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Die nächsten vier Jahre

Aus: vorgänge Nr.24 (Heft 6/1976), S.6-9

1.

Die Wahl  vorüber, ihre Ergebnisse sind bekannt. Noch nicht bekannt ist (Ende Oktober), CDU/CSU gewinnt SPD-Wähler von 1972 was sich aus dieser Wahl für die Politik der nächsten Jahre ergeben kann. Ebenfalls unbekannt sind die Motive für die Entscheidungen der Wähler. Darüber kann man spekulieren- eine unbestreitbare Deutung für sie wird es nicht geben.

2.

CDU/CSU gewinnt SPD-Wähler von 1972

Das wichtigste Wahlergebnis ist, daß Hunderttausende, die 1972 die SPD gewählt hatten, jetzt für die CDU/CSU gestimmt haben. Die Opposition hat nämlich 1 500 000 Wähler gewonnen, von denen höchstens rund 300 000 neue Wähler sein können. Um mehr ist die Wahlbeteiligung nicht gestiegen. Die beiden Regierungsparteien haben zusammen über 1210 000 Stimmen verloren.
Man sollte nun nicht, wie dies enttäuschte Demokraten schon manchmal taten, von unorientierten, von verwirrten, kurz: von „dummen” Wählern reden. Damit entzieht man sich nur grundsätzlich die Basis, nämlich die Grundlage jeder demokratischen Ordnung. Man behauptet damit obendrein, daß auch der Wahlsieg von 1972 auf der „Dummheit” der Wähler beruht habe. Nein, man muß sich schon etwas mehr um mutmaßliche Wählermotivationen bemühen. Dabei kann es nicht ohne Selbstkritik abgehen. .
Zunächst: Ganz überraschend ist der Umschwung nicht gekommen. In dieser Zeitschrift ist von vielen Seiten wieder und wieder seit Mitte 1973 auf die „Entzauberung” der Wähler von 1972 hingewiesen worden. Leicht vergessen wird auch, daß der agitatorische und parlamentarische Angriff der Opposition auf die Regierung unmittelbar nach der Regierungserklärung von Brandt mit ihren versöhnlichen Tönen begann, und daß dieser Kampf sich ständig verschärfte, bis er zu einer der Ursachen für Brandts Rücktritt wurde. Die Länderwahlen zeigten den Weg, den die Wähler gingen. Die Redewendungen von der Tendenzwende, der neuen Restauration und dem Rechtsruck beruhten nicht auf ängstlichen Einbildungen, sondern kennzeichneten eine reale Entwicklung.

3.

Motive der Wechsel­wähler

Im Einzelnen gab es sicherlich eine Menge von Anlässen, um Wähler anzuregen, dieses Mal CDU oder CSU zu wählen. Da sind konservative Emotionen gegen Wortradikalismus und neue Schulformen. Da gibt es Unzufriedenheiten aller Art, über Steuern, über Personalpolitik, über Geldskandale und „Filzokratie” . Solche Anlässe wird es immer geben, und sie gelten für alle Parteien. Entscheidend ist jedoch, was die Disposition der Wähler dafür geschaffen hat, aus solchen Anlässen die Konsequenz zu ziehen, eine andere Partei zu wählen.
Es soll hier nicht erörtert werden, wie weit der Wahlslogan der Opposition Wähler positiv motiviert hat. Er ist primitiv und emotional genug, um für breite Wählerschichten als letzter Anstoß zur Entscheidung zu wirken. Wichtiger aber erscheinen die folgenden Verstimmungsursachen.

„Mehr an Demokratie wagen”?

Die Wähler waren enttäuscht über die Diskrepanz zwischen dem innenpolitischen Programm der Koalitionsparteien und den mageren Ergebnissen. Das kann man den Wählern nicht vorwerfen, denn ihre Erwartungen waren nicht zu hoch- wenn man von den Hoffnungen absieht, jetzt würde unmittelbar der Marsch in den Sozialismus beginnen. Umgekehrt war es! Davon, mehr Demokratie zu wagen, war keine Rede mehr. Sowohl bei der Durchführung des Radikalenerlasses, auch in den SPD-regierten Ländern, wie in der Bundesgesetzgebung wurde immer weniger Demokratie gewagt. In der Angst vor Mißbrauch der Freiheit durch Terroristen und in der Angst, zu Helfershelfern solcher Elemente gestempelt zu werden, kam es zu überstürzten Gesetzesbeschlüssen über den Verteidiger-Ausschluß, über Untersuchungshaft, über die Strafbarkeit von Gewaltanpreisung in Literatur. Nur mit knapper Not vermied man die vorgeschlagene Überwachung der Gespräche zwischen Verteidigern und ihren Mandanten. Man denke aber auch an den obrigkeitsstaatlichen Charakter des Hochschulrahmengesetzes. Enttäuschung bei den Wählern ist also durchaus verständlich.

Lauheit inbezug auf Reformen
Die Haltung der Regierung inbezug auf Reformpolitik war alles andere als begeisternd. Von dort kamen kaum Anstöße. Dreieinhalb Jahre vergingen, bis es zur Reform des Eherechts kam, ohne daß man einen Grund für diese Verzögerung der Reform einsehen kann. Bei der Reform von § 218 überließ es die Regierung den Fraktionen, aktiv zu werden. Sie ließ sich stoßen, statt voranzugehen. Auch vermied sie es während des ganzen Verfahrens, den demokratisch entscheidenden Punkt der Reform energisch zu vertreten, nämlich den Anspruch der Frauen, von behördlicher- überwiegend männlicher- Bevormundung befreit zu werden.

Uneinigkeit in der Koalition
Als politische Schwächezeichen wirkten die Widersprüche zwischen den Koalitionsparteien. Das gilt sowohl für den Komplex Mitbestimmung wie für die Reform der Berufsausbildung. Die Art und Weise, wie Minister Friderichs hierbei seinen Kollegen Dohnanyi und später Rohde öffentlich bloßstellte, war genau so unerfreulich wie die Grobheiten führender sozialdemokratischer Politiker über das Kirchenpapier der F.D.P. Reformen und Reformansätze wurden also auch durch die Koalition selbst und nicht nur durch die Opposition im Bundesrat torpediert.

4.

Defensive Einstellung

Oft schien die Regierung vor der Opposition zurückzuweichen oder ihr nicht deutlich zu begegnen. Ein Beispiel hierfür ist die mangelnde Reaktion des Bundeskanzlers auf den Erpressungs-(oder Bestechungs-) brief maßgeblicher Unternehmerverbände, in dem die Einstellung von Lehrlingen eindeutig davon abhängig gemacht wurde, daß die Regierung ihren Gesetzentwurf fallen ließ. Wo blieb da die deutliche Antwort? Die Regierung ließ sich auch oft zu erheblichen Verschlechterungen von Gesetzentwürfen herbei, wenn man gut oder sogar besser auf die ganzen Vorlagen hätte verzichten können (auf das Hochschulrahmengesetz zum Beispiel). Mehr oder minder genötigt, wirkten hierbei die Regierungsfraktionen mit. Oft hatte man das Gefühl, es erschiene ihnen wichtiger, ein Gesetz zu produzieren, als eine Reform durchzuführen.
Sachlich war die Regierung im weitesten Ausmaß ihrer Politik (Europa-Ost-West-Verständigung-Polenvertrag-Inflationsbekämpfung, um nur einiges zu nennen) erfolgreich und gerechtfertigt. In dem Wie ihres Handelns waren Regierung und insbesondere die SPD-Fraktion weniger glücklich. Allzu oft waren sie in die Verteidigung gedrängt, und der daraus entstehende Eindruck der Schwäche wirkte abträglich.

Konfrontation unerwünscht?
Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch die Ablehnung von Konfrontationspolitik. Im Kampf gegen Strauß und seine Hetzpolitik vergaß man völlig, daß seine Strategie, durch rücksichtslose Konfrontation Erfolge anzustreben, durchaus systemkonform ist. Scharfe Gegenüberstellungen sind ein unverzichtbares Element des demokratischen Systems. Natürlich kann man Exzesse dieser Konfrontation- Lügen, Beleidigungen und Verleumdungen- bedauern, und keineswegs ist es gerechtfertigt oder auch nur erfolgversprechend, dasselbe zu tun. Die Antwort auf Konfrontation ist jedoch nicht, diese als undemokratisch, als die Grundwerte zerstörend abzulehnen, sondern sich durch sie besonders günstig zu profilieren. Auch sollte man nicht übersehen, daß das von Strauß & Co. angewandte Mittel der energischen Konfrontation erfolgreich war. Das hat sich bei den Landtagswahlen in Hamburg, Hessen und Baden-Württemberg gezeigt und wurde durch die Ergebnisse der Bundestagswahl bestätigt. Während der durchschnittliche Wählergewinn der CDU/CSU rund 9,5 Prozent betrug, erreichten die beiden Parteien in Hessen ein Mehr von 13 Prozent, in Rheinland-Pfalz 11 Prozent und in Bayern 11,5 Prozent.
Auch hier sollte man sich nicht damit beruhigen, daß diese Wähler schlecht unterrichtet und verhetzt waren. Daß Wähler emotional reagieren, nicht oder auch nur vorwiegend rational entscheiden, mag eine Schwäche der Demokratie sein. Immerhin hatten diese Wähler 1972 sowohl aus emotionalen wie aus rationalen Motiven den Kräften für Freiheit, Frieden und Fortschritt eine ausreichende Mehrheit gegeben.

5.

Der Blick in die Zukunft zeigt nur Trübes. Der Zwang, sich in der Politik auf technologische „Machbarkeit” zu beschränken, liegt klar zutage.

Folgen einer Minimehrheit
Eine Regierung mit so kleiner Bundestags-Mehrheit und ohne Mehrheit im Bundesrat kann keine merkbaren, begrüßenswerten oder der Opposition verhaßten Änderungen herbeiführen. Auch die Arbeit im Parlament, seinen Ausschüssen, im Ältestenrat wird höchst beschwerlich werden. Die Tätigkeit der Regierung und ihrer Minimehrheit wird sich darauf beschränken müssen, das durch-zuführen, was notwendig ist. Selbstverständlich wird es auch Streit darüber geben, was denn konkret „notwendig” ist, aber eine Regierung Schmidt/ Genscher kann nur eine konservative Politik treiben, weil sie schon froh sein muß, wenn wirtschafts- und sozialpolitisch das konserviert wird, was erreicht wurde.
Die Regierung wird nach wie vor verpflichtet sein, die Erwerbslosigkeit zu vermindern, ohne daß gleichzeitig die Preise steigen. Ohne Aussichten auf steigende Preise und/oder sinkende Kosten wird es wenig privatwirtschaftliche Investitionen geben, die Arbeitsplätze schaffen. Dies kann die Regierung nicht durch zusätzliche öffentliche Investitionen ausgleichen, weil dafür die Mittel fehlen. Zudem ist die Koalition auch finanzpolitisch in der Klemme, weil sie das Kunststück fertigbringen soll, ohne Steuererhöhungen die in der Zeit der schlechten Konjunktur entstandene Verschuldung abzubauen. Bei einer solchen Ausgangslage kann keine Regierung ohne ausreichende Mehrheit konstruktive Wirtschaftspolitik machen. Die Koalitionsregierung kann es nicht, und eine Regierung Kohl/Strauß/Dregger erst recht nicht!

Verzichtspolitik
Man muß sich klar darüber sein, was alles nicht geht, damit man nicht weitere Enttäuschungseffekte ausbaden muß. Reformpolitik kann sich die Regierung nicht leisten, auch wenn sie gemeinsame Reformziele von Bedeutung hätte. Die meisten Reformen kosten Geld, und das kann bei der heutigen Situation nur durch Umschichtung im Haushalt frei gemacht werden. Praktisch dürfte es aber unmöglich sein, solche Mittel, zB. durch Abbau von Subventionen, verfügbar zu machen.
Eine Politik, die angeschlagene Rechtsstaatlichkeit wieder herzustellen (Rücknahme gewisser Gesetzgebungsakte der letzten Jahre), verspricht ebenfalls keinen Erfolg. Der Bundesrat, dem ja dies alles damals nicht weit genug ging, wird keine Demontage zulassen. Wie die Regierung bis 1980 durchhalten wird, ist zweifelhaft. Bestimmt heißt es, auf alles zu verzichten, was politisch kontrovers ist. Im besten Fall wird in den nächsten Jahren wirtschaftspolitisch verwaltet, nicht aber richtungspolitisch regiert werden.

Koalitionsstreit
Im besten Falle,- wenn nämlich Einigkeit der Koalition gewahrt wird. Da bestehen Zweifel. Im Zusammenhang mit dem Haushalt, auch im Zusammenhang mit dem Arbeitslosenproblem werden die Steuerwünsche von Industrie, Handel und Banken hervortreten. Minister Friderichs hat da schon vorgearbeitet. Sachlich gesehen ist keine Garantie dafür zu sehen, daß die eventuell bei den Steuern gesparten Mittel so investiert werden, daß neue Arbeitsplätze entstehen. Das wird zwar gesagt- aber wird es auch so kommen? Die Führung der SPD, die ja immerhin fünfmal so viele Wähler vertritt wie die F.D.P., wird sich in nicht allzu langer Zeit entscheiden müssen, ob und wann sie die Koalitionsfrage stellen soll. Schließlich ist auf längere Sicht zu entscheiden, wie man wieder zur Mehrheit vön 1972 kommen soll, wenn durch eine einseitige Interessenpolitik eines Flügels der F.D.P. der SPD zu Hunderttausenden die Anhänger und Wähler fortlaufen. Selbst eine Koalition von CDU/CSU mit der F.D.P. ist nicht so stark, daß die Opposition zur völligen Ohnmacht verdammt wäre. Und was langfristig für die deutsche Politik das Richtige ist, kann niemand wirklich wissen und entscheiden. Es könnte sein, daß nach einer Periode geduldiger Versuche, die Einigkeit der Koalition zu retten, eine Phase der Opposition für die SPD gesund ist.

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