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Xango - Kultur im Schatten

vorgängevorgänge 2412/1976Seite 96-97

Aus: vorgänge Nr.24 (Heft 6/1976), S.96-97

Xango ist in Brasilien der Heilige Hieronymus. Xango ist so beliebt, daß in Recife die Zeremonien nach ihm heißen … Xango dienen zwölf Obä, wie zwölf Apostel…
Xango steht als Synonym für den Kult der afroamerikanischen synkretistischen Reli-gionen in Brasilien, in Haiti, auf Trinidad and Tobago, den der Schriftsteller Hubert Fichte und seine Gefährtin, die Fotografin Leonore Mau, in einer großartigen Dokumentation darstellen.

Leonore Mau: Xango. Die afroamerikanischen Religionen 1, Bildband mit Texten von Hubert Fichte, 176 S, 56 Farb- und 47 Schwarzweißfotos, Leinen DM 180; Hubert Fichte: Xango. Die afroamerikanischen Religionen II, Textband, 357 S, brosch DM 24; beide S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1976.

Sie werden in keiner Religionsstatistik geführt, doch: „Die afroamerikanischen Religionen sind eine der großen religiösen Bewegungen unserer Zeit”, schreibt Fichte. Ihre Anhängerschaft soll 50 Millionen Menschen umfassen. Zum Vergleich: Nach dem Stand von 1970/72 zählte man auf der Welt 670 Millionen römische Katholiken, 295 Millionen Protestanten, 14,49 Millionen Juden, 200 bis 300 Millionen Buddhisten (außerhalb Chinas). Die afroamerikanischen Kulte (Condombl, Macumba, Caboclo in Brasilien, Vaudou in Haiti, Santeria, Xango auf Trinidad) sind Mischformen aus traditionellen afrikanischen mit katholischen, anglikanischen, protestantischen und indianischen Riten, auf Trinidad und in Puerto Rico sogar versetzt mit Vorstellungen des Buddhismus und des Islam. Vorherrschend ist das afrikanische Element, bisweilen werden sogar afrikanische Kulte völlig rein bewahrt. Sie wurden von den einst als Sklaven in die Neue Welt verschleppten Afrikanern mitgebracht und haben sich über Jahrhunderte- gegen Bekämpfung durch die christlichen Kirchen und den Staat- behauptet. So gehen die Kulte von Xango, Chango, Schango auf den des Donnergottes Shango der Yoruba in Westafrika (Nigeria) zurück, auch der Yoruba-Gott Qgun ist vertreten. Proafrikanismus und Black-Power-Bewegung geben den Kulten neuen Auftrieb. Die alten afrikanischen Götter werden mit den Heiligen der katholischen Kirche gleichgesetzt: dem heiligen Hieronymus, Sankt Michael, Sankt Georg oder der Jungfrau Maria. Wie die Anhänger der Kulte sich auch durchaus als from-me Christen fühlen: „Nach einem Gebet vor der Jungfrau Maria wandern die Menschen zum Vaudou-Heiligtum” (Textband S 127); wie auch die Kirche sich mit den Kulten zu arrangieren scheint: Fichte berichtet über die Beerdigung eines großen Zauberpriesters: „Vorher treffen die Bischöfe Dom Jose Antonio da Silva und Dom Hugo da Silveira ein: Wir stehen hier als katholische Geistliche und wollen einem Candombletempel unsere Ehre erweisen” (Textband S 61). Christentum, Islam, Buddhismus billigt man Kultur-bildung zu. Sie stehen im Licht des Interesses. Die afroamerikanischen Kulte bilden eine Kultur im Schatten. Es ist keine Subkultur, aber vorwiegend eine von den Unterprivilegierten getragene Kultur. Auch Fichte ist skeptisch: „Sie bietet kaum die Möglichkeit der Freiheit oder der Flucht für den Einzelnen. Schlaf, Sterben, Irrsinn, Liebe, Krieg, Folter, Mord, Diebstahl, Krankheit, Trunkenheit, Feste stellen begrenzte Ausbrüche, die keine Aufhebung der täglichen Unterwerfung bedeuten und dichten Systematisierungen unterliegen. Die Trance in den afroamerikanischen Religionen ist eine der wenigen Formen von Befreiung, von Freiheit” (Bildband S 7). Die Kulte fördern nicht die Freiheit des Individuums, sie sind Mittel der Macht über ihre Anhänger. „Doc” Duvalier, der verstorbene Diktator von Haiti, soll sich denn auch mittels des Vaudoukultes unbequemer politischer Gegner entledigt haben.
Hubert Fichte (Jahrgang 1935, Romancier, Hermann-Hesse- und Fontane-Preisträger) und Leonore Mau haben mehrere Jahre in Brasilien, Haiti und Trinidad verbracht. Sie konnten an Zeremonien teilnehmen. Doch ihr Bericht ist kein wissenschaftlicher. Nicht Religionsgeschichte oder Anthropologie sind ihr Thema. „Hubert Fichtes Texte versuchen eine Verbindung herzustellen zwischen Poetik und Ethnologie”, folgend einer Forderung von Levi-Strauß, heißt es im Klappentext zum Textband. Leonore Mau steuert hinreißend schöne, entsetzliche, bedrückende, aufrüttelnde Fotos bei. Nicht nur die Religion und ihre Ausübung wird beschrieben, sondern die „Kultur”, in der sie angesiedelt ist. Versucht wird die Erfassung der Gesamtheit der typischen Lebensformen der Anhängerschaft jener Kulte: Armut, Hunger, Elend, Analphabetismus, Naturkatastrophen, Weltflucht, Zeremonien. Es ist ein sehr subjektiver, menschlicher Bericht, der Text Fichtes in einer Art Collagetechnik- Zeitungsmeldungen, eigene Beobachtungen und Interviews werden ineinandergefügt. Aus Haiti, dem schon seit 1804 unabhängigen Negerstaat in der Karibik, notiert er: „Ich verstehe, was es heißt, ein ,Schwarzer` zu sein; wie viele drehen sich nach uns um und rufen: Weiße! Blancs!” Und seinem Lektor sagte er: „Ich hatte gedacht, all das Elend und die Not würden mich abstumpfen. Genau das Gegenteil ist der Fall: ich werde immer ungeduldiger, zorniger.”

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