Die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen: eine Aufgabe (nicht nur) des Strafrechts
Geschlechtsspezifische Gewalt ist in Deutschland allgegenwärtig. Es handelt sich dabei um Gewalt, die gegen ein bestimmtes Opfer gerade aufgrund seines Geschlechts gerichtet ist, und die Menschen aller Geschlechter betreffen kann. Doch gibt es bestimmte Formen geschlechtsspezifischer Gewalt, die Frauen wesentlich häufiger betreffen als Männer. Dazu gehört Partnerschaftsgewalt, also Übergriffe durch den aktuellen oder früheren Partner. Nach der kriminalstatistischen Auswertung des Bundeskriminalamts waren im Jahr 2020 über 80 Prozent der Opfer von Partnerschaftsgewalt weiblich (BKA 2021:8). In Deutschland werden in jeder Stunde 13 Frauen Opfer von Partnerschaftsgewalt; alle zweieinhalb Tage wird eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet (BMFSFJ 2021).
Aus menschenrechtlicher Perspektive handelt es sich bei Gewalt gegen Frauen um eine Form von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, da sie Frauen daran hindert, ihre Rechte und Freiheiten gleichberechtigt mit Männern auszuüben. Als Vertragsstaat der Frauenrechtskonvention der Vereinten Nationen von 1979 ist Deutschland zur Beseitigung aller Formen von Diskriminierung von Frauen verpflichtet. Zwar kann die Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt im Allgemeinen und Partnerschaftsgewalt im Besonderen nicht allein mit Mitteln des Strafrechts erfolgen. Und doch spiegeln Strafverfahren in besonderer Weise den gesellschaftlichen Umgang mit Gewalt gegen Frauen wider. Häufig werden in der Praxis ein fehlendes Verständnis für die Funktionsweise geschlechtsbezogener Diskriminierung sowie ein Mangel an Sensibilität für die Dimensionen und Auswirkungen von Partnerschaftsgewalt sichtbar. Dies soll im Folgenden exemplarisch beleuchtet werden.
Die Straftatbestände
Typische Straftatbestände, die im Kriminalitätsfeld der Partnerschaftsgewalt verwirklicht sein können, sind Tötungs- und Körperverletzungsdelikte, Sexualdelikte sowie Nötigung, Bedrohung und Nachstellung (vgl. BKA 2021:1). Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die im Jahr 2016 erfolgte Reform des Sexualstrafrechts, insbesondere die Neufassung des Tatbestands des sexuellen Übergriffs. Die alte Fassung des § 177 Strafgesetzbuch (StGB) stellte auf den Nötigungscharakter der Tathandlung ab, setzte also die Anwendung von Gewalt oder Drohung oder die Ausnutzung einer schutzlosen Lage voraus. In der Praxis führte dies häufig dazu, dass vom Opfer körperlicher Widerstand erwartet wurde, damit eine Tat als sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung bestraft werden konnte (bff Frauen gegen Gewalt 2014). Mit der Reform des Sexualstrafrechts wurde schließlich das sog. „Nein heißt Nein“-Modell umgesetzt, das maßgeblich auf den entgegenstehenden Willen des Opfers abstellt. Damit geht eine Aufwertung des Rechtsguts der sexuellen Selbstbestimmung einher, dessen Schutz durch das Strafrecht nicht länger von einem aktiven Widerstand des Opfers abhängt. Vielmehr genügt nun ein Handeln gegen den erkennbaren Willen des Opfers. Dieser Paradigmenwechsel entspricht einem modernen, menschenrechtsorientierten Verständnis der sexuellen Selbstbestimmung (vgl. Platform of Independent United Nations and Regional Expert Mechanisms on Violence against Women and Women‘s Rights 2019). Die Reform beruhte auch auf Art. 36 der Istanbul-Konvention des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, die in Deutschland 2018 in Kraft getreten ist. Die Istanbul-Konvention ist ein besonders wichtiges Instrument zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Zum einen legt sie in Art. 3 lit. a ein umfassendes Verständnis des Begriffs der Gewalt zugrunde, die sie als Menschenrechtsverletzung und Form von Diskriminierung versteht. Zum anderen enthält die Konvention zahlreiche detaillierte Vorgaben für die Vertragsstaaten, die bei vollständiger Umsetzung eine wirkungsvolle Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen ermöglichen würden. Doch kommt Deutschland seinen Verpflichtungen aus der Konvention noch immer nicht vollständig nach (GREVIO 2022).
Wenn es im Zusammenhang mit einer Trennung zu einem versuchten oder vollendeten Tötungsdelikt kommt, ist eine Strafbarkeit wegen Mordes in Betracht zu ziehen. Eine vorsätzliche Tötung ist als Mord nach § 211 StGB strafbar, wenn ein Mordmerkmal des zweiten Absatzes der Vorschrift gegeben ist. Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe. Diese liegen laut ständiger Rechtsprechung vor, wenn sie nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen und deshalb besonders verachtenswert sind (vgl. BGH NStZ 2021, 287, 288). Im Rahmen dieser Beurteilung nimmt die Rechtsprechung eine Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren Faktoren vor, die für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblich sind. Auch bei Trennungstötungen sind demnach stets die Umstände des Einzelfalls entscheidend. Kritikwürdig ist jedoch die in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs noch gelegentlich aufzufindende Formulierung, wonach „[g]erade der Umstand, dass eine Trennung vom Tatopfer ausgegangen ist, […] als gegen die Niedrigkeit des Beweggrundes sprechender Umstand beurteilt werden [darf]“ (zuletzt BGH NStZ 2019, 518, 519). Eine derartige Herangehensweise ist systemwidrig, weil sie statt der Motivlage des Täters das (Vor-)Verhalten des Opfers in den Blick nimmt. Zudem verkennt sie, dass hinter Trennungstötungen häufig ein patriarchales Besitzdenken und eine Objektivierung der Frau steht, die den „Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland“ (ständige Rechtsprechung, vgl. BGH NStZ 2021, 287, 288), insbesondere der Menschenwürde des Art. 1 und dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 2 Grundgesetz, eklatant widersprechen. Dies legt den Schluss nahe, dass an Trennungstötungen ein strengerer Maßstab angelegt wird als an andere Tötungsdelikte (vgl. insgesamt zur Kritik Schuchmann/Steinl 2021).
Fragen der Strafzumessung
Die genannten Probleme setzen sich auf der Ebene der Strafzumessung fort. So wird bei Fällen von sexualisierter Partnerschaftsgewalt der Umstand einer bestehenden oder früheren intimen Beziehung zwischen Täter und Opfer gelegentlich strafmildernd berücksichtigt (vgl. etwa BGH NStZ-RR 2003, 168; NStZ-RR 2010, 9, 10). In einer BGH-Entscheidung aus dem Jahr 2009 heißt es, das Landgericht hätte eine strafmildernde Berücksichtigung des Umstands prüfen müssen, dass das Tatopfer „eine Woche vor der Tat eine intime Beziehung mit dem Angekl. eingegangen war und dass sie mit dem Angekl. am Tattage zunächst einvernehmlich Zärtlichkeiten ausgetauscht und sexuelle Handlungen mit ihm vorgenommen hatte, bevor sie sich ihm verweigerte“ (BGH NStZ-RR 2010, 9, 10). Eine derartige Beurteilung lässt opferbeschuldigende Narrative erkennen und kann in dieser Pauschalität nicht überzeugen. Dies gilt insbesondere in Trennungssituationen (so bereits BGH NStZ-RR 2007, 300). Sie widerspricht auch dem Gedanken von Art. 46 lit. a der Istanbul-Konvention. Danach müssen die Vertragsstaaten sicherstellen, dass der Umstand einer aktuellen oder früheren Beziehung zwischen Opfer und Täter erschwerend berücksichtigt werden kann. Um eine konventionskonforme Strafzumessungspraxis sicherzustellen, erscheint eine Änderung des § 46 Abs. 2 StGB zielführend. Dort werden Umstände benannt, die im Rahmen der Strafzumessungsentscheidung in die Abwägung einzubeziehen sind. Bei den zu berücksichtigenden Beweggründen bietet sich eine Aufnahme geschlechtsspezifischer oder sexistischer Motive an, wozu etwa aus Frauenhass begangene Taten zählen würden. Diese fallen zwar derzeit schon in die Fallgruppe der menschenverachtenden Beweggründe, doch kann eine Klarstellung dazu beitragen, die Strafverfolgungsbehörden für den Umgang mit geschlechtsspezifischen Taten zu sensibilisieren.
Aus denselben Gründen überzeugt auch die Annahme eines minder schweren Falles des sexuellen Übergriffs bei Taten durch den Partner oder Ex-Partner nicht (so etwa BGH BeckRS 1993, 31080779; NStZ-RR 2010, 9, 10). Ein minder schwerer Fall einer Straftat liegt dann vor, wenn das gesamte Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente und der Täterpersönlichkeit vom Durchschnitt der gewöhnlich vorkommenden Fälle in so erheblichem Maße abweicht, dass die Anwendung des Ausnahmestrafrahmens geboten erscheint (Maier 2020:Rn. 115). Der Einstufung von Sexualdelikten durch den aktuellen oder früheren Partner als minder schwerem Fall liegt offenbar die Vorstellung zugrunde, dass der „Normalfall“ einer Sexualstraftat im Übergriff durch eine fremde Person zu sehen ist. Dies widerspricht aber dem Stand der Forschung, wonach sich die meisten Sexualdelikte im sozialen Nahraum des Opfers abspielen (vgl. Renzikowski 2021: Rn. 206).
Zur Vereinheitlichung der Rechtsanwendungs- und Strafzumessungspraxis bieten sich verpflichtende und in ausreichender Kapazität angebotene Fortbildungen für Richter_innen und Staatsanwält_innen an, in denen Ursachen und Auswirkungen geschlechtsspezifischer Gewalt beleuchtet und Möglichkeiten zur geschlechtssensiblen Anwendung des Rechts aufgezeigt werden könnten (vgl. Deutscher Juristinnenbund 2020b:57ff.). Die Neutralität der Richter_innen steht einer Fortbildungspflicht nicht entgegen (vgl. Classen 2018:Rn. 29a).
Geschlechtssensible Durchführung des Strafverfahrens
Damit das Strafrecht Gewalt gegen Frauen effektiv bekämpfen kann, ist neben einer geschlechtssensiblen Anwendung des materiellen Rechts auch eine entsprechende Durchführung des Strafverfahrens unerlässlich. Denn durch die Konfrontation mit dem Täter und die wiederholte Befragung durch die Strafverfolgungsbehörden und das Gericht besteht die Gefahr einer Retraumatisierung des Opfers. Dies gilt vor allem angesichts der teils erheblichen Länge von Strafverfahren, der nur durch eine Verbesserung der Ressourcen der Strafjustiz begegnet werden kann.
Eine erste Hürde stellt sich bei der Frage, ob die Staatsanwaltschaft Anklage erhebt. So handelt es sich etwa bei der vorsätzlichen einfachen Körperverletzung nach § 223 StGB um ein relatives Antragsdelikt, d.h. es ist ein Strafantrag des Opfers erforderlich, wenn nicht die Staatsanwaltschaft ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung annimmt. Zudem kann nach § 374 Strafprozessordnung (StPO) auf den Privatklageweg verwiesen werden, soweit die Staatsanwaltschaft nicht nach § 376 StPO annimmt, dass eine Anklage im öffentlichen Interesse liegt. Hier besteht die Gefahr, dass Fälle von Partnerschaftsgewalt als reine „Familienangelegenheit“ eingestuft werden, die die öffentliche Sphäre nicht berühren und daher auch kein besonderes Strafverfolgungsinteresse auslösen würden. Diese Annahme beruht jedoch auf einer überkommenen Dichotomie von Öffentlichkeit und Privatheit. Gewalt gegen Frauen ist keine Privatangelegenheit und darf nicht als solche bagatellisiert werden. Vielmehr sollte das (besondere) öffentliche Interesse im Fall von Partnerschaftsgewalt regelmäßig angenommen werden (vgl. Deutscher Juristinnenbund 2020a:1f.). Auch die Istanbul-Konvention verlangt in Art. 55 Abs. 1, dass die Strafverfolgung nicht vollständig von einer Meldung oder Anzeige des Opfers abhängig gemacht werden darf. Ähnliches gilt für die Einstellung von Verfahren aus Opportunitätsgründen nach §§ 153 ff. StPO. Der Umstand, dass die Tat sich im persönlichen Umfeld des Opfers ereignet hat, bietet für sich genommen noch keinen Anlass zu der Annahme, dass kein bzw. nur ein geringes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung im Sinne von § 153 Abs. 1 Satz 1 oder § 153a Abs. 1 Satz 1 StPO besteht. Dem steht auch die bereits erwähnte strafschärfende Berücksichtigung nach Art. 46 lit. a der Istanbul-Konvention entgegen.
Wenn die gewaltbetroffene Person aktiv am Strafverfahren mitwirken möchte, steht ihr das Institut der Nebenklage nach § 395 StPO offen, das beispielsweise mit einem Frage- und Beweisantragsrecht in der Hauptverhandlung einhergeht. Dabei stellt sich in der Praxis jedoch das Problem, dass leichtere Delikte – so etwa die einfache und gefährliche Körperverletzung nach §§ 223, 224 StGB – grundsätzlich von der Möglichkeit der (kostenfreien) Beiordnung eines anwaltlichen Beistandes nach § 397a Abs. 1 StPO ausgenommen sind. Diese Herangehensweise greift im Bereich der Partnerschaftsgewalt zu kurz. Denn auch wenn die verwirklichten Delikte für sich genommen häufig nicht schwerwiegend sind, verkennt eine solche Betrachtung die Dimension und Auswirkungen langjähriger Partnerschaftsgewalt. Auch mit Blick auf die Gefahr einer Retraumatisierung erscheint eine anwaltliche Interessensvertretung sinnvoll und erforderlich, um auf eine möglichst geschlechtssensible Durchführung des Strafverfahrens hinwirken zu können. Zu diesem Zweck muss auch die verfahrensrechtliche Stellung der Vertreter_innen der Nebenklage gesichert werden (vgl. Deutscher Juristinnenbund 2018:15ff.). Insbesondere ist ihnen auch in Konstellationen, in denen Aussage gegen Aussage steht, grundsätzlich Akteneinsicht zu gewähren; eine pauschale Abwertung der Aussage der Nebenklägerin geht damit nicht einher (vgl. BGH NStZ 2016, 367).
Zur Verhinderung einer Retraumatisierung des Opfers muss zudem das Institut der psychosozialen Prozessbegleitung nach § 406g StPO gestärkt werden. Auch hier hängt die Beiordnung von Prozessbegleiter_innen vom jeweiligen Delikt ab. Für leichtere Delikte besteht keine Beiordnungsmöglichkeit, selbst wenn eine besondere Schutzbedürftigkeit vorliegt. Diese gesetzliche Konzeption verkennt, dass gerade im Fall von Partnerschaftsgewalt regelmäßig ein Bedürfnis nach professioneller Unterstützung besteht, um die Gefahr einer Retraumatisierung durch das Zusammentreffen mit dem Täter im Gerichtssaal und eine Befragung durch die Verfahrensbeteiligten zu vermindern. Die Möglichkeit der kostenfreien psychosozialen Prozessbegleitung sollte daher allen Betroffenen von Partnerschafts- und sonstiger geschlechtsspezifischer Gewalt offenstehen (vgl. Deutscher Juristinnenbund 2018:18ff.).
Prävention von Gewalt gegen Frauen
Der Fokus auf das Strafrecht als Mittel zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen darf nicht den Blick darauf verstellen, dass eine umfassende Präventionsstrategie unverzichtbar ist. Denn auch wenn das Strafrecht ein staatliches Unwerturteil über die Tat herbeizuführen vermag, setzt es naturgemäß erst an, wenn es bereits zu gewaltsamen Handlungen gekommen ist. Eine umfassende Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen erfordert daher einen primär-präventiven Ansatz. Vielfach sind Übergriffe durch den aktuellen oder früheren Partner nicht unvorhersehbar – und damit auch nicht unvermeidbar. Durch eine bessere Zusammenführung der Erkenntnisse, die in Beratungsstellen und bei den Ermittlungsbehörden häufig nur punktuell vorhanden sind, ließen sich Taten in vielen Fällen verhindern. Zudem müssen Risikofaktoren zutreffend eingeordnet werden: Dazu gehören nicht nur mögliche frühere Übergriffe, sondern insbesondere auch eine bevorstehende oder bereits erfolgte Trennung der Frau von ihrem Partner. In dieser Situation besteht eine besondere Gefährdungslage, der durch geeignete Präventionsmaßnahmen begegnet werden muss. Um derartige Situationen adäquat einschätzen und entsprechend handeln zu können, braucht es verpflichtende Aus- und Fortbildungen für Polizeibeamt_innen. Denn die Polizei ist regelmäßig als erste staatliche Institution mit Partnerschaftsgewalt befasst und damit auch in der Lage, durch konsequentes Einschreiten Eskalationen zu verhindern (vgl. zum Ganzen Deutscher Juristinnenbund 2020a:6ff.)
Ein wichtiges Instrument zur Prävention von (weiterer) Gewalt an Frauen ist das Gewaltschutzgesetz, das seit 2002 in Kraft ist und den Schutz vor allen Formen von Gewalt im privaten und häuslichen Umfeld bezweckt. Das Gewaltschutzgesetz sieht eine Vielzahl von Maßnahmen vor, die darauf gerichtet sind, den Täter aus der Gefahrensituation zu entfernen. Ein wirksames Mittel ist in diesem Zusammenhang das Betretungsverbot und der Anspruch auf Überlassung der gemeinsam genutzten Wohnung nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 2 Gewaltschutzgesetz. Damit diese Anordnungen Wirkung zeigen, muss ihre Verletzung adäquat verfolgt werden. Es handelt sich dabei nach § 4 Nr. 1 Gewaltschutzgesetz um eine Straftat, die mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bedroht ist. Auch hier muss sichergestellt werden, dass die Taten tatsächlich verfolgt und im Regelfall nicht aus Opportunitätsgründen eingestellt werden. Obgleich es sich bei der Verletzung einer Gewaltschutzanordnung selbst nicht um eine schwerwiegende Straftat handelt, besteht doch erhebliches Eskalationspotential, das nicht bagatellisiert werden darf. Problematisch ist zudem die fehlende Abstimmung des Gewaltschutzrechts mit dem Familienrecht in Fällen, in denen gemeinsame Kinder vorhanden sind. Denn trotz bestehender Gewaltschutzanordnung muss der Umgang mit dem gemeinsamen Kind ermöglicht werden. Hier bedarf es – auch und gerade im Interesse der betroffenen Kinder – einer höheren Priorisierung des Gewaltschutzes und einer besseren Abstimmung zwischen den rechtlichen Mechanismen.
Zwingend notwendig ist außerdem ein Ausbau der Beratungs- und Opferhilfeeinrichtungen. Schätzungen zufolge fehlen knapp 15.000 Plätze in Frauenhäusern (Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags 2019:4), wobei die Corona-Pandemie die Lage nochmals verschärft haben dürfte. Gerade in ländlichen Räumen ist die Versorgung häufig defizitär. Dabei ist Deutschland nach Art. 23 der Istanbul-Konvention verpflichtet, geeignete und leicht zugängliche Schutzunterkünfte in ausreichender Zahl bereitzustellen.
Ein weiteres Problem ist die Finanzierung von Frauenhäusern, für die es momentan keine einheitliche Regelung gibt. Vielmehr gibt es in den Ländern unterschiedliche und nicht aufeinander abgestimmte Finanzierungsmodelle. Eine verlässliche und dauerhafte Finanzierung ist aber unverzichtbar, um ein flächendeckendes Unterstützungssystem einrichten und aufrechterhalten zu können. Neben einem Ausbau der Opferhilfe müssen zudem die (potentiellen) Täter in den Blick genommen werden. Notwendig sind Beratungsstellen und Therapiemöglichkeiten, um eine künftige Eskalation zu verhindern. Zugleich muss intensive Tatursachenforschung betrieben werden, wie sie auch in Art. 11 Abs. 1 der Istanbul-Konvention vorgesehen ist. Auf der Grundlage empirischer Erkenntnisse können sodann Instrumente zur Risikoeinschätzung weiterentwickelt werden, um drohende Gewalttaten zu verhindern.
Die Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt ist damit zwar auch, aber bei Weitem nicht nur eine Aufgabe des Strafrechts. Die in diesem Beitrag exemplarisch aufgezeigten Maßnahmen können nur dann ihre volle Wirkung entfalten, wenn sie in einen umfassenden gesellschaftlichen Bewusstseinswandel eingebettet sind. Geschlechtsspezifische Gewalt ist stets ein Ausdruck struktureller Machtungleichgewichte zwischen den Geschlechtern. Die Überwindung patriarchaler Denkmuster und die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung der Geschlechter, zu der der Staat nach Art. 3 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes verpflichtet ist, sind damit Voraussetzung zur wirkungsvollen Bekämpfung und Verhinderung von geschlechtsspezifischer Gewalt.
Tanja Altunjan Jahrgang 1992, Dr. iur., Volljuristin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin. Wichtigste Buchveröffentlichung: Reproductive Violence and International Criminal Law (2021).
Literatur:
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BKA 2021, Partnerschaftsgewalt: Kriminalstatistische Auswertung – Berichtsjahr 2020; abrufbar unter https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/JahresberichteUndLagebilder/Partnerschaftsgewalt/Partnerschaftsgewalt_2020.pdf?__blob=publicationFile&v=3.
BMFSFJ 2021: Gewalt in Partnerschaften: 4,9 Prozent mehr Fälle als 2019; abrufbar unter https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/alle-meldungen/gewalt-in-partnerschaften-4-9-prozent-mehr-faelle-als-2019-187204.
Classen, Claus D. 2018: Art. 97 GG; in: v. Mangoldt/Klein/Starck/Classen, München.
Deutscher Juristinnenbund e.V. 2018: Policy Paper: Opferrechte in Strafverfahren wegen geschlechtsbezogener Gewalt; abrufbar unter https://www.djb.de/fileadmin/user_upload/presse/stellungnahmen/st18-18_OpferR.pdf.
Deutscher Juristinnenbund e.V. 2020a: Policy Paper: Strafrechtlicher Umgang mit (tödlicher) Partnerschaftsgewalt; abrufbar unter https://www.djb.de/fileadmin/user_upload/st20-28_Partnerschaftsgewalt.pdf.
Deutscher Juristinnenbund e.V. 2020b: Bericht des Deutschen Juristinnenbundes e.V. (djb) zur Umsetzung der Istanbul-Konvention in Deutschland; abrufbar unter https://www.djb.de/fileadmin/user_upload/st20-31-IK-Bericht-201125.pdf.
GREVIO 2022: (Basis) Evaluierungsbericht über gesetzliche und weitere Maßnahmen zur Umsetzung des Übereinkommens des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul Konvention) – Deutschland; abrufbar unter https://www.bmfsfj.de/resource/blob/202386/3699c9bad150e4c4ff78ef54665a85c2/grevio-evaluierungsbericht-istanbul-konvention-2022-data.pdf.
Maier, Stefan 2020: § 46 StGB; in: Münchener Kommentar zum StGB, München.
Platform of Independent United Nations and Regional Expert Mechanisms on Violence against Women and Women‘s Rights 2019: International Day on the Elimination of Violence against Women 25 November 2019: Absence of Consent must Become the Global Standard for Definition of Rape, abrufbar unter https://www.ohchr.org/en/press-releases/2019/11/international-day-elimination-violence-against-women25-november-2019.
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