Publikationen / vorgänge / vorgänge 24

Volks­hoch­schule – zwischen Anpassung und Verschulung

Aus: vorgänge Nr.24 (Heft 6/1976), S. 77-83

Die offizielle Zeitschrift des Deutschen Volkshochschulverbandes Volkshochschule im Westen veröffentlichte in ihren beiden letzten Ausgaben Grundsatzaufsätze von Autoren, die die heutige Volkshochschulbewegung wesentlich geprägt haben(1). Im Spannungsfeld von „Anpassung und Erneuerung” von „Schule und Entschulung” wird in einer Art Standortbestimmung eine kritische Bestandsaufnahme der Volkshochschulen von heute vorgenommen, werden Veränderungen im Angebot der Volkshochschulen dargestellt und die auf die Volkshochschulen zukommenden wichtigsten Aufgaben beschrieben. Vor dem Hintergrund einer beeindruckenden Leistungsbilanz in den letzten Jahren und der wachsenden gesellschafts- und bildungspolitischen Bedeutung der Volkshochschulen dominieren in diesen Artikeln, die das offizielle Selbstverständnis der Volkshochschulbewegung am Vorabend des VI. Deutschen Volkshochschultages in Köln (23.–25.11.76) zusammenfassen, die positiven Entwicklungstendenzen. Zwar greift Hellmut Becker, der ehemalige Präsident des Deutschen Volkshochschulverbandes und jetzige Direktor des Berliner Max-Planck Instituts für Bildungsforschung, die aktuelle Auseinandersetzung über Koppelung und Entkoppelung von Bildungssystem und Beschäftigungssystem auf, um auf die Gefahr hinzuweisen, „daß die Volkshochschule als verwaltete Schule für Erwachsene noch schlimmer wird, als es herkömmliche Schulen für Kinder schon häufig sind” (S 200). In der Arbeit der Dachorganisationen (Landesverbände, Pädagogische Arbeitsstelle des DVV) und in der engen Verbindung der Volkshochschulen zur kommunalen Selbstverwaltung sieht Becker aber einen ausreichenden Schutz vor solchen Gefahren und glaubt deshalb versichern zu können, „daß die Weiterbildung keine verkrustete öffentliche Organisation wird, sondern eine lebendige Bewegung bleibt”(S 201).

Diszi­pli­nie­rungen der Volks­hoch­schul­a­r­beit

Erlaubt die kritische Analyse der Entwicklungstendenzen der Volkshochschulbewegung eine solche optimistische Aussage? Oder beginnen nicht vielmehr die mit der institutionellen Sicherung der Weiterbildung stärker werdenden Zwänge immer spürbarer zu werden? Kein Zweifel- die Gesetzgebung der einzelnen Länder und der damit verbundene Trend zur Kommunalisierung der Volkshochschulen hat in den letzten Jahren die Sicherung, Ausweitung und Kontinuität des Bildungsangebots auch und gerade in ökonomischen Krisenzeiten positiv bestimmt. Dennoch darf nicht übersehen werden, daß die Abhängigkeit der Volkshochschulen, insbesondere der hauptamtlichen Mitarbeiter, von den jeweils herrschenden kommunal- oder regionalpolitischen Konstellationen zugleich gewachsen ist und sich eine Integration in bürokratische Apparate abzeichnet, die nicht nur zu einer Angleichung an die Arbeitsbedingungen im öffentlichen Dienst führt, sondern auch die Mobilität der Institutionen auf vielen Ebenen verringert. Die gerade in jüngster Zeit beschlossenen Einschränkungen von Weiterbildungsmöglichkeiten und Disziplinierungen im Volkshochschulbereich beweisen, daß systematische Versuche unternommen werden, auch diesen Bereich stärker zu reglementieren und noch vorhandene. Freiheitsräume abzubauen(2).
Die Berichterstattung regionaler und überregionaler Zeitungen liefert zahlreiche Beispiele für die in der Regel unter dem Vorwand angeblicher Linkslastigkeit oder mangelnder Ausgewogenheit vorgenommenen Eingriffe von wechselnden Mehrheiten in zuständigen Ratsausschüssen, von der Verwaltungsspitze, von Beiräten oder Vorständen in das Programmangebot oder gar in einzelne Veranstaltungen des Volkshochschulprogramms. Sie fordern zur bislang unterlassenen öffentlichen Diskussion und Auseinandersetzung um die Freiheit der Lehrplangestaltung im Weiterbildungsbereich heraus. Besonders in Nordrhein-Westfalen wird das im § 4 des 1. Weiterbildungsgesetzes von NRW festgelegte Recht auf selbständige Lehrplangestaltung in letzter Zeit immer wieder unterschiedlich interpretiert.
Handelt es sich hierbei lediglich um ein Recht der Volkshochschule und ihres Trägers gegenüber dem Land oder werden auch Rechte der Einrichtung gegenüber dem Träger, also der Kommune, angesprochen? Da die Träger einiger Volkshochschulen sich- in der Regel ohne satzungsgemäße Absicherung- immer mehr das Recht herausnehmen, auf Einzelheiten der Arbeitsplangestaltung direkt Einfluß zu nehmen, besteht die Gefahr, daß die Kommunen Freiheit, Selbständigkeit und pädagogische Autonomie der Volkshochschulen antasten. Mit der Achtung dieser Prinzipien „aber steht und fällt die kommunale Volkshochschule. Die Freiheit bei der pädagogischen Planung muß gewährleistet sein”, wie der ständige stellvertretende Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages und Präsident des Deutschen Volkshochschulverbandes, Dieter Sauberzweig, formuliert, „und ein Einfluß des Trägers auf den Lehrplan ist nur in dem begrenzten Rahmen von Vor-schlägen zur Berücksichtigung besonderer örtlicher Gegebenheiten möglich(3).”
Angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der inzwischen Streichungen von Veranstaltungen aus dem Programmentwurf einzelner Volkshochschulen durch Ausschüsse vorgenommen und von kommunalen Spitzenverbänden gerechtfertigt werden(4), ist zu bezweifeln, ob liberalere Positionen überhaupt noch eine Chance haben, in Satzungen und Ausführungsbestimmungen zu Gesetzen berücksichtigt zu werden. Es zeichnet sich eine Einschränkung der pädagogischen Autonomie der Volkshochschule ab. Nachdem sich diese Institution mühsam aus der sozialliberalen Tradition der Volksbildung hin zu umfassenden Selbstverwaltungsaufgabe der Gemeinde entwickelt hat, scheint jetzt die Koordination in kommunaler Verantwortung zu einer Bevormundung durch die Kommunen zu führen. Auf die Anfrage einiger besorgter NRW-Landtagsabgeordneter vom Juni 1976, wie die Landesregierung den Eingriff der Ratsmehrheit in einzelne Veranstaltungen eines VHS-Programms beurteile und welche Maßnahmen sie für richtig halte, um die Freiheit der Lehrplangestaltung und der Lehre zu garantieren, hat der zuständige Kultusminister bis zum November 1976 noch nicht geantwortet(5).
Diese den Bildungsauftrag der Volkshochschulen grundsätzlich berührenden Fragen führen in Zeiten der sogenannten „Tendenzwende” in der politischen Angebotsstruktur einer VHS dazu, daß sie den Bürgern nur Techniken demokratischer Verhaltensweisen anbieten darf, deren konkrete Anwendung- z.B. auf kommunale Probleme- im Rahmen ihrer Bildungsarbeit aber zu unterlassen hat. Wichtige Vorhaben von Rat und Verwaltung dürfen nach solchen Prinzipien von Bürgern in VHS-Veranstaltungen in der Regel erst dann diskutiert werden, wenn sie in den politischen Gremien nicht mehr umstritten, son-dern entschieden sind(6).

Weiter­bil­dung ein Bürgerrecht

Ein solches Vorgehen steht freilich im Widerspruch zu offiziellen Absichtserklärungen und Grundsatzpapieren. Hiernach ist Weiterbildung als Prozeß lebenslangen Lernens zu verstehen, der jedem Bürger die Möglichkeit gibt, neue Einsichten und Einstellungen, Kenntnisse und Fertigkeiten zu erwerben, um auf wechselnde gesellschaftliche Strukturen und berufliche Anforderungen reagieren zu können. Auch herrscht ein verbales Einver-ständnis darüber, daß Weiterbildung einen Beitrag zur Chancengleichheit und zum Abbau von Privilegien, zur Überwindung von Herrschaftsstrukturen und Vorurteilen, zur Steigerung der individuellen Kreativität und zur Gewinnung begründeter Urteile leisten soll, um so zur Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben zu ermutigen und zu befähigen. Geht jedoch die VHS als öffentliche und parteipolitisch unabhängige Bildungsorganisation in ihrem Angebot konkret auf die Interessen benachteiligter Gruppen ein, dann stoßen solche Ansätze einer emanzipatorisch-kritisch verstandenen Bildungsarbeit schnell auf institutionelle Grenzen und politische Beschränkungen, vor allem wenn z.B. abhängig Beschäftigte in der Volkshochschule lernen sollten, ihren Verstand im traditionell aufklärerischen Sinne ohne Hilfe anderer zu gebrauchen, um im Anschluß daran die gewonnenen Einsichten in Handeln umzusetzen.
Häufig geht es bei den Auseinandersetzungen um „harmlosere” Fälle. Diese scheinen jedoch zu genügen, um die in hauptamtlichen VHS-Kreisen weit verbreitete Scheu vor Konflikten zu verstärken, eine Entwicklung, die durch die komplizierten institutionellen Rahmenbedingungen zusätzlich unterstützt wird. Die starke Nachfrage nach in der Regel unumstrittenen Lernprogrammen und Freizeitangeboten fördert die Tendenz zur Anpassung, Entpolitisierung und Verschulung, Politische Bildung wird zwar nach wie vor als ein Schwerpunkt der Arbeit betrachtet, aber Anspruch und Realität klaffen zusehends auseinander. Die von Tietgens immer wieder beschworene Doppelfunktion der VHS, Lernort und Diskussionsforum zugleich zu sein, scheint gefährdet, so daß der dem Konsens verpflichtete Chefdenker des Deutschen Volkshochschulverbandes wieder einmal sein bewährtes Prinzip der Gegensteuerung bemühen muß, um den Weg der Volkshochschule zur Lernfabrik zu verhindern: „Die Risikobereitschaft der Volkshochschulen ist außerordentlich unterschiedlich. Sie scheint eher nachzulassen als zuzunehmen. Den Polarisierungstendenzen in der politisch-ökonomischen Diskussion wird kaum Widerstand entgegengesetzt. Minderheiten-Auffassungen, die sich nicht von vornherein auf gegensätzliche Lager verorten lassen, kommen kaum noch zu Wort. Das Prinzip der Ausgewogenheit wird damit defensiv mißverstanden, oder für vordergründige Gegenüberstellung ausgenutzt. Die spezifischen Möglichkeiten einer politischen Bildung im Rahmen eines kommunalen Weiterbildungszentrums bleiben damit ebenso ungenutzt, wie die Aufgaben mißachtet bleiben, die etwa der Deutsche Städtetag stellt, wenn er dazu auffordert, Spielräume für kritische Ausdrucksmöglichkeiten zu schaffen (7).”

Demokra­ti­sche Entwick­lungs­ten­denzen der VHS und ihre Veränderung

Die Vernachlässigung, ja zunehmende Ausklammerung einer konfliktorientierten Bildungsarbeit, der unnötige Verzicht auf die vom Deutschen Städtetag zugestandenen „Spielräume” für kritische Ausdrucksmöglichkeiten gehören zu den nachdenkens-wertesten Beobachtungen, die in den letzten Jahren zu machen waren.
Langjährige theoretische Diskussionen über Veränderungen im Selbstverständnis und in der Angebotsstruktur scheinen in diesem Bereich nur begrenzt einen Niederschlag in der Realität zu finden. So ist es wohl nicht erstaunlich, daß die zitierten „Fünf ,Weisen` der Volkshochschulbewegung” trotz der oben angeführten Mahnungen auf die von Feidel-Mertz treffend und schlagwortartig benannten, idealtypisch voneinander abgesetzten,
in Wahrheit nicht strikt zu trennenden Hauptentwicklungstendenzen der Volkshochschulen in der Bundesrepublik nach 1945 nur unvollständig eingehen(8). Sie behandeln ausführlich:
• die „realistische Wende” in Selbstverständnis und Aufgabenstellung der Volkshochschule, die eine Abkehr von früherer Enthaltsamkeit gegenüber der Vermittlung auch beruflich relevanter Inhalte eingeleitet hat;
• die zunehmende Systematisierung und Institutionalisierung des Lehr- und Bildungsangebots durch die Entwicklung erwachsenenspezifischer methodischer und curricularer Entwürfe, abzielend auf kontrollier- und testierbare Abschlüsse (Zertifikate) unter Nut-zung vorhandener und auszubauender Möglichkeiten des „Medienverbunds” (Zweiter Bildungsweg, Telekolleg);
• die „Integration” der Erwachsenenbildung in das gesamte Erziehungs- und Bildungswesen als „quartärer Bereich”, als öffentlich anerkannte und geförderte „Weiterbildung”, die schulische und berufliche Lernprozesse organisiert und systematisch fortsetzt;
• die „Professionalisierung”, dh den Trend zur hauptberuflichen, eine spezielle akademische Ausbildung erfordernden Tätigkeit in der Erwachsenenbildung als Voraussetzung und Folge der zuvor beschriebenen tendenziellen Entwicklungen.

Weitgehend ausgeklammert werden dagegen:
• das Konzept einer „Synthese beruflicher und politischer Bildung”, das die Differenz von „Demokratisierung” und „realistischer Wende” aufzuheben tendiert und zwischen qualifikatorischen und emanzipatorischen Ansprüchen vermitteln will;
• die „Demokratisierung”, verstanden sowohl als Ziel und Methode politischer Erwachsenenbildung sowie als Beitrag der Erwachsenenbildung insgesamt zur Verwirklichung von größerer Chancengleichheit durch das Angebot kompensatorischer und emanzipatorischer Lernprozesse.

Ansätze inhaltlicher Demokratisierung, die einst durch Tietgens‘ Initiative zur Berücksichtigung der Interessen von Zielgruppen wie z.B. der Industriearbeiter im VHS-Angebot führen sollten, bleiben unberücksichtigt. Ganz zu schweigen davon, daß die für den Bereich von Kultur und Bildung immer wieder aufgestellte Forderung nach einer Demokratisierung der Institutionen und nach Mitbestimmungsrechten für VHS-Mitarbeiter überhaupt keine Beachtung mehr findet, obwohl sie auf dem letzten Volkshochschultag- schon damals gegen den Willen zahlreicher Verantwortlicher- eine zentrale Rolle spielte(9).
Aber damit sind wir an einem Grunddilemma der Auseinandersetzung angelangt: Findet schon die theoretische Diskussion über Veränderungen des Volkshochschulangebots kaum oder nur begrenzt ihren Niederschlag im tatsächlichen Angebot, so ist der Durchbruch zu einer Analyse noch nicht gelungen. Vorstellungen von einer zukünftigen Gesellschaft und der darauf ausgerichteten Institution fehlen, so daß die Erwachsenenbildung im Gefolge ihrer realistischen Wende sich mehr und mehr an kurzfristigen Interessen und vordergründigen Zielen der Gesellschaft orientiert hat. Die seit der Umbruchsituation Mitte der sechziger Jahre entwickelten bildungspolitischen Leitziele und das noch in der letzten Ausgabe von Volkshochschule im Westen entwickelte Selbstverständnis der Volkshochschulen zeichnen sich nach wie vor dadurch aus, daß eine Ableitung von Normen aus einer Gesellschaftstheorie für die Erwachsenenbildung abgelehnt wird. Gewiß, die institutionellen Rahmenbedingungen erschweren es den Volkshochschulen, eine verbindliche Theorie zu entwickeln. Es ist deshalb leichter, verschiedene Konzeptionen zu erlauben und zu fördern. Die häufig beschriebene institutionelle Liberalität der Volkshochschulen, jener von Meissner immer wieder zitierte „vollzogene Pluralismus”, ist das Ergebnis dieses Theorieersatzes.

Erwach­se­nen­bil­dung zwischen Bildungs­re­form und wirtschaft­li­cher Rezession

Es darf nicht übersehen werden, daß eine solche Zurückhaltung nur vor dem historischen Hintergrund der unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und Entwicklungen nach 1945 zu verstehen ist: Verspätet haben die Volkshochschulen die öffentliche Anerkennung und die bildungspolitische Unterstützung für eine Umorientierung erhalten, die sich in den fünfziger Jahren abzeichnete und durch empirische Untersuchungen und gesellschaftskritische Theorienansätze gestützt wurde. Erst mit der einsetzenden Bildungsreform, der Einsicht in den Investitionscharakter der Bildungsfinanzierung und mit der publizistisch verbreiteten Annahme eines erhöhten Qualifikationsbedarfs begann der Durchbruch zur öffentlichen Anerkennung und zur Integration in das Bildungssystem. Nur scheinen die Volkshochschulen das sich in den letzten Jahren erneut verändernde Verhältnis von wirtschaftlicher Entwicklung, Qualifikationsstruktur und Bildungspolitik zu spät zu registrieren: Das bildungspolitische Interesse an der Weiterbildung wird durch die Einsicht abgeschwächt, daß der Weiterbildungsbereich unter den gegenwärtigen kapitalistischen Bedingungen offensichtlich nicht in der Lage ist, als eine Art Zauberformel die Problematik von Qualifikationsanforderungen und Arbeitsmarkt zu lösen. Nur der ungeheure Nachfragedruck vermag das zunehmend sichtbar werdende eklatante Mißverhältnis zwischen dem Selbstverständnis im Gefolge der „realistischen Wende” und der Realität von heute zu verschleiern.
Die so angedeutete Auseinandersetzung über Koppelung und Entkoppelung von Bildungs- und Beschäftigungssystem, insbesondere von Bildungssystem und Berechtigungswesen, hat die Volkshochschulen noch nicht erreicht. Sind nicht die Volkshochschulen besonders stolz darauf, mit der sogenannten realistischen Wende in der Weiterbildung und der Einführung des Zertifikatsystems die Koppelung zwischen Bildungssystem und Berechtigungssystem erreicht zu haben, die sich in Zeiten einer Wirtschaftskrise bildungspolitisch inzwischen als reaktionär erweisen muß? Angesichts einer solchen Entwicklung fragt Hellmut Becker mit Recht: „Sitzt die Volkshochschule wieder zwischen den Stühlen? Sie führt Zertifikate ein in einem Augenblick, in dem Wissenschaft und Praxis die Zensurengebung in ihrer Fragwürdigkeit erkennen; sie will Berufsvoraussetzungen in einer bildungspolitischen Situation vermitteln, in der die meisten Bildungseinrichtungen immer mehr zu Vermittlern einer allgemeinen Grundbildung werden, die ihre spezielle Ausprägung erst am Arbeitsplatz selbst erhält. Übernimmt die Volkshochschule die schulischen Charakteristika und schulischen Aufgaben gerade in dem Moment, in dem diese Charakteristika und Aufgaben offensichtlich gescheitert sind?“(10)
In dieser durch die ökonomische Krise bewußt gewordenen Situation stellt sich die Frage, ob die vorhandenen Weiterbildungsmodelle vom Deutschen Bildungsrat bis hin zum Strukturplan Weiterbildung des Deutschen Volkshochschulverbandes offen und flexibel genug sind, einer auf die Bedürfnisse der Gesellschaft ausgerichteten, nicht kurzfristigen Kapitalinteressen folgenden, sich gesellschaftskritisch und emanzipatorisch verstehenden Erwachsenenbildung überhaupt noch Raum zu geben, oder ob für sie das zutrifft, was Kritiker dem Modell der „education permanente” generell vorwerfen: ein „Verführungsmechanismus zur Einkapselung der Erwachsenenbildung in ein technokratisches, auf Anpassung ausgerichtetes Bildungssystem zu sein“(11).
Zwar formulierte schon das Gutachten des Deutschen Ausschusses von 1960, daß derjenige im Sinne der Erwachsenenbildung gebildet ist, „der in der ständigen Bemühung lebt, sich selbst, die Gesellschaft und die Welt zu verstehen und diesem Verständnis gemäß zu handeln”, aber wie sich aus dem weiteren Zusammenhang jenes Gutachtens ergibt, wurde dieses Handeln individualistisch verstanden. Auch im Strukturplan des Deutschen Bildungsrates ist zu lesen, daß Weiterbildung darauf abzielt, „den Menschen zur bewußten Teilhabe und Mitwirkung an den Entwicklungs- und Umformungsprozessen aller Lebensbereiche zu befähigen und ihm dadurch die Entfaltung seiner Person zu ermöglichen” (Strukturplan, S 52).

Mit dem Ende der Reformillusionen und bei den unlösbaren Widersprüchen der kapitalistischen Bildungsplanung müssen die überwiegend individualistischen Bildungsvorstellungen überprüft und auf die Veränderungsprozesse der Gesellschaft ausgerichtet werden. Ein solcher Versuch, der die Funktion der Weiterbildung auf die Bedürfnisse der Gesellschaft hin definiert und die Unverzichtbarkeit ihrer gesellschafts-kritischen Aufgabe erklärt, wird auch aus einem ganz pragmatischen Grund notwendiger denn je. Denn angesichts der Haushaltsdefizite wird man in den Länder- und Gemeindeparlamenten den Rotstift nicht nur bei den sogenannten freiwilligen Leistungen ansetzen, sondern auch vor Kürzungen in gesetzlich abgesicherten Bereichen nicht haltmachen. Nur eine eindeutige, öffentlich-legitimierte Aufgabenbestimmung der Volkshochschule, die die sozialen Bedingungen der Realisierung ihres Gesellschaftsverständnisses mit be-rücksichtigt, wird in Zeiten der Tendenzwende verhindern können, daß die Volkshochschule möglicherweise zu einer Anstalt resignativer Anpassung an jeweils herrschende Gewalten wird, daß sich jene Kräfte durchsetzen, die eine Demokratisierung der Weiter-bildungseinrichtungen für ebenso unsinnig halten wie eine Demokratisierung der Wirt-schaft, Schulen und Kasernen.

Politische Neutralität, aber nicht politische Abstinenz der VHS

Bei der Verwirklichung einer solchen Aufgabe sind die Volkshochschulen als Zentren der öffentlichen Weiterbildung an die Verfassung ihrer kommunalen Träger gebunden; Verfassungen, die den Anspruch erheben, die Pluralität der Gesellschaft mit allen ihren Gruppenrichtungen und Parteien zu repräsentieren. Diese Bindung an den pluralistischen Anspruch der Gesellschaft wird häufig zu einseitig mit der Verpflichtung zur politischen Neutralität der Volkshochschulen verbunden, weil übersehen wird, daß auch die Volks-hochschule als Institution gehalten ist, Partei zu ergreifen für die demokratische Verfassung und die in ihr zum Ausdruck kommenden Wertungen und Normen. So hat die VHS wegen des Gleichheitsgebots des Grundgesetzes sich auch besonders derjenigen anzunehmen, die aufgrund der realen Situation dieser Gesellschaft benachteiligt sind. Nur so kann sie dazu beitragen, die geforderte Chancengleichheit herzustellen.
Aus einem solchen Aufgabenverständnis der Volkshochschulen ergibt sich, daß sie zu wichtigen Ereignissen nicht schweigen darf. Sie hat die Pflicht, in der Öffentlichkeit Konfliktzusammenhänge aufzugreifen und darzustellen, indem sie den Betroffenen Gelegenheit zur Information und Diskussion gibt. Dieses Aufnehmen von aktuellen Problemen bedeutet kein Sich-Einmischen, sondern erwächst aus der aufklärenden Funktion, die die VHS als Stätte zur Einübung demokratischen Denkens und Handelns wahrzunehmen hat und die deshalb einen Verzicht auf Kritik an den Diskrepanzen zwischen Verfassungsnormen und der Verfassungswirklichkeit nicht erlaubt. In diesem Auftrag liegt eine große Chance der VHS, sich als Ort der Versachlichung politischer Auseinandersetzungen gerade in einer Zeit zunehmender politischer Emotionalisierung zu profilieren. Auch wenn sie sich mit solchen Intentionen ins Schußfeld unterschiedlicher Interessen begibt und Konflikte nicht zu vermeiden sind, sollte die Volkshochschule zu mehr Risikobereitschaft neigen und als ein Ort kritischer Herausforderung wirken.

Die etwa in Bürgerinitiativen signalisierten Funktionsstörungen im politisch-administrativen System öffnen gerade im kommunal-politischen Bereich ein großes Feld, um den demokratischen Prozeß aufrecht zu erhalten. Als eine unabhängige, zwischen den unterschiedlichen Interessen vermittelnde Institution könnte die Volkshochschule zur Versachlichung der Auseinandersetzungen beitragen, die Fähigkeit zur kritischen Informations-verarbeitung bei den interessierten Bürgern fördern und damit ein umfassendes politisches Problembewußtsein bei großen Teilen der Bevölkerung erzeugen. Hier bestände auch für den kommunalen Träger der VHS die Möglichkeit, seine Institution als engagierten Mittler zwischen den sich widerstreitenden Positionen einzusetzen und durch sachliche, umfassende und öffentliche Informationen zu Differenzierungsprozessen bei Bürger-initiativen, Arbeiterinitiativen, Selbsthilfeorganisationen oder Stadtteilprojekten beizutragen.
Um die Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Kontrolle zu stärken und die Gefahr
der Verkrustung von Parteien, Parlamenten und Verwaltungen abzuwenden, die den Hintergrund für die Kritik durch einzelne bildet und die Legitimation für die Bürgerinitiativen liefert, hat die Volkshochschule unter Wahrung liberaler Grundsätze gegensätzliche Positionen zu Worte kommen zu lassen und Entdemokratisierungsprozesse zu bekämpfen. Dabei wäre es zweifelsohne auch eine Aufgabe der Volkshochschule, gerade im Interesse des kommunalen Trägers die berechtigten Ansprüche von Bürgerinitiativen mit breiter Basis von den teilweise elitären, antidemokratischen Initiativen weniger Bürger mit Einfluß zu unterscheiden, die die Gesellschaft mehr gefährden als jene angeblich „roten Kaderschmieden”, die nicht nur angepaßte Lernfabriken und Dienstleistungs-betriebe für kurzfristige Interessen sein wollen, sondern auch zu selbstverantwortlichem Handeln in allen gesellschaftlichen Bereichen beizutragen hoffen.

1 Vgl Volkshochschule im Westen, 511976, vor allem die Aufsätze von Kurt Meissner, Volkshochschule zwischen Anpassung und Erneuerung (S 195–198); Hellmut Becker, Weiterbildung zwischen Schule und Entschulung (S 198–201) und Helmuth Dolf, f, Die Volkshochschule in Zahlen, Versuch einer Leistungsbilanz (S 201-203). In VHS im Westen, 4/1976, vorallem: W. Strzelewicz, Stellung und Aufgabe der Volkshochschule- 1966 und 1976 (S 147—150); H. Tietgens, Veränderungen im Angebot der Volkshochschulen (S 150—153).
2 Es ist in diesem Rahmen nicht möglich, auf einzelne Beispiele einzugehen. Wir verweisen deshalb auf die Dokumentation der Fachgruppe Erwachsenenbildung im GEW-Bezirksvorstand, Frankfurt/M, Mai 1976.
3 D. Sauberzweig, Thesen zur Kommunalen Volkshochschule, in: Der Städtetag, 411975, S 187; vgl dazu auch die Entschließung des Präsidiums des Deutschen Städtetages vom 29.4. 1976 zum „Aufgabenbereich der Volkshochschule”.
4 Vgl das Gutachten des Nordrhein-Westfälischen Städte- und Gemeindebundes vom 30. zum Problem der Streichung von Veranstaltungen der Volkshochschule Bergisch-Gladbach.
5 Vgl Landtag NRW, 8. Wahlperiode, Kleine Anfrage 452 der Abgeordneten Dammeyer, Schwier, Grätz und Büssow (SPD).
6 Zu dieser Praxis ließen sich zahlreiche Beispiele anführen. Wir verweisen hier nur auf zwei in jüngster Zeit überregional bekanntgewordene Eingriffe: In Köln konnte der VHS-Direktor und Vorsitzende des größten Landesverbandes nicht verhindern, daß eine Ausstellung und Diskussion zur geplanten Stadtautobahn vom Kulturdezernenten abgesetzt wurde (vgl Frankfurter Rundschau, 8.10.1976: Kritik aus VHS-Kreisen war unerwünscht).
Im Sozialmagazin, Heft 1/1976, wird auf S 47 ff beschrieben, wie das Konzept einer modernen VHS-Stadtteilarbeit in Dortmund gestoppt wurde. Vgl dazu als Ergänzung die Darstellung in VHS im Westen, 5/1976.
7 Vgl VHS im Westen, 411976, 5 152.
8 H. Feidel-Mertz, Erwachsenenbildung seit 1945, Köln 1975, S 8/9.
9 Vgl hierzu zB das 1973 vom Deutschen Städtetag vorgelegte Papier „Bildung und Kultur als Element der Stadtentwicklung” und das Heft 1/1973 von VHS im Westen zur Demokratisierungsproblematik.
10 Vgl VHS im Westen, 511976, S 199.
11 So z.B. die niederländischen Kritiker der education permanente und Autoren der Denkschrift über Funktion und Zukunft der Erwachsenenbildung, in: Gesellschaftskritik durch Weiterbildung, Beiträge zur EB, Bd 18, Osnabrück 1970, S 11.

nach oben