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Bismarck und die erotische Bewegung

vorgängevorgänge 2412/1976Seite 92-94

Aus. vorgänge Nr.24 (Heft 6/1976), S. 92-94

Martin Green: Else und Frieda- die Richthofen-Schwestern. Aus dem Amerikanischen von Edwin Ortmann. Kindler- Verlag, München 1976. 346 Seiten, 36 DM.

„Schwabing, Heidelberg und Berlin sind die drei Brennpunkte unserer Untersuchung. Berlin stand für die (patriarchalische, systematische) Macht, Heidelberg für die (politische und kulturelle) Aufklärung und München für die (vor allem individuelle, aber auch politische) Revolution.” Neben diesen Hauptschauplätzen führt der englische Kulturpsychologe Martin Green (49) die Intellektuellen-Kolonien von Ascona und Taos, New-Mexico, als Brennpunkte an, im Hintergrund, alles überschattend, erscheint das Wien der Jahrhundertwende, die Metropole des untergehenden Europa. Die Städte sind aber nicht in ihrer Entität gemeint, sondern als Namen für intellektuelle Zirkel, Strömungen und Fronten, die sich dort versammeln.
Else und Frieda v. Richthofen sind Schlüsselfiguren in diesen Beziehungsnetzen, vergleichbar etwa Rahel Levin und Karoline Schlegel in der Berliner Romantik. Die beiden Töchter eines preußischen Offiziers und einer Schwarzwälderin bilden mit der dritten Schwester, Johanna, und der fröhlichen, selbstbewußten Mutter eine matriarchalische Zelle in der Garnisonswelt, in der sie aufwachsen. Greens These ist, daß sie dadurch die Distanz zur mehr oder weniger bornierten Herrenstruktur des Bismarck-Reiches gewinnen und diese aufbrechen. Damit das geschehen kann, muß freilich Kommunikation mit anderen Männern als dem Vater da sein. Frieda heiratet sehr jung einen englischen Philologen an der Universität Freiburg/Br, Ernest Weekly, dem sie im kritischen Alter von 29 mit D. H. Lawrence durchbrennt. Das Weitere ist aus Lawrences Büchern und Umkreis bekannt. Aldous Huxley und John Middleton Murry, die Taos-Kolonie, eine Art Worpswede mit Indianern, bestimmen das Leben von Frieda Lawrence und werden von ihr bestimmt. Else heiratet viel später als die Jüngere den Nationalökonomen Edgar Jaffe und wird für über sechs Jahrzehnte die grande dame der Universität Heidelberg.
Die biographischen Details, die psychoanalytischen Ergebnisse, die unzähligen Briefe, die von den beiden Schwestern geschrieben und empfangen und mitunter aufbewahrt wurden, der Klatsch, der sie umspielte, die Anspielungen auf sie in zeitgenössischen Büchern sind für Green die Fäden, an denen er sich durch das Labyrinth des elitären Denkens im Kaiserreich einen Weg sucht. Er klassifiziert nicht nach oben und unten, Schichten oder Klassen, sondern nach matriarchalischer und patriarchalischer Tendenz, Demeter und Apoll. Er bringt die Methoden der Familien- und Gruppenanalyse in die historische Dimension ein, wie es unlängst der Heidelberger Helm Stierlin in seiner Hitler-Analyse getan hat. Aber Green legt sich auf keine Methode fest, und so liest sich das Buch über weite Passagen wie eine Paraphrase zu Paul Feyerabends anarchistischer Erkenntnistheorie; und der Autor wird das von der Kritik wohl zu hören kriegen, wenn sich alles zusammenzieht, was vor zwei Jahren beim Erscheinen der englischen Ausgabe in Gesprächen sich drohend zusammenballte.
Die Schwestern stehen für zwei Möglichkeiten der „erotischen Bewegung” im noch feudalistisch aufgeputzten Industriestaat. Bismarck symbolisiert die systematische Macht. Else, die erste Studentin Max Webers (und er ihr Verehrer), wird nach der Promotion Gewerbeinspektorin in Baden. Green vergleicht ihr Wirken mit dem der Amerikanerin Florence Kelly und mit Beatrice Webb. Um sie sind Marie Baum, Marianne Weber, Gertrud Jaspers, in gewisser Weise Ricarda Huch, um die etwa Gleichaltrigen zu nennen; aber es gibt eine ganze Reihe heute tätiger Sozialwissenschaftlerinnen, die aus dem Umkreis von Else Jaffe kommen.
Neben Frieda Lawrence hat man sich vor allem Fanny v. Reventlow zu denken, die Erich Mühsam bewundert hat, Isodora Duncan, Alma Mahler-Werfel, Lou Andreas-Salome und ein weiter Kreis temporärer und verhinderter Schwabinger.
Würde Greens Ansatz aufgegriffen, die Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts an Frauengestalten statt an Männerfiguren zu orientieren, stünde uns manche neue Einsieht zu Gebote, man denke nur an die Frauen um die zeitweiligen Schwabinger Lenin und Hitler. Aber natürlich waren Schwabing und Heidelberg nicht weit genug auseinander, um nichts voneinander zu wissen. Die Studenten fluktuierten, darunter eine große Zahl Amerikaner, Russen, Polen und osteuropäischer Juden, und die Professoren zogen um. Edgar Ja f f e, Elses Ehemann, der Max Weber das Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik verschaffte, das aus der Entwicklung der Soziologie in Deutschland nicht wegzudenken ist, wurde 1918 Finanzminister Kurt Eisners in der ersten republikanischen Regierung. Max Weber beschimpfte sie als verantwortungslose Literaten; aber auch seine Heidelberger Studenten Ernst Toller und Dr. Eugen Levine werden revolutionäre Führer. Wäh-rend der langjährige Freund Georg v. Lukacs – mit Ernst Bloch, Emil Lask, Gustav Radbruch, Helmuth Plessner u.a. ein Heidelberger Hauptdiskutant- in Budapest kommunistischer Volkskommissar wird.
Martin Green führt mit Recht die Rezeption Webers durch Talcot Parsons in Amerika an; aber um die Heidelberger Ausstrahlung ganz zu fassen, muß man an Windelband und Rickert, an Troeltsch denken. Es war der erneuerte Kantsche Kritizismus, der die Revolution bis nach Ostasien vorbereitete, und die Universität zu einem liberalen Zentrum machte. Max Weber war eine Konsequenz davon, und, wie der Vergleich mit dem weniger disziplinierten Bruder, Alfred Weber, zeigt, eine sehr zurückgenommene Möglichkeit dieses Denkens. Wie dem auch sei, Universitäten leben als Kollegien, nicht als Schauplätze einzelner, und ich erinnere mich sehr gut an die Erzählung Alfred Webers über den Niedergang der Fakultät. Frau Ja f f e, eine bezaubernd nymphischschmale Sechzigerin, bestätigte ihn durch ihr Zuhören.
Für Schwabing führt Martin Green Otto Groß als spiritus rector vor. Er stammte aus Graz und war das Problemkind des Begründers der Kriminalistik, Hanns Groß, Es erscheint glaubwürdig, wenn Green die Entwicklung des Sohnes zum Psychiater und Psychopathen gleicherweise auf den Konflikt mit dem Vater zurückführt. Der Alte insistierte auf Gesundheit dermaßen, daß er alle Degenerierten, weil Bestrafung sinnlos, nach Südwestafrika deportieren wollte. Vielleicht wäre das, im Nachhinein betrachtet, für die Weißen in Afrika gar nicht so schlecht gewesen; aber sicherlich war es die Art von Gesundheitspolitik, die sich mit der Behandlung von Dissidenten in den totalitären Staaten um 1930 durchsetzte. Der Sohn, in früher Beziehung mit Freud und Jung psychoanalytisch gebildet und dann von beiden verleugnet, bäumte sich gegen solch patriarchalische Arroganz auf, indem er bald die Gerechtigkeit der gesellschaftlichen Sanktionen auf den Vergeltungstrieb zurückführte. Übersensibilität, gefühlsbetonter Extremismus, gestillt durch Kokain und Frauen, so beschreibt Green die Verfassung von Otto Groß. Aber: er brachte die Psychoanalyse als eine Waffe zur sozialen Emanzipation in das Gewirr der Motivationen und Präsentationen, die Schwabing vor dem Ersten Weltkrieg ausmachten. In der „Kosmischen Runde” mit Ludwig Klages (,‚Der Geist als Widersacher der Seele“) und Karl Wolfskehl zusammen, Kandinskys Kunsttheorien vorgreifend, mit Erich Mühsam und Gustav Landauer wohl vertraut, waren die Frauen die Stärke von Groß – und eben auch die beiden Schwestern –, während man von Max Weber und D. H. Lawrence eher sagen muß, daß die Frauen ihre Schwäche waren. Groß predigte die Selbstbefreiung als ersten Schritt zur sozialen Befreiung, blieb nicht Arzt, wie Freud forderte, und traf damit auf die Vorstellungen des politischen Anarchismus der Kropotkin, Landauer, Mühsam. Ist die Anarchie, die Ohn-Herrschaft, erst in den primären Beziehungen gegenseitig hergestellt, wird die Gewaltordnung der wenigen über die Vielen sich nicht halten können. Insofern war Groß ein echter Anarchist; aber realisiert hat er die Anarchie nicht in der für Ascona geplanten Universität, sondern in den Geschlechtsbeziehungen. Ist Libertinage schon Anarchie? War der in einer romantischen Liebe zu seiner Dichterin versponnene Gustav Landauer weniger Anarchist, weil er sexuell eher prüde war? Groß wirft in der Darstellung von Green Fragen auf, die auch nach Wilhelm Reich, Herbert Marcuse und deren Schülern nicht beantwortet sind. Die entblößten Mädchen, die auf Theodor W. Adorno losgingen, oder muß es heißen, die sich nicht entblödeten, auf ihn los zu gehen? Hier an der Gewaltgrenze hebt sich auch die Gegenüberstellung von matriarchalischer und patriarchalischer Tendenz auf. Ist die erotische Bewegung weniger grausam als Bismarck? Die Engländer sagen, im Krieg und in der Liebe gelten keine Gesetze. Aber das ist nicht Anarchie, sondern Gewaltherrschaft.
Der Psychologe Ernst Kraepelin, zuerst bei Wundt, dann in Heidelberg und München, hat nach dem Scheitern der Münchner Räterepublik deren Führer fast ausnahmslos als kaputte Typen denunziert. Er kannte sie aus seiner Praxis; aber für ihre Gegner, insbesondere Max Weber, galt Gleiches. Das landläufige Bild von Gesundheit erfaßt die Intellektuellen nicht, auch nicht die, die sich über ihre Kaste mokieren. Es zählt zu den Glanzstücken von Greens Buch, daß er Max Webers große Aufsätze zum Thema mit der psychischen Verfassung des Autors konfrontiert. Hier stehen der Forschung, die tiefenpsychölogische, soziologische, politologische und historische Perspektiven bündelt, noch weite Felder unbeackert.
Was die Gegenüberstellung Bismarck und Richthafen-Schwestern angeht, wird das Buch auch deshalb ein Unikum bleiben, weil der Konfrontation der matriarchalischen Bewegung heute sowohl ein Bismarck wie eine militante Reichshauptstadt fehlen, und in den vielen Zentren der systematischen Macht führt kein Weg an den Damen vorbei. Sie halten die Vorzimmer besetzt, was soll sich dahinter ohne sie abspielen. Die erotische Bewegung aber erschöpft sich im Konsum. Sexueller Konsumzwang ist ungefähr das Gegenteil dessen, wovon in Greens Buch die Rede sein kann. Wo sind die großen Frauen, die Individualschicksal und Zeitgeist zugleich präsentieren? Insofern erscheinen Else Jaffe und Frieda Lawrence auch als ein „Abschied von der bisherigen Geschichte”, wie Alfred Weber das Ende des Zweiten Weltkriegs diagnostiziert.

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