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Der Anfang der nachbür­ger­li­chen Vernunft

Aus: vorgänge Nr.24 (Heft 24/1976), S. 94-94

Jost Herbig, Das Ende der bürgerlichen Vernunft — Wirtschaftliche, technische und gesellschaftliche Zukunft, Carl Hanser Verlag München, 279 Seiten.

Herbigs Buch handelt mehr von Vergangenheit und Gegenwart als von Zukunft. Er beschreibt den Weg der Technik von den Anfängen bis zu ihrer heutigen Übergewichtigkeit und bemüht sich, die treibenden Kräfte aufzuzeigen. Selbst Naturwissenschaftlern weist Herbig nach, daß die Technik sich nicht aus der Wissenschaft, sondern aus der Wirtschaft entwickelte. In der Hand des sich befreienden Bürgertums wurde sie zur Waffe gegen die feudale Ordnung, in der nur Besitz an Grund und Boden Herrschaft begründen konnte. Die Technik schuf ebenbürtige Werte, Besitzer von Kapital und Produktionsmitteln kletterten die soziale Stufenleiter empor und beteiligten sich an der Herrschaft. Diese Verbindung von Wissenschaft und Wirtschaft ist es, die Herbig als bürgerliche Vernunft bezeichnet.
Weil sie unter falschen Voraussetzungen angetreten ist, ist diese Vernunft heute am Ende. Sie glaubte an die Gerechtigkeit des freien Marktes und an die Unerschöpflichkeit der Erde. Aber der freie Markt nutzte den wirtschaftlich Starken mehr als der Mehrheit, und die (ietrabigkeit des aus der Technik entstandenen Industriesystems beginnt die Erde auszuleeren. Die Produktionsapparate erzeugen über die Formung der öffentlichen und privaten Meinung den Bedarf mit- allerdings ohne Rücksicht auf Bedürfnisse. Die Produktion wächst nach dem ihr innewohnenden Zwang, sie hat sich verselbständigt und stößt an ihre Grenzen. Wachstumszwang und Grenzen lassen sich nicht vereinen. Die bekannten Erscheinungen: teilweiser Überfluß und Mangel, Umweltzerstörung, Zivilisationskrankheiten und Elend in den Entwicklungsländern sind die Folge. Eine Heerschar haupt- und nebenamtlicher Rechtfertiger ist emsig dabei, die Folgen zu entschuldigen, zu verniedlichen oder gar zu leugnen.
Herbig glaubt, daß die Wissenschaft, weil sie ein Kind der bürgerlichen Vernunft sei, aus dieser Sackgasse keinen Ausweg zeigen könne. Das kann aber nur gelten, soweit sie tatsächlich im System befangen bleibt. Das mag in der Praxis bei besoldeten Natur- und Technikwissenschaftern der Fall sein, viele andere Wissenschaften aber haben andere Bezugsrahmen als die gewordenen Verhältnisse. Wichtig ist jedoch Herbigs Hinweis darauf, daß freies und schöpferisches Denken nicht auf den wissenschaftlichen Weg angewiesen ist. Vorwissenschaftliche Völker erklärten sich die Erscheinungen des Lebens und der Natur auf mythische Weise, indem sie den Erscheinungen fühlende und wollende Wesen unterlegten. Die Gemeinsamkeiten mythischer und wissenschaftlicher Welterklärung sind größer, als es die Wissenschaft heute wahrhaben möchte, weil sie Vernunft und kein Mythos sein will- was nicht ausschließt, daß namhafte Wissenschafter wie zum Beispiel Albert Einstein wiederum den lieben Gott nicht fallen lassen wollten.
Jost Herbig lehnt es fast leidenschaftlich ab, für die Zukunft eine Utopie zu entwerfen. Eine Utopie würde Text bleiben; den die Industriegesellschaft zur Handelsware machte. Dennoch stellt er die Forderung, daß in der Zukunft alle Menschen in allen Ländern gleichen Anspruch auf die Güter der Erde und den durch sie möglichen Wohlstand haben und daß innerhalb dieses Rahmens die nationalen und internationalen Entscheidungen demokratisiert werden müssen. In der zukünftigen Lebensform, die nach Herbig eine nachindustrielle nicht sein kann, sieht er das Ende des Autos, die Ablösung des Marktes, die Entspezialisierung der Arbeit, die gemeinsame statt private Nutzung von Gütern und die Bildung kleiner Lebenseinheiten auch in großen Städten. So soll die entpolisierende Vereinsamung des Menschen im privaten Konsum durchbrochen und die echte Mitwirkung des Bürgers an der Demokratie ermöglicht werden. Die bürgerliche Vernunft ist tot, es lebe die menschliche Vernunft!

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