbst gewandte Bürger. Er war Sinnbild einer extremen Entgegensetzung von körperlicher und geistiger Arbeit. Er war der Nomade der Gesellschaft, führte sie zu dem in ihr selbst angelegten Ende”(18).

Dieses Ende, die Fülle der gesellschaftlichen Widersprüche denen bewußt zu machen, die es alleine herbeiführen können, bleibt den Intellektuellen und Kulturschaffenden als historische Aufgabe.
Der Ort, dies zu tun, sind Formen der Zusammenarbeit, wie sie heute der „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt” praktiziert, wie sie in verschiedenen kulturpolitischen Gruppen und informellen Zirkeln geübt wird. Denn wenn Realismus ein Verhältnis zur Wirklichkeit bezeichnet, dann ist Realismus nicht allein eine Kategorie für Kulturschaffende, sondern gleichermaßen für die, an denen es letztlich liegt, wieviel an fortschrittlicher Kultur verbreitet wird. Aus der Werkkreisarbeit ist bekannt, daß dies am überzeugendsten und besten da geschieht, wo es sich um informelle Kontakte handelt, wo im Nachbarschafts-, Kollegen- und Verwandtenkreis fortschrittliche Literatur, Grafiken und Platten verschenkt werden, wo hierüber gezielt Gespräche geführt werden können etc. Vor allem aber brauchen die Kulturschaffenden selbst diese Kontakte zu Kollegen in den Betrieben und Büros. Daß politisch bewußte Leser, Betrachter, Hörer selbst in die Auftraggeberschaft politisch engagierter und demokratischer Kunst eintreten, dieses hohe Ziel ist unter den gegebenen Verhältnissen wohl nur innerhalb der bewußtesten Teile der Arbeiterbewegung zu realisieren- dennoch hängt der Erfolg und das Durchsetzungsvermögen realistischer Kunst und Kultur in großen Teilen vom Gelingen dieses Prozesses ab,

Friedrich Tomberg schreibt: „Demokratisierung der Kunst kann nicht bedeuten, auch den Arbeitern die Segnungen der gegenwärtigen Kunstmisere zukommen zu lassen und sie dadurch gänzlich in die spät kapitalistische Gesellschaft zu integrieren. Vielmehr hat der Künstler (. ..) zu erkennen, daß die Arbeiterklasse keine bloß unterprivilegierte Schicht ist, der durch kulturelle Almosen auf die Beine zu helfen wäre, sondern daß ihr, vor allem weil sie den Kern der zukünftigen Gesellschaft darstellt, im Bündnis mit der großen Masse des übrigen Volkes die Macht gegeben ist, das Lebensrecht der arbeitenden Menschen gegen die machtausübenden Parasiten auch durchzusetzen“(19)

Demokratische und realistische Kunst, verstanden als gesellschaftliches Selbstbild, hat die Möglichkeit, diese Lebensrecht und die Ansprüche der Menschen auszuweisen und klarzulegen, so wie sich noch jede neue Gesellschaft zuvor in der fortschrittlichen Kunst angekündigt hat.

(1)  11 Thesen zum Vergehen von Hören und Sehen. In: Piwitt/Rühmkorf (Hg): Literaturmagazin 5. Reinbek 1976 (das neue Buch 72), S 14.
 (2)  Aus: Zahltag. Werktagsgedichte. Asso-Verlag Oberhausen 1975, S 48.
 (3)  Nach Engelmann/Wallraff: Ihr da oben – wir da unten. Köln 1973, S 86 f.
 (4)  Starnberg 1974, insbesondere ab S 79ff.
 (5)  Das Kapital Bd I, MEW 23, S 674. Zit. Nach Dieter Ulle u.a. Imperialismus und Kultur. Zur kulturellen Entwicklung in der BRD, München 1975, S 28.
 (6)  Imperialismus und Kultur, S 28.
 (7)  Hermann Peter Piwitt, ebd, S 9f.
(8)  Zit. Nach Richard Hiepe: Die Taube in der Hand. Aufsätze zur Kunst und Kulturpolitik 1955-1975. München 1976, S 72. Der Argumentationsweise dieses Bandes ist der vorliegende Aufsatz an mehreren Stellen verpflichtet.
(9)  ebd, S 78
(10) Noten zur Literatur, Frankfurt 1968. Zit. Nach U. Timm: Realismus und Utopie. In: Laemmle (Hg): Realismus – welcher? München 1976, S 139.
(11) Friedrich Tomberg: Politische Ästhetik. Darmstadt/Neuwied 1973 (Sammlung Luchterhand 104), S 139.
(12) ebd, S 134.
(13) Friedrich Tomberg, ebd, S 127.
(14) Wider einen neuen Realismus. In: Laemmle (Hg): Realismus – welcher?, S 152
(15) Realismus ja – aber welcher denn? In: Laemmle (Hg): Realismus – welcher?, S 45f.
(16) Friedrich Tomberg, ebd, S 128.
(17) Wissenschaft im Dienst der Arbeiter. Eröffnungsrede zur Tagung „Sicherheit am Arbeitsplatz und Unfallschutz“ vom 4.-6. Mai 1973  in Bremen. Zit. Nach Hajo Funke u.a. (Red.): Industriearbeit und Gesundheitsverschleiß, Frankfurt 1974, S 26.
(18) Überleben durch Bildung. Umriß einer Aussicht. In: Hilmar Hoffmann (Hg): Perspektiven der kommunalen Kulturpolitik. Beschreibungen und Entwürfe, Frankfurt 1974, S 33.
(19) Friedrich Tomberg, ebd, S 127f.

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