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Ein carte­si­a­ni­scher Diskurs um Theorie und Praxis der Wirtschafts­po­li­tik?

vorgängevorgänge 2412/1976Seite 100-103

Aus: vorgänge Nr. 24 (Heft 6/1976), S. 100-103

Wirtschaftspolitik in der Umweltkrise. Strategien der Wachstumsbegrenzung und Wachstumsumlenkung. Herausgegeben von Jörg Wolff, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1974, 288 Seiten, DM 28.

Lars Gustafsson hat kürzlich die Frage aufgeworfen, wie ein in unseren Tagen entfachter cartesianischer Streit wohl aussähe, ein Begriffsstreit, der ganze Wissenschaftszweige auf den Kopf stellen und eine radikal neue Art der Annäherung an bekannte Probleme er-zwingen würde – und ob er überhaupt stattfinden könne. Jede Zeit habe ihre Diskursverbote, verbotene oder halbwegs verbotene Gesprächsthemen, Gebiete, über die nur in geschlossenen Zirkeln diskutiert wird, Begriffe, die auf Eis gelegt sind, in Erwartung anderer Zeiten. Mit Hilfe von Reservaten, Zunftregeln, mit ausdrücklichen Geboten oder Verboten werde das subtile Gleichgewicht, die Stabilität des kollektiven Denkens gewahrt. Lars Gustafsson stellte auch die Frage, wo ein solcher cartesianischer Streit stattfinden könnte und gab als vorsichtige Antwort: vielleicht bei den Volkswirtschaftlern, vielleicht bei den Marxisten, vielleicht bei den Atomphysikern. Was ein Problem der Volkswirtschaftler angeht, so nannte er deren (ziemlich) festgefügten Glauben, Arbeitslosigkeit und Inflation seien unvereinbar, weil eine allgemein akzeptierte Theorie es so will, obwohl man tagtäglich sehen kann, daß das nicht stimmt.
Gustafsson erwähnte nicht den Glauben der Volkswirtschaftler an das Wirtschaftswachstum, nicht die gängige Gleichsetzung von Wirtschaftswachstum und Wohlfahrtssteigerung, was beides auf eine festgefügte eindimensionale Theorie menschlichen Handelns zurückgeht, obwohl wir tagtäglich sehen können, daß es Grenzen des Wachstums gibt, daß Wachstum keineswegs steigende Wohlfahrt bedeuten muß, weder für den Einzelnen, noch für die Mehrheit der Bevölkerung, und daß Wachstumsprozesse in Form der Umweltschäden auch die Grundlagen zukünftigen Lebens zerstören können.

In diesem Themenzusammenhang muß ein Buch vorgestellt werden mit dem Titel: Wirtschaftspolitik in der Umweltkrise. Strategien der Wachstumsbegrenzung und Wachstumsumlenkung. Es enthält die Referate und Seminarergebnisse des 3. Symposiums für wirtschaftliche und rechtliche Fragen des Umweltschutzes an der Hochschule St. Gallen. (Die Referate und Seminarergebnisse der vorangegangenen Symposien sind dem Leser dieser Zeitschrift bereits vorgestellt worden, vgl. Vorgänge 4/73). Dieses Buch stellt nicht- um es vorweg zu nehmenden von Gustafsson avisierten cartesianischen Diskurs dar, es liefert jedoch in Teilen bemerkenswerte Ansätze hierzu.
Da ist zunächst der Beitrag von W. A. Jöhr über die „Instrumente der Wachstumsbegrenzung und der Wachstumsumlenkung”, in dem eine systematische Übersicht über die vorhandenen und denkbaren Instrumente gegeben wird und in dem eine Antwort auf die Frage nach dem „und/oder” von Begrenzung und Umlenkung des Wachstums und der entsprechenden Wahl der richtigen Instrumente versucht wird. Jöhr entscheidet sich hier-bei ausdrücklich für eine wertbezogene Analy3e, im Gegensatz zu vielen Wachstumstheoretikern, die vorgeben, wertfrei zu argumentieren, die Grundentscheidung für Wachstum aber nicht als wertbezogen anerkennen. Wie gewohnt, ist Jöhr sehr präzise in der Formulierung und Definition der Begriffe- auch im Gegensatz zu vielen Wachstumsprotagonisten, die von der Wachstumsnotwendigkeit sprechen, aber nicht sagen, was sie mit Wachstum meinen und für wen sie es meinen. Jöhrs Ausführungen sind jedoch in zweifacher Hinsicht ergänzungsbedürftig: in der Konzentration seines Themas auf ein wirtschaftspolitisches Ziel bzw. ein Aktionsfeld der Wirtschaftspolitik, gehen die Bezüge zu anderen Zielen und Aktionsfeldern teilweise verloren, die trade-offs zwischen den Aktionsfeldern und Instrumentvariablen werden nicht immer sichtbar; die logische Konsequenz seiner Argumentationskette wäre der Aufbau eines umfassenden ökonometrischen Planungsmodells. Zum anderen aber geht Jöhr von einer Vorstellung vom Staat und seiner wirtschaftspolitischen Einflußmöglichkeiten aus, an der die Marxistische Kritik nicht genagt hat. Die Verfilzung (und das teilweise Zusammenfallen) von wirtschaft-lichem Wachstumsinteresse und politischem Legitimationsinteresse muß ein Hauptaugenmerk jeder qualitativen Änderung traditioneller Wirtschaftspolitik und der Theorie der Wirtschaftspolitik sein- auf jeden Fall aber auch Inhalt und Ansatzpunkt eines cartesianischen Diskurses sein.
Der Beitrag von D. L.1Vleadows über „Das Gleichgewicht und seine Verwirklichung” ist in englischer Sprache an anderer Stelle erschienen und zu bekannt, als daß er hier noch vorgestellt werden müßte. Aber auch hier ist anzumerken, daß für ihn die Kritik der Fehleinschätzung der Funktionen und der Funktionsfähigkeit des Staates ebenfalls zutreffen dürfte.
Zwei Beiträge (E. Batschelet und H. G. Graf) sind den Problemen der Bevölkerungsbegrenzung und der Zuwanderungsbegrenzung (zweites Kapitel) gewidmet und für sich sehr lesenswert.
Für außerordentlich bedeutsam halte ich den Beitrag von H. C. Binswanger/E. Ledergerber über „Bremsung des Energiezuwachses als Mittel der Wachstumskontrolle”. Der entscheidende Fehler, so sagen sie, der traditionellen Ökonomie liberaler und marxistischer Prägung ist die Außerachtlassung der Energie als Produktionsfaktor; ihre Einbeziehung stelle sowohl die Arbeitswertlehre (Smith, Marx) als auch die subjektive Wertlehre (Walras, Neoklassik) in Frage. Da das statistische Material für die meisten Länder eine Energie-Elastizität des Bruttosozialprodukts von gleich bzw. größer als eins ergibt, d.h. der Energieverbrauch mehr oder weniger proportional zum Bruttosozialprodukt gestiegen ist, sehen die Autoren in der Regulierung des Energiezuwachses den entscheidenden Ansatzpunkt einer Politik der Begrenzung bzw. Umlenkung des quantitativen Wachstums in Richtung auf qualitatives Wachstum. Von besonderer Bedeutung muß dabei sein, daß die Bremsung des Energiezuwachses nicht zu Arbeitslosigkeit führt: wohl kann dadurch die Nachfrage nach Arbeit in der Investitionsgüterindustrie zurückgehen, „ . . . gleichzeitig wird aber die Nachfrage nach Arbeit in der Konsumgüterindustrie und bei den Dienstleistungen zunehmen, da die Arbeit ein Ersatz für die knapper werdende Ener-gie ist. Wachstumsbremsung durch Energiekontrolle ist daher Wachstumsbremsung ohne Arbeitslosigkeit” (S 111).
Berücksichtigt man – was die Verhältnisse in der Bundesrepublik betrifft – zusätzlich den außerordentlich hohen Anteil der verarbeitenden Industrie an der Erstellung des Bruttosozialprodukts (fast 10 Prozentpunkte höher als in allen anderen OECD-Ländern), so sind damit wesentliche Ansatzpunkte einer qualitativen Wirtschafts- und Strukturpolitik aufgezeigt: „Die doppelte Problematik der Energie – ihre Bedeutung als . . . Produktionsfaktor einerseits und die Gefahren, die sich aus den mit ihr verbundenen Immissionen oder der Abwärme ergeben – lassen sie als geeignete Ansatzpolitik einer Wachstumskontrolle erscheinen, ganz abgesehen von allfälligen akuten Energiekrisen, die eine zu große Abhängigkeit von der Energie außerordentlich problematisch machen” (S 116).
Die zu erwartende Kritik an diesem Vorschlag ist den Autoren klar: „An der Energiefrage scheiden sich die Geister; wer der Meinung ist, daß die Umwelt keine so rapide zunehmende Belastung mehr erträgt, wird den Energiezuwachs als zentralen Ansatzpunkt eines umweltkonformen Wirtschaftens erkennen. Wer hingegen dem quantitativen Wachstum der Wirtschaft weiterhin Priorität einräumt und dem Umweltschutz nur eine Funktion zur Dekoration des Wirtschaftswachstums zuerkennt, wird jeden Versuch zur Begrenzung des Energiezuwachses ablehnen” (S 117).
In einem Anhang attackieren Binswanger/Ledergerber die herkömmliche Praxis, eine prognostizierte „Versorgungslücke” zum Gegenstand der Energiepolitik zu machen: Nicht der prognostizierte Bedarf, sondern die ökologisch zulässige Angebotserweiterung muß der Ansatzpunkt der Energiepolitik sein“ (S 121).
Den Wertsetzungen, die den „Bedarf” bestimmen, widmet sich K. M. Meyer-Abich in seinem Beitrag, der mit dem Satz beginnt: „Die industrielle Wirtschaft arbeitet, wie die Umweltprobleme zeigen, in dem Sinne unwirtschaftlich, daß die gesamtwirtschaftlich entstehenden Kosten durch die Erträge nicht gedeckt werden” (S 126) – ein Satz, der hier weiter diskutiert werden müßte, wenn dies nicht im Zusammenhang mit den Arbeiten von K. W. Kapp und F. Vilmar in einem früheren Heft schon einmal geschehen wäre (Vor-gänge, 4/73).
Kurz, aber verständlich ist der Beitrag von J. Tinbergen über „Die drohende Erschöpfung der Energie- und Rohstoffvorräte und die sich daraus ergebenden Aufgaben”, ein Thema, zu dem sich die Gruppe um Tinbergen inzwischen ja umfassender geäußert hat.
Auf hohem theoretischen Niveau, damit aber weniger gut verständlich für den Nichtfachmann, ist der Beitrag von R. L. Frey/H. Brüngger über „Wachstumslenkung durch Infrastrukturpolitik”, der sich mit der Bedarfsermittlung, den Alternativen zum Bedarfskonzept, dem Zuteilungs- und dem Investitionsproblem auseinandersetzt. Die wesentlichen Anreize zur Befolgung einer umweltgerechten Infrastrukturpolitik sehen die Autoren (jedoch nicht ohne Selbstironie) in der Anwendung bzw. Umgestaltung des Preismechanismus: „Techniker und Planer sehen bei auftretenden Engpässen meist nur eine Lösung, nämlich diejenige, für die sie ausgebildet worden sind: bauliche Investitionen. Juristen neigen zu Verboten und Geboten, Ökonomen . . . zur Preislösung. Jede andere Lösung würden sie als Eingeständnis eigener Unfähigkeit empfinden und daher ablehnen” (S 186). Nicht alle Ökonomen allerdings würden diesen letzten Satz unterschreiben, auch nicht alle Ökonomen, die in diesem Band zu Wort kommen. Beispielsweise plädiert R. Müller- Wenk für die Mengenlösung, im Sinne der Festlegung von Umweltbelastungs-Kontingenten.
In diesem 4. Kapitel über „Infrastruktur: Prognose oder Planung” finden sich zwei weitere Beiträge, von denen der erste (A. Nydegger: „Infrastrukturpolitik und Input-Output-Ana-lyse”) hier und an dieser Stelle unmittelbar einleuchtet, während der zweite (D. Schröder: „Zwänge und Möglichkeiten staatlicher Strukturpolitik”) alles mögliche anschneidet, aber nur wenig präzise ist; interessant ist nur der Titel.
Erfreulicherweise kommen neben den Sozialwissenschaftlern auch einige Naturwissenschaftler zu Wort, A. P. Speiser: „Umweltschutz und technischer Fortschritt”, F. Vester: „Prinzip und Bedeutung kybernetischer Technologien”. Speisers Beitrag bleibt indes sehr vage. Er spricht des öfteren von fundierter Betrachtung, liefert diese. aber nicht selbst. Am Ende gibt er auf die Frage, was die Technik zum Umweltschutz beitragen könne, die Antwort „nichts”, mit dem Hinweis, die Technik sei ja nur ein Instrument in der Hand des Menschen . . .
Dagegen ist F. Vesters Beitrag ein hervorragendes Plädoyer für das Lernen aus Prinzipien lebender Systeme, eine lesenswerte Attacke gegen die fach disziplinorientierte Methode der Behandlung der Umweltproblematik, gegen das punktuelle Vorgehen, das sich in Hunderten von Beispielen belegen läßt. Entsprechend sieht er den Richtung gebenden Lösungsversuch der Umweltproblematik in kybernetischen und bionischen Ansätzen, die die Wechselbeziehungen zwischen Gebieten, das Recycling, die Kombination von Technologien bisher getrennter Bereiche, die Nutzung von Symbiosen, die Umlenkung der Arbeitskraft aus der Produktionstätigkeit in die Dienstleistungen, Organisation und Steuerungstätigkeit in Betracht ziehen.
Nimmt man die in der Natur zu beobachtenden biologischen Funktionen als Modell, so kann man nur hoffen, nicht aber mit Gewißheit sagen, daß das Krisenstadium der Umweltproblematik schnell überwunden wird, daß der Übergang von der stationären Phase über die Phase des exponentiellen und logarithmischen Wachstums in eine kybernetisch vernetzte Phase höherer Dichte rasch genug erfolgt, als daß die eintretenden Schäden überhand nehmen und unhantierbar werden. Seine Forderungen unterstreicht er mit Beispielen und konkreten Vorschlägen für den Städtebau, die Nahrungsmittelversorgung. Er warnt zugleich davor, die Lösung des Umweltproblems in Verboten und Kontrollen zu sehen. „Statt mit Vorschriften die Privatinitiative zu hemmen, sollten wir überlegen, wie man die schöpferische Kraft des Profitstrebens unserer Marktwirtschaft für den Ausweg aus der Umweltmisere einsetzen kann” (5 243). Wie dies geschehen kann, sagt Vester allerdings nicht.
Einiges dazu findet man indes im abschließenden Kapitel über Unternehmenspolitik, insbesondere in den Beiträgen von F. Kern über: „Strukturänderungen zur Wachstums-beschränkung” und R. Müller-Wenk: „Ein Vorschlag aus einzelwirtschaftlicher Sicht zur Realisierung einer umweltkonformen Wirtschaft”.
Kern macht sich Gedanken zu den Elementen einer mit einer Gleichgewichtswirtschaft kompatiblen Unternehmensstrategie und nähert sich dabei gelegentlich Vorstellungen und Vorschlägen, wie sie von H. E. Daly (Toward a Steady-State Economy, San Francisco 1973), in Weiterentwicklung der frühen Überlegungen von John Stuart Mill vorgebracht worden sind.
R. Müller- Wenk widmet sich der Entschärfung des unternehmerischen Dilemmas (Sicherung der wirtschaftlichen Zukunft des Unternehmens versus Erhaltung der natürlichen Umwelt). Interessant und weiter verfolgenswert sind seine Vorschläge einer ökologischen Buchhaltung auf einzelwirtschaftlicher Ebene, die Einführung von Umweltbelastungskontingenten, der Re-Definition von Begriffen für wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen.
Verbände man diese in diesem Band und vor allem an dieser Stelle vorgebrachten mikroökonomisch orientierten Vorschläge mit den Ideen, Vorschlägen und Modellen, die inzwischen – vor allem in den USA und in Japan – unter den Stichworten „Social Auditing”, „Sozialbilanz” entwickelt worden sind und ergänzte man sie durch verwandte Vorgehensweisen auf der makroökonomischen Ebene („Wohlfahrtsorientiertes Sozialprodukt“, „Sozialindikator“), so hätte man nicht nur eine tragfähige Perspektive für die Behandlung und Lösung von Krisenerscheinungen von Wirtschaft und Umwelt. Man hätte dann auch eine Perspektive für einen neuen wissenschaftlichen Diskurs – sicherlich nicht mit einer vergleichbaren Reichweite wie die von Descartes, aber vielleicht doch in einem Ausmaß, das Hoffnung gäbe.

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