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Grundwerte oder/statt Grund­ge­setz?

Aus: vorgänge Nr.24 (Heft 6/1976), S. 3-6

Die CDU und die „Grundwerte”

Wer redet  noch von Grundrechten? Radikale natürlich, die-gottlob vergeblich-auf sie sich berufen. Oder allenfalls einige Spätliberale, die meinen, daß, was anderen geschieht, sie etwas angeht. Beide aber haben nicht gemerkt, daß die Entwicklung längst über sie hinaus ist: Der Herr von Welt trägt Grundwerte.
Es ist das Verdienst der Unionsparteien, daß sie die Diskussion über Grundwerte eröffnet haben und offensiv führen, so daß auch die parteipolitischen Gegner, die Anhänger der sozial-liberalen Koalition, in den Bannkreis dieser Diskussion hineingezwungen werden. Nicht zuletzt der Parteivorsitzende und Kanzlerkandidat der CDU, Helmut Kohl, hat Beispielhaftes über die Bedeutung der Grundwerte gesagt, und er soll daher ausführlich zitiert werden.(1)
„Wir haben gelernt, daß ein freiheitlicher Staat nur bestehen kann, wenn er bereit ist, unverzichtbare Grundwerte anzuerkennen und sie entschieden gegen ihre Feinde und Verächter zu verteidigen … Die Grundwerte sind das ideelle Integrationselement, das in besonderer Weise dazu beiträgt, die geschichtliche Identität unseres Staates zu stiften. Sie schaffen die Grundlage, um staatliche Macht und Kultur zu verbünden. Sie begründen die Autorität des Staates, die es ihm ermöglicht, Recht und individuelle Ethik wenigstens teilweise in Einklang zu bringen.” Daher ist es „die Aufgabe aller Staatsgewalten, auch der Gesetzgebung und Regierung, sowie aller demokratischen Kräfte, zur Erhaltung und Festigung des gemeinsamen Grundkonsenses, der in den verfassungsrechtlichen Grundwerten zum Ausdruck kommt, beizutragen. Man macht sich diese Aufgabe zu leicht, wenn man sich auf die Antwort zurückzieht, daß der Staat nur die Grundrechte, nicht aber die gesellschaftlichen Grundwerte zu schützen habe.” Und „der Politiker hat nicht nur die Aufgabe, Wertvorstellungen der Gesellschaft zu registrieren. Er hat die Pflicht, für die Grundwerte der Verfassung aktiv einzutreten. Dies heißt, er muß ernsthaft versuchen, ein Maximum an Konsens über Grundwerte der Gesellschaft, die verfassungsrechtlich relevant sind, anzustreben. Dies gilt vor allem in Hinblick auf zentrale nationale Fragen und wichtige Rechtsfragen, die elementare Formen der menschlichen Existenz und des sozialen Zusammenlebens berühren.”
Es hat zwar den Anschein, als bleibe dies alles undeutlich, wolkig: Was macht denn, konkret, die beschworenen Grundwerte aus? Was bedeuten etwa „Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität” jenseits dessen, was Grundrechte unserer Verfassung umreißen? Aber der Schein trügt. Mindestens in der Negation zeigt sich sehr klar, was es mit den Grundwerten auf sich hat. Helmut Kohl:
„Ich muß leider feststellen, daß die derzeitigen Koalitionsparteien … immer wieder den Versuch unternehmen, ihre Auffassung ohne Rücksicht auf die abweichenden Überzeugungen und fundamentalen Wertvorstellungen großer Bevölkerungsteile durchzusetzen. Hier wird seit Jahren eine Veränderungsstrategie geübt, die den Bestand an gemeinsamen Wertvorstellungen in erheblichem Umfang in Frage stellt und damit die freiheitliche, an gemeinsamen Grundwerten orientierte Ordnung gefährdet.”

Diffamierte Verän­de­rungs­stra­te­gien

Als Beispiele werden unter anderem genannt: Eherechtsreform, Hochschulrecht, Schwangerschaftsabbruch. Oder das Bodenrecht, obwohl die Pläne der Koalition an den-offenbar kraß verfassungswidrigen-Grundrechtsartikel 15 unserer Verfassung ja bei weitem nicht heranreichten, der bekanntlich lautet: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“ Für Kohl ist sogar „ein weiteres Beispiel für die fehlende Verständigungsbereitschaft in zentralen, die Grundwerte berührenden Fragen .., die parlamentarische Behandlung des neuen Berufsbildungsgesetzes.”
Wer also die demokratischen, aber formalen „Spielregeln” der Verfassung-etwa nach dem Motto: Mehrheit ist Mehrheit — für Veränderungsstrategien, für Reformen benutzt, die den Vorstellungen der CDU zuwiderlaufen, der gefährdet die freiheitliche Ordnung und gehört damit im Grunde schon zu jenen „Radikalen”, die es zu bekämpfen, niederzuhalten, politisch auszuschalten gilt. Diese Funktion, allen unliebsamen Reformen und Veränderungsstrategien insgesamt einen Riegel vorzuschieben, macht Kohl wiederum exemplarisch sichtbar:
„Unsere Verfassung ist nicht nur bedroht durch eine Politik, die durch mangelnde Verständigungsbereitschaft die Wirksamkeit einzelner Grundwerte schmälert. Gefährlicher noch sind Bestrebungen, die Verfassung durch gesellschaftspolitische Gesamtkonzeptionen ideologisch zu überlagern. Die Politik wird zum Mittel gesellschaftspolitischer Glaubenskriege. Die soziale Ordnung ist nur insoweit politisch relevant, als sie sich in das ideologische Gesamtkonzept fügt … Wir haben dem entgegenzuhalten, daß die Verfassung kein Planungskonzept ist, kein Entwurf der guten Gesellschaft, keine Vorwegnahme einer im voraus festgelegten Zukunft.”
Natürlich ist sie das nicht. Doch abgesehen von der Frage, wer eigentlich von den führenden, praktisch Verantwortung tragenden Koalitionspolitikern dies je behauptet hätte, wirkt es gelinde gesagt seltsam, daß. hier Argumentationsfiguren auftauchen-nur mit umgekehrtem, konservativen Vorzeichen-, die sonst mit Recht oder Unrecht immer den verketzerten „Radikalen” zugeschrieben werden und die man vordergründig so heftig beklagt und bekämpft. Das „nur formale” oder „formaldemokratische” Verfassungsver-ständnis war es doch gerade, das Parteigänger der „Neuen Linken” massiv angriffen oder mit Verachtung straften. Mit dieser Verachtung aber steht die ideologische Überlagerung der Verfassung in Wechselwirkung; noch einmal Helmut Kohl:
„Der christliche Politiker reduziert den Menschen nicht auf seine gesellschaftlichen Bedürfnisse. Für ihn sind die Grundwerte nicht über Mehrheiten manipulierbar.” Und: „Wer den Menschen primär als gesellschaftliches Wesen begreift, vermag im Zweifel sein Recht und seine Freiheit nicht gegen Übergriffe der Gesellschaft zu schützen. Es genügt nicht zu sagen, daß der Staat die Grundwerte nicht geschaffen habe, sondern sie vorfinde. Er findet sie voraber nicht empirisch in der Gesellschaft, sondern in der Natur des Menschen. Anders als von dieser Ebene her lassen sich die Grundrechte dem mehrheitlichen Zugriff der Gesellschaft nicht entziehen, läßt sich die Gefahr einer normativen Verabsolutierung der Gesellschaft nicht bannen.”
Das ist folgerichtig; nur durch solche ideologische Überlagerung kann man in der Tat die Gefahren des „mehrheitlichen Zugriffs” wirksam abwehren. Zum mindesten kann man nachhaltig diffamieren. Demgegenüber erweisen sich die „Linken” geradezu als Stümper; da sie „gesellschaftlich” argumentieren, sind sie auch argumentativ zu fassen. Zum Beispiel müssen sie sich vorhalten lassen, daß sie die „überwältigende Mehrheit”, für die sie zu sprechen behaupten- des „Volkes” oder der „Werktätigen” und „Lohnabhängigen”, des Proletariats- gar nicht repräsentieren; gequält genug werden dann, um der empirischen Beweislast zu entkommen, Hilfsfiguren wie die „Manipulation” oder ein hartnäckig „,falsches Bewußtsein” bemüht. Wer aber die „Natur des Menschen” ins Treffen führt, und zwar ausdrücklich jenseits dessen, was sich empirisch, geschichtlich-gesellschaftlich über sie ausmachen läßt, dessen Position ist unangreifbar. Es mag sich um die Ehe, das Sexualverhalten, das Bodenrecht, die Einkommensverteilung und Eigentumsverhältnisse, um Ausbildungsordnungen oder was immer handeln: Was mir paßt, entspricht eben der Natur des Menschen, und was mir nicht paßt, widerspricht ihr; wer deshalb verändern will, was ich vertrete, kündigt den demokratischen Grundkonsens auf und stellt sich außerhalb der freiheitlichen Grundordnung, die es zu verteidigen gilt.

Axt an den Wurzeln der Demokratie

Man könnte in Versuchung geraten, dies alles mit einem Achselzucken abzutun: Im Grunde handelt es sich um des Kaisers neue Kleider, um alt-bekannte konservative Schablonen. (Die Positionen liberal-konservativer Klassiker wie Edmund Burke, Alexander Hamilton oder Alexis de Tocqueville sahen allerdings ganz anders aus.) Und da die Verteidigung des Bestehenden demokratisch so legitim ist, wie der Kampf um Veränderungen, kann man es niemandem verübeln, wenn er sich jeder Hilfe bedient, die seine Stellung zu stärken verspricht.
Leider geht es um mehr. In einem Satz: Hier wird- bewußt oder unbewußt- die Axt an die Wurzeln des parlamentarischen Systems und der Parteiendemokratie gelegt. Denn wer parlamentarisch-demokratischen Mehrheiten und Parteien ihr Handlungsrecht unter Berufung auf die überempirische „Natur des Menschen” und auf tabuierte „Grundwerte” abspricht, trifft damit das parlamentarisch-demokratische Handlungssystem insgesamt. Er begibt sich auf die schiefe Ebene, an deren Ende der von der Vorsehung berufene Führer oder die selbsternannte Machtelite steht, die ihre höhere Einsicht verteidigt und vollstreckt. (Die in der Frage des Schwangerschaftsabbruchs Ärzten contra legem verordnete Gewissensentscheidung ist nur ein erster und noch vergleichsweise unscheinbarer, aber durchaus konsequenter Schritt in diese Richtung. Der nächste wäre wahrscheinlich ein Verhalten, wie es in der Weimarer Republik vielfach Organe der Justiz gegenüber dem „System” und den „Novemberverbrechern” demonstrierten.)
Die Anklage läßt sich keineswegs mit dem Hinweis erledigen oder auch nur abschwächen, daß das Bonner Grundgesetz im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung eine „kämpferische” Demokratie entworfen habe. Gewiß: Den Verfassungsvätern im Parlamentarischen Rat ging es darum, aus bitteren Erfahrungen zu lernen und zu verhindern, daß je wieder im Schein der Legalität Freiheit zur Zerstörung der Freiheit, des Parlamentarismus und der Demokratie mißbraucht werden könnte. Daher wurden die Grundsätze der Verfassung jedem Mehrheitszugriff entzogen (Art 79, Abs.3), darf kein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden (Art 19, Abs.2) und verwirkt die Grundrechte der Meinungsfreiheit, wer sie zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht (Art 18). Was aber als Würde des Menschen nicht angetastet werden darf (Art 1) und in den weiteren Grundrechtsartikeln sich entfaltet, was in der Geschichte der Neuzeit seit Roger Williams und John Locke als Freiheit geistig entworfen, was dann politisch erkämpft und schließlich im Sozialstaat materiell fundiert wurde, das ist-  im genauen Gegensatz zu jeder vorgegebenen und verordneten „Natur” menschlicher Lebensverhältnisse- gerade die Offenheit, sind die Fähigkeit und das Recht des einzelnen, selbst über seine Grundwerte zu befinden und zu entscheiden, wie und wohin er sein Leben im Letzten führen will. Und die freiheitliche demokratische Verfassungsordnung ist dann gerechtfertigt, sie ist dann- und nur dann- notwendig, wenn anerkannt wird, daß es keine i n h a l t l i c h definierbaren Sinnkonstruktionen oder Überlieferungen mehr gibt, auf die alle verpflichtet und über die alle sich einig sind, daß man vielmehr in einer Pluralität der Wertvorstellungen sich miteinander einzurichten hat, ohne einander zu verfemen, zu verfolgen und zu vernichten. Die Offenheit in der Frage der Grundwerte wird also darum in der kämpferischen Demokratie absolut gesetzt, weil sie die einzige Alternative bildet zum Abgleiten ins radikale Freund-Feind-Verhältnis, in den Bürgerkrieg, in die revolutionäre oder konterrevolutionäre Verschmelzung von Tugend und Terror oder in die Scheinidylle der Volksgemeinschaft, die in Konzentrationslager und Krieg ihre folgerichtige Ergänzung findet.
Ganz so schlimm wird es schon nicht kommen, mögen viele meinen schon gar nicht im Zeichen des biedersinnigen Herrn Kohl. Wirklich nicht? Kann man angesichts deutscher Vorzeichen und Erfahrungen darauf vertrauen, daß der Biedermann als Brandstifter eine literarische Kunstfigur bleibt? Gibt es nicht vielleicht so etwas wie ein überdauerndes Hindenburgsyndrom machtgeschützter Innerlichkeit, das deutsch-nationale „Grundwerte” markiert? Ohnehin haben seit Jahr und Tag prominente Autoren den Kampf der Kulturwerte beschworen und Haltet-den-Dieb-Parolen ausgegeben. Zum Beispiel Karl Steinbuch: „Meines Erachtens wurde noch nie – kaum zur Nazizeit – eine Kulturnation mit großer Tradition durch eine solche kleine Ideologie verwirrt wie gegenwärtig unser Volk durch die arrogante Bewegung, die mit dem Anspruch auftritt, das ,kritische Bewußtsein` zu verkörpern und ,progressiv` zu sein.” Denn es „ereignete sich in unserem Lande noch nie eine solche hemmungslose Demontage christlicher Ethik, des Humanismus und der klassischen Philosophie wie unter der Verantwortung der SPD.”(2)
Gilt es also nur den Anfängen zu wehren? Oder kommt es nicht vielmehr darauf an, eine Entwicklung aufzuhalten und zurückzudrängen, die schon sehr weit fortgeschritten ist? Jüngst hat fast jeder zweite Bürger dem „Grundwerte”- und „Freiheit statt Sozialismus“-Kanzlerkandidaten seine Stimme gegeben: einem Kandidaten, wohlgemerkt, der in seinen eigenen Reihen vielfach noch als zu weich und „zu liberal” gilt…

Vergiftung aller Politik

Schließlich, aber nicht zuletzt ist darauf hinzuweisen, wie fatal eine von Grundwerten überschattete, „materiale” Verfassungskonzeption die nüchterne Konfliktaustragung im Kampf um Bewahrung oder Veränderung bestehender Verhältnisse vergiftet, damit aber ein genuin demokratisches Politikverständnis insgesamt zerstört. Diesen Sachverhalt hat Robert Leicht exakt analysiert(3):
„Was man unmittelbar aus seiner Interessenlage nicht zu fordern wagt, verlangt man als Inhalt eines ,Rechtstitels` um so heftiger. Nur als Folge innerer Unfreiheit scheut man davor zurück, sich die eigenen Interessen als nur solche einzugestehen und die erklärte Auseinandersetzung um deren Erfüllung (aufgrund allseits akzeptierter ‚formaler‘ Regeln) als dennoch legitim zu betrachten. Diese regressive Einstellung zur- wenn man so will- Technik der politischen Triebbefriedigung schlägt sich in der allgemeinen politischen Mentalität nieder als jenes vulgär-apolitische Vorurteil, wonach Politik nichts anderes als eben ein schmutziges Geschäft sei … Jedermann als Reaktionär oder als linkssozialistischen Kollektivisten zu bezichtigen ist zwar an sich schon ein schönes Verdammungsurteil; doch zündend hört es sich erst an, wenn der Betroffene außerdem nicht mehr auf dem ,Boden des Grundgesetzes` steht, also nicht nur politisch, sondern zudem ,rechtskräftig` verdammt ist. Die Gegenreaktion liegt auf der Hand:
weil es politisch nicht gerade förderlich ist, dermaßen gebrandmarkt zu sein, schwört nun wieder jeder Stein und Bein auf das Grundgesetz, alle auf denselben Artikel, so daß außer großem verbalen Aufwand nicht mehr gewonnen ist als heillose Verdeckung des eigentlichen politischen Konflikts.”
Wenn aber auch nichts gewonnen ist, dann geht doch Entscheidendes verloren: „Je mehr die politischen Kräfte dazu neigen, nur solche Interessen für achtbar zu halten, die sich direkt auf einen Verfassungsauftrag berufen können, umso stärker leisten sie dem fatalen Vorurteil Vorschub, wonach politische Interessen für sich genommen nicht nur nicht besonders anerkennenswert sind, sondern geradezu verwerflich. Diese Denunziation des Politischen muß ein parlamentarisches System auf das empfindlichste treffen, abgesehen von dem hohen Maß an Realitätsverlust, das sie bei seinen Bürgern auslösen kann.”

(1) Alle Zitate sind dem Vortrag „Grundwerte heute in Staat und Gesellschaft” entnommen, gehalten in der Katholischen Akademie Hamburg am 13. Juni 1976.
(2) Ja zur Wirklichkeit, Stuttgart 1975, S 35 u 269.
(3) Das Grundgesetz- eine säkularisierte Heilsordnung? Zur Technik der politischen Triebbefriedigung. In: Grundgesetz und politische Praxis, München (Reihe Hanser 155) 1974, S 131 ff.

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