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Thema: Die Rolle der Kultur 23

vorgängevorgänge 2412/1976Seite 23-24

Editorial, Aus: vorgänge Nr.24 (Heft 6/1976), S.23-24

Editorial

Was die Rolle der Kultur angeht, so reicht sie hierzulande seit einigen Jahrzehnten vom Skeptizismus eines Erich Kästner (,‚Die Zunge der Kultur reicht weit! Sie kann uns am-  … Sie ist imstand und tut’s“) über A. Paul Webers „Hoppla Kultur!” bis zu dem bösen, die „Kultur” aber wenigstens ernstnehmenden Ausspruch eines späteren NS-Präsidenten einer „Reichsschrifttumskammer” (Hanns Johst) :„Wenn ich das Wort Kultur höre, entsichere ich meinen Revolver.“
Was aber die „Rolle der Kultur” trotzdem seit Jahrzehnten in unserer spätkleinbürgerlichen Gesellschaft ausmacht, das zeigt schlagend (,‚schlagend“ !) einer der unfrisierten Gedanken des polnischen Autors Stanislaw Jerzy Lec, Er notierte: „,Warum`, fragte ich einen Kritiker, ,haben Sie das Stück das epochemachende Ereignis von umwälzender Bedeutung genannt?‘ – ‚Was für ein Stück? ` fragte er zurück.”
Bei aller Hilflosigkeit der Kulturkonsumenten- der Aphorismus belegt zumindest die magische Rolle der Feuilleton-Päpste. Ob etwa Arturo Benedetti Michelangeli oder Maurizio Pollini die Sonate X des Komponisten Y so oder auch so gespielt haben, wie vielleicht die Regisseure Q oder Z, die, sagen wir, „Figaros Hochzeit” auf die Bretter, die deren Welt bedeuten, gelegt haben, soll laut Feuilletons, notabene: kritischen Feuilletons, immer noch der Inbegriff von Kultur sein. Das stimmt vielleicht. Ich selbst gestehe gern ein, daß es mich nachwievor packt, wie verschieden und je überzeugend Svjatoslaw Richter oder Geza Anda die Große Sonate Schuberts spielen oder gespielt haben; und: daß es mich freut, wenn die mit einer Badehose großgewordene Cornelia Froboess in einer Münchner Inszenierung der „Minna von Barnhelm” dem Major Tellheim zeigt, daß „weibliche Klugheit” mehr vermag als männlich(-preußische) Raison. Es gibt bei mir und vielleicht auch kaum einem Leser der Vg. einen Zweifel, daß aus dem alten Schubert und dem fast schon uralten Lessing auch heute noch mindestens so viel Funken zu schlagen sind wie etwa aus dem allerneuesten Faßbinder.
Was aber „die Rolle der Kultur” betrifft: Man mag seinen Bach bis Luigi Nono, seinen Shakespeare bis Franz Xaver Kroetz oder seinen Mathis Grünewald bis Kienholz (um nicht bei Kandinsky stehenzubleiben, dessen Retrospektive im Münchener „Haus voll Kunst”, als „Haus der Deutschen Kunst” in kulturpolitisch g r o ß e r Zeit erbaut, aber leider nicht gesprengt, ich vor einigen Tagen genossen habe …), man mag diese Leute alle lieben und verehren, mag sich außerdem für gefeit halten vor dem Überdruß monatlich wechselnder Kunstmoden-: Was sollen oder können alle diese Kulturveranstaltungen eigentlich wirklich für uns bedeuten; was sagen sie uns über unsere Lage in dieser Gesellschaft; was verschleiern sie (selbst wenn sie es ganzundgarnicht beabsichtigen); wie helfen sie uns und denen, die von Schubert und Lessing garkeine oder nur eine solche Ahnung haben, die sie einem Rattenfänger, der wiedermal Revolver entsichert, neuerdings in die Arme treibt? Also: Wie hilft diese Kultur, diese Unsumme von Kulturgut uns weiter?
Heute kann ich meinen abstrakten Monolog über die „Rolle der Kultur” unterbrechen. Er wurde- von außerhalb- unterbrochen durch ein schlimmes, böses, nein, verdammtnochmal, dummes Ereignis, das die DDR „uns” bereitet hat: der Liedermacher Wolf Biermann wurde vorgestern ausgebürgert aus dem von ihm gewählten „deutschen” Vaterland. Jetzt also singt und redet und diskutiert er im Nirgendwo. Aus der Welt eines (für ihn) sehr konkreten Berufsverbots wurde er ausgestoßen in die Welt „demokratisch kontrollierter” anonymer Berufsverbote, in der er zwar kein Lokomotivführer werden, aber ungehindert „künstlerisch” auftreten darf. Seit drei Tagen gibt es bei uns urplötzlich Tausende von kleinbürgerlichen Kultur- oder Salon-Kommunisten, die den Biermann überaus chic finden und seine Veranstaltungen goutieren; die aber kaum zu begreifen in der Lage sind, was denn dieser Biermann eigentlich sagt oder singt. Er selbst tut dagegen, was er nur kann. Was aber wird er im Ernst dagegen tun können, daß er heute zwar als ein Kulturkitzel für „Kulturbürger” erscheint, denen er gerade eben noch den „Atem der Geschichte”, spätestens übermorgen aber nur noch Überdruß vermittelt? –
Hoppla, Kultur! …
Daß . dieses Heft der Vorgänge die „Rolle der Kultur” behandelt, das hat mit dem Fall Biermann eigentlich garnichts zu tun; der kam uns lediglich in einer sehr abstrakten Reflexions-Situation zugute. Das Thema (nicht die Sache) „Die Rolle der Kultur” war unter uns Redakteuren der Vg lange umstritten und nie genau beschreibbar. Der Fall Biermann und jetzt Havemann in der DDR hat dafür gesorgt, daß wir das Thema genauer begreifen. Mir liegt nicht daran, daß es sich um DDR-Fälle handelt. In Wirklichkeit kann Wolf Biermann zwar bei uns singen, aber gewiß nicht Lehrer werden . . . Jedermann jubelt, aber kaum jemand differenziert. Duliebergott!
Wolf Biermann, sein „Fall”, hat mir für dieses Editorial das Konzept verdorben und zugleich gerettet. Was in dieser diffusen, kaum noch bestimmbaren „Leistungsgesellschaft” die Rolle der Kultur sei, ist – obwohl das zu bestimmen Aufgabe dieses Heftes ist – schwer auszumachen. Die Autoren mögen für sich sprechen. Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik, sagt – richtig – Alfons Spielhoff. Wie Kultur in einer kultursatten Stadt vermittelt werden kann, darüber macht sich der neue Münchner Kulturreferent Jürgen Kolbe Gedanken. Von Olaf Schwencke, der die notwendige Initiative für eine „Kulturpolitische Gesellschaft” ergriff, ist ein Beitrag über die Rolle der Kultur in der BRD heute verfaßt.
Das Problem dieser Initiativen scheint mir zu sein, daß, obwohl Kultur als „Sozio-Kultur” für die Massen vermittelt werden soll, immer noch mit so vielen Fremdwörtern gearbeitet werden muß, daß man nur schwer das Gesagte versteht. Gewiß: auch das Wort „Kultur” ist ein Fremdwort (wie etwa auch die Wörter Demokratie, Republik, Parlament). Es gibt, mit Th. W. Adorno zu reden, Fremdwörter, „Juden” der deutschen Sprache, die nicht übersetzbar sind, weil die Deutschen sie nur mit Mühe erlernen, Wörter aus der Fremde (1959). Es gibt aber auch Fremdwörter, die nur modisch, aber eigentlich, wenn man nachdenkt, überflüssig sind. Durch solche muß man sich in diesem Heft – hoffentlich nicht allzusehr – hindurchkauen.
Auf zwei Beiträge möchte ich besonders hinweisen: Manfred Bosch schreibt über „Arbeiterklasse und Kultur”, ein Aufsatz, der – obwohl der Autor selbst nicht DKPist ist – dem kommunistischen Standpunkt teilweise nahekommt; aber er regt dazu an, nach- zudenken, warum es diesen Standpunkt eigentlich gibt, wo er sein Fundament in der Realität hat. Von Rolf Schwendter stammt ein Beitrag über die sogenannte Jugend-Subkultur, nachdenklich machend, ob jenseits von Schubert und Lessing, aber nicht (hoffentlich nicht) ohne sie, eine neue Kultur entsteht.
Das Heft ist chaotisch, so chaotisch wie die Kultur-Szene selbst, auf der es viel Spreu gibt, aber vielleicht auch ein bißchen Weizen. Voila, lieber Leser, oder: das wär’s!
GH

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