Verdrängte Wahrheiten
Im Jahr 2009 hat Deutschland die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen ratifiziert. Festgeschrieben ist damit die uneingeschränkte Teilhabe behinderter Menschen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Seither ist viel von Inklusion die Rede. Manche sehen für behinderte Menschen schon das Paradies zum Greifen nahe. Dabei ist es viel mehr so: Die jahrelangen Bemühungen um Integration sind gescheitert, deshalb kommt das Versuchsfeld mit dem Ansatz der Inklusion wie gerufen.
Ohne Zweifel ist es ein Fortschritt, dass die Forderung behinderter Menschen auf Teilhabe zum Menschenrecht erhoben wurde. Aber die ‚Allgemeine Erklärung der Menschenrechte‘ hat immerhin seit 1948 Geltung. Entweder – so wäre daraus zu folgern – ist diese Erklärung für behinderte Menschen bedeutungslos, so dass eine Sonderkonvention her musste. Oder aber das verbreitete Bewusstsein hat Personen mit Behinderung bis heute nicht als vollwertige und gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft akzeptiert. Vieles spricht für diese Behauptung. Zur Veränderung von Bewusstseinslagen sind Konventionen und Gesetze wenig geeignet. Sie sind hilfreiches Instrument für juristische oder parlamentarische Auseinandersetzungen. Der Alltag verlangt mehr.
In den letzten vier Jahrzehnten kam in die deutsche Behindertenpolitik Bewegung. Die Rede ist von Rechten statt Fürsorge, von Inklusion statt Aussonderung, von Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung. Bei genauem Hinsehen erweisen sich aber die angeblichen Veränderungen als nicht stichhaltig, verschwindet die reale Situation hinter verbaler Verharmlosung: Plötzlich handelt es sich nicht mehr um eine Heimeinweisung, sondern um das Wohnen im stationären Bereich. Die Krücke verwandelt sich in eine Gehhilfe. Aus dem Menschen mit einer geistigen Behinderung wird die Person mit besonderen Fähigkeiten. Der Gehörlose mutiert zum Experten für Gebärdensprache. Die Rollstuhlfahrerin entpuppt sich als Frau mit eigenen Mobilitätsvoraussetzungen. Komplizierte Persönlichkeiten haben spezielle Verhaltensqualitäten … Wem nützt die politisch korrekte Schönrederei? Die Treppen bleiben ein Hindernis, unübliche Kommunikation ist noch immer ein Grund zur Kontaktvermeidung und die Unterbringung in Institutionen bedeutet in der Regel nach wie vor, einen fremdbestimmten Alltag leben zu müssen.
Macht und Gewalt
Es hat mehr als dreißig Jahre gedauert, bis die umfassende Aufarbeitung der Verbrechen an behinderten und kranken Menschen während des nationalsozialistischen Regimes begann und zumindest in interessierten Kreisen zur Kenntnis genommen wurde. Die Dokumentation von Erniedrigung und entwürdigenden Zuständen in Institutionen der Fürsorge von 1945 bis 1975 hat wiederum Jahrzehnte gebraucht und begann erst vor wenigen Jahren. So begrüßenswert diese Initiativen sind, sie intendieren einen Schlussstrich-Charakter, als seien spätestens mit der Ratifizierung der internationalen Behindertenrechtskonvention Menschenrechtsverletzungen ein Relikt der Vergangenheit. Allerdings hat der UN-Ausschuss, der die Umsetzung dieser Konvention prüft, Deutschland im Jahr 2016 wegen mangelnder Maßnahmen zum Schutz behinderter Menschen vor Gewalt gerügt. Diese Kritik ist ein Hinweis auf tabuisierte, verdrängte Realitäten in der Behindertenhilfe.
Die geschäftsführende Ärztin der Landesärztekammer Nordrhein, Susanne Schwalen, betonte anlässlich eines Symposiums zur häuslichen Gewalt, dass behinderte Kinder besonders gefährdet sind: „Die Wahrscheinlichkeit, dass sie Gewalt erleben, ist für Kinder mit Behinderungen fast viermal so hoch wie für nicht behinderte Kinder. Die in der Betreuung involvierten Berufsgruppen müssen hier besonders sensibilisiert werden“ (Ärztekammer 2018, 1). Als Grund für die Misshandlungen wird ein erhöhter Stresspegel der Eltern vermutet und der Umstand, dass behinderte Kinder weniger Chancen besitzen, sich außerfamiliär zu beschweren. Dieses Dilemma trifft auch Menschen mit Einschränkungen im Alter.
Die Beschäftigung mit dem Machtmissbrauch in Institutionen der Behindertenhilfe kommt nicht um die Erkenntnis herum, dass es sich bei „der Ausübung und Nichtwahrnehmung oder Vertuschung psychischer, körperlicher oder sexueller Gewalt“ in Schule, Werkstatt oder Wohneinrichtung keineswegs „um bedauerliche und rein individuell zu erklärende Einzelfälle handelt“. Die Erklärung findet sich neben gesellschaftlichen und institutionellen Bedingungen eben auch in den pädagogischen Machtansprüchen. In den Einrichtungen existiert eine „legitimierte pädagogische Autoritätsmacht“, die von den behinderten Menschen „in der Regel auch fraglos als legitim anerkannt wird“. Hinzu kommt, dass die Mitarbeitenden nicht nur als Repräsentanten der Institution über Macht verfügen, „sondern auch in ihrer Rolle als professionelle Fachkräfte ein Zugriffs- bzw. Eingriffsprivileg auf sehr persönliche Bereiche“ von behinderten Kindern und Erwachsenen besitzen, das teilweise alle Lebensbereiche umfasst (Glammeier 2018, 13f.). Für jene, die als Erwachsene in Werkstatt oder Heim landen, ist es üblicherweise nicht vorgesehen, dass sie die Einrichtung in Richtung Selbstbestimmung wieder verlassen. Das kennzeichnet den Unterschied zu den Institutionen Krankenhaus oder Gefängnis.
Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Behinderungen sind häufig auf Hilfe und Pflege angewiesen. Die tägliche Erfahrung, dass andere ihren Körper versorgen und berühren, macht es schwer, ein eigenes Körper-und Schamgefühl zu entwickeln. Dieser Mangel macht sie angreifbar: Was ist notwendige Assistenz und was ist ein sexueller Übergriff – diese Einschätzung haben manche nicht erlernt. Und selbst wer sich bei den Berührungen des eigenen Körpers durch fremde Hände schämt, nimmt sie passiv als Alltagserfahrung hin. Täter und Täterinnen nutzen diese Situation aus.
Repräsentative Untersuchungen zu sexueller Gewalt gegen Mädchen und Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen (15- bis 65-Jährige) weisen darauf hin, dass diese zwei- bis dreimal häufiger sexuellem Missbrauch in Kindheit und Jugend ausgesetzt sind als der weibliche Bevölkerungsdurchschnitt (Kampagne 2018, o.S.). Die Studie der Universität Bielefeld zur Lebenssituation von behinderten Frauen kam zu dem Ergebnis, dass in Heimen fast ein Drittel der dort wohnenden Frauen von sexuellen Übergriffen betroffen waren. Jede vierte Frau mit einer sogenannten geistigen Behinderung in Einrichtungen gab an, sexuellen Missbrauch erlebt zu haben. Die Verfasserinnen der Studie gehen davon aus, dass „hier ein erhebliches Dunkelfeld besteht, da viele dieser Frauen sich nicht erinnern konnten“ und weil „gerade Frauen mit sehr schweren geistigen Behinderungen und stark eingeschränkter Artikulationsfähigkeit“ in „besonderem Maße gefährdet sind“ (Lebenssituation 2012, 2).
Selbstverständlich ist die fremdbestimmte Unterbringung in einer Wohneinrichtung eine Variante subtiler Gewaltausübung; auch dann, wenn sie mit noblen Vorsätzen erfolgt. Denn während sich kaum jemand vorstellen mag, in eine Wohngruppe ziehen zu müssen, deren Mitglieder eher als unangenehme Zeitgenossen empfunden werden, gilt dieser verordnete Akt bei behinderten Menschen bereits als inklusives Modell. Und wenn engagierte Sozialarbeiter mit behinderten Bewohnern in die dörfliche Idylle ziehen und das Projekt scheitert, weil die Klienten keine Lust auf Natur inklusive Stall-Ausmisten haben, dann ist das nur ein Musterbeispiel für fremdbestimmtes Handeln mit gutem Gewissen, gepaart mit der Verfolgung eigener Wünsche und Ideale. Eine Heimbewohnerin formuliert in der Corona-Krise die Kombination aus Fürsorge, Machtausübung und subtiler Gewalt treffend: Das Schlimmste „ist nicht die Einsamkeit. Es ist nicht das Verbot, mit dem Rollstuhl in den Garten zu fahren, wo die Frühlingssonne scheint. Es ist nicht die Stille und nicht die Menschenleere auf den Fluren und schon gar nicht die Angst vor dieser vermaledeiten Seuche. Es ist die Tatsache, dass niemand sie gefragt hat“ (Grimm 2020, 2).
Das Wegblicken an dieser Stelle hat zur Folge, dass vielfach nicht einmal die Grundsätze der Menschenrechte garantiert werden: Jeder fünfte Heimbewohner erlebt ohne rechtliche Grundlage Beschränkungen seiner Freiheit durch verschlossene Türen, Bettgitter oder Fixierungen. Und immerhin zwanzig Prozent der Insassen bekommen ungenügend zu essen und zu trinken, weil sie dabei auf Assistenz angewiesen sind (Szent-Ivanyi 2012). Grundsätzlich hat sich an diesen Fakten bis heute wenig verändert.
Tatsache ist aber auch, dass die aktuelle Struktur der Behindertenhilfe mit dem Ideal der Inklusion nicht kompatibel ist. Denn die „gewachsenen und differenzierten Systeme der sozialen Sicherung sind von ihrer Anlage her nicht auf Inklusion, sondern auf immer wieder neu zu prüfende Bescheide und Exklusionen ausgerichtet. Klassifikation, Segregation, Gewährung oder (möglichst) Ausschluss von Leistungen sind die grundlegenden Prinzipien, die Verweisung an die Zuständigkeit anderer Leistungsträger ihre alltägliche Praxis, nur schwer zu durchschauende Grade von ‚Schwerbehinderung‘ ihre Ausdrucksform“ (Clausen 2013, o.S.). Behinderte Kinder, Frauen und Männer werden bürokratisch exkludiert. Die Macht liegt bei den Institutionen – und jenen, die dort arbeiten. Der Blick auf Behinderung als individuelles Schicksal ist gekoppelt mit der Unterstellung oder der Realität der Abhängigkeit von versorgenden Leistungen. Um diese zu erlangen, muss sich die Person mit einer Beeinträchtigung unterordnen. Das Versorgungssystem entfaltet dabei die Funktion der Kontrolle und Disziplinierung, die bestehenden Ohnmachtsverhältnisse bleiben bestehen (vgl. Waldschmidt 2009, 131).
Der klinische Blick auf Behinderung
Es gibt keinen Blick ohne Aussage. Distanzlose Blicke werden auch als sanfte Gewalt bezeichnet, um zu verdeutlichen, dass es sich hier nicht um körperliche Attacken oder Drangsalierungen handelt, gleichwohl aber um Blicke, die herabwürdigen und beschämen. Alle, die einen Behindertenausweis oder Pflegegeld bei der Krankenkasse beantragen, kennen die unausweichliche Situation: Amtsarzt oder Gutachter vom Medizinischen Dienst schauen zu, welche Fähigkeiten in den Beobachteten noch stecken. Bei der Demonstration, was nicht geht oder doch funktioniert, betrachtet zu werden, ist peinlich und verletzend. Wer sich dem verweigert, gilt formal bürokratisch als Mensch ohne Einschränkung und bekommt ohne den ‚Behindertenstatus‘ keine sozialen Leistungen.
Blicke sind Machtmittel, „die Rahmen und Räume brauchen, Strukturen, in denen sie sich entfalten können. Dem erkennenden Blick des Arztes bietet die ‚Klinik‘ den passenden Rahmen: Sie versammelt das ‚Patientengut‘, trennt es vom Alltag ab, schafft isolierende Bedingungen und stellt so das Labor bereit, in dem der mikroskopische Blick seine volle Wirksamkeit entfalten kann. Wissensanhäufung, Erkenntnisgewinn ist allerdings nur ein Aspekt von Sichtbarkeit, gleichzeitig geht es immer auch um eine zweite Dimension, um die Überwachung: Der Blick, der wissen und erkennen will, verbündet sich mit dem Blick, der kontrollieren und disziplinieren will.“ Der Körper wird dann zu einem relevanten Objekt, wenn der ‚klinische Blick‘ „ins Spiel kommt. Ausgehend von bestimmten Erkenntnisinteressen wird er abtaxiert, abgetastet, durchleuchtet, geprüft und vermessen, kurz: er wird zur Zielscheibe disziplinärer, kontrollierender und regulierender Machtpraktiken“ (Waldschmidt 2006, 7).
Menschenbilder und Denkmuster
Nach einer von der Heinrich-Böll-Stiftung und der Otto-Brenner-Stiftung der IG Metall unterstützten Studie finden nur 47 Prozent der befragten Deutschen, dass die Freiheitsrechte gleichermaßen für alle gesellschaftlichen Gruppen Gültigkeit besitzen sollen. Die eigenen „Freiheitsrechte werden gerne beansprucht, bei den Rechten von Menschen, die man als Angehörige einer anderen Gruppe wahrnimmt, hört die Akzeptanz dieser Freiheit“ aber auf (Decker/Brähler 2018, 99f.). Die Untersuchung fand im Sommer 2018 statt. Sie fragte auch nach sozialdarwinistischen Einstellungen und Denkmustern. Demnach lehnten nur 45 Prozent der 2.500 repräsentativ Befragten die Vorgabe „Wie in der Natur sollte sich in der Gesellschaft immer der Stärkere durchsetzen“ völlig ab, nur 61 Prozent fanden die Aussage „Es gibt wertvolles und unwertes Leben“ grundlegend falsch (ebd., 73f.). Ausdruck dieser Denkstrukturen fand sich in einer kleinen Anfrage der AfD im Bundestag: Die Fraktion hatte im Frühjahr 2018 von der Regierung wissen wollen, wie sich die Zahl der Schwerbehinderten in Deutschland entwickelt habe, und zwar speziell auch „durch Heirat innerhalb der Familie“, und wie viele dieser Fälle einen Migrationshintergrund hätten. Die Bundesregierung antwortete, dass mehr als 94 Prozent der Schwerbehinderten Deutsche seien. Die Anfrage verknüpfte Ressentiments gegen geflüchtete sowie behinderte Menschen unausgesprochen mit der Ideologie von Inzucht, Vererbung und als selbstverschuldeter – also überflüssiger – Kostenfaktor. Die Assoziationen decken sich mit den Ergebnissen der Langzeitstudie ‚Deutsche Zustände‘ der Universität Bielefeld. Nach dieser im Jahr 2012 publizierten Untersuchung stimmten fast ein Drittel der befragten Deutschen tendenziell der Aussage zu, dass die Gesellschaft sich Menschen, die wenig nützlich sind, nicht mehr leisten kann. Gleichzeitig waren fast acht Prozent der Überzeugung, für „Behinderte wird in Deutschland zu viel Aufwand betrieben“ und über elf Prozent der Interviewten fanden viele Forderungen der Behinderten überzogen (Heitmeyer 2012, 21ff.). Diese Zahlen waren mit dem Beginn der Inklusionsdebatte gestiegen. Ganz offensichtlich geht die Furcht vor dem eigenen sozialen Abstieg mit der Meinung einher, die ‚sozial Schwachen’ sollten endlich ihr Leben selbst in die Hand nehmen.
Den Negativtrend in der Wahrnehmung von Behinderung belegt auch eine repräsentative Studie der Universität Greifswald, die im Frühjahr 2014 vorgestellt wurde. Demnach nimmt – trotz aller Aufklärungskampagnen – die Stigmatisierung von Menschen mit einer Schizophrenie eher zu als ab. Die Forschenden hatten dazu Vergleichsstudien aus den letzten zwanzig Jahren ausgewertet. Das Ergebnis: Weniger Mitleid, weniger Hilfsbereitschaft, dafür der Wunsch nach sozialer Distanz. So lehnten es 1990 etwa 20 Prozent der Befragten ab, mit einem daran erkrankten Kollegen zusammen zu arbeiten; 2011 konnten sich das schon 31 Prozent nicht mehr vorstellen. Und im Freundeskreis sollte ein Erkrankter erst recht nicht auftauchen, über die Hälfte der Befragten wollte das nicht (vor 20 Jahren lag die Ablehnungsquote noch bei 39 Prozent). Insgesamt hat sich die Haltung der Menschen gegenüber der Schizophrenie zum Negativen geändert, immer mehr meiden Schizophrenie-Kranke.
Die Ursache für diese Entwicklung liegt einerseits in der Biologisierung psychischer Erkrankungen: Sie werden mehr und mehr wahrgenommen als undefinierbarer Hirndefekt, dem etwas Unheimliches anhaftet. Gleichzeitig geraten die Erklärungen, die gravierende Einschnitte in einer Lebensphase und Traumata für das Leiden verantwortlich sehen, in den Hintergrund. Andererseits „müssen wir zugleich den gesamtgesellschaftlichen Rahmen bedenken. Nach einer Phase der Liberalisierung und wachsender Toleranz gegenüber andersartigen Menschen und abweichendem sozialen Verhalten in den 1970er Jahren kam es seit den 1980er Jahren zu einer Restauration und zu zunehmender Intoleranz, von manchen als ‚geistig-moralische Wende‘ bezeichnet“ (Finzen 2014, 46). Große Aufklärungskampagnen bewirken offenbar wenig, solange das direkte Gegenüber fehlt. Wortführer der Intoleranz bekommen Oberwasser – sie sagen jetzt, was sie denken. So verkündete der saarländische AfD-Fraktionsvorsitzende, dass man in Krankenhäusern Patienten mit ansteckenden und mit nicht-ansteckenden Krankheiten in unterschiedliche Abteilungen stecke – aber „in deutschen Schulen säßen Kinder mit Down-Syndrom“ (Vates 2018).
Behinderung als Störung der Ordnung
Tatsächlich verweisen die behinderten Menschen auf eine andere Welt, „nämlich auf all die unbewusst gemachten Dynamiken der Macht, die den Wert des Menschen in unserer Gesellschaft bestimmen. Sie verweisen auf die Tatsache, dass jeder Mensch andere Menschen braucht und dass keineswegs das Schicksal alleine vom eigenen Leistungswillen abhängt. Sie stellen den Mythos der Unabhängigkeit und Selbstkontrolle in Frage. Indem die Gesellschaft jedoch die behinderten Menschen ausgrenzt und für ihr Anderssein bestraft, versucht sie ihre Normen zu verfestigen und zu bestätigen. Auf der individuellen Ebene werden dann in der Abwehr der Behinderten, im Unsichtbar machen oder Ungeschehen machen die eigenen Ängste und Wünsche abgewehrt. Man bestätigt sich selbst“ (Rommelspacher 2011, 4).
Eine damit einhergehende Erklärung für abwertende Denkmuster benennt die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Magdlener: Behinderung „wird in unserer nach Norm strebenden Gesellschaft als Tragödie gefasst; die Tragödie der Behinderung, die nicht sein darf und die es durch medizinische, physiotherapeutische u.a. Maßnahmen möglichst zu überwinden gilt. Diese Tragödie haftet dem Individuum als Makel an. Behinderung wird in unserem gesellschaftlichen Normensystem noch immer als nicht wünschenswert angesehen, anstatt sie als vielfältige Variante menschlicher Lebensrealität, losgelöst von negativen Bewertungen, anzunehmen“ (Magdlener 2018, o.S.).
Menschen werden in Rastern wahrgenommen: Frauen und Männer, Schwarze und Weiße, Behinderte und Nichtbehinderte, Normale und Unnormale. Das bedeutet, so Erving Goffman in seinem Buch ‚Stigma‘, dass nicht Personen betrachtet werden, sondern mit Denkmustern verbundene Äußerlichkeiten. Der „Normale und der Stigmatisierte sind nicht Personen, sondern eher Perspektiven“ (Goffman 2014,170). Diese Beobachtung ist noch immer relevant. Denn trotz „aller Erfolge um Inklusion, Anerkennung und Partizipation, die zumindest in der westlichen Welt für einen Großteil behinderter Menschen in den letzten Jahren erzielt wurde, im Wesentlichen gilt immer noch: Behindert zu sein bedeutet, gleichsam auf der ‘anderen’ Seite verortet zu werden, einen Platz zu erhalten nicht im Reich der Vernunft, Kultur und Normalität, sondern in dem der Unvernunft, Natur und des Pathologischen.“ Der Gegensatz „wird immer wieder hergestellt – allerdings immer wieder auf eine neue Weise“ (Waldschmidt 2007, 26). In der Gesellschaft existiert unausgesprochen ein „Zwang zur Nicht-Behinderung“, den „alle Menschen (behindert oder nicht) zu erfüllen“ haben. Er „kann nur existieren, weil es den Gegensatz von Behinderung und Nicht-Behinderung gibt. Erst dadurch, dass Menschen als behinderte Menschen bezeichnet werden, kann sich der Rest als nicht-behindert und ‚normal‘ verstehen.“ Dieser Effekt trifft viele Gruppen: Homosexuelle, Geflüchtete oder Sinti und Roma. Alle Überlegungen zur „Integration des ‚Anderen‘ gehen davon aus, dass all diese genannten Personengruppen ‚die Anderen‘ sind und machen die Personen somit ‚zum Anderen‘. Damit einher geht es in besonderem Maße um Machtfragen und normative Ordnungsmuster, welche die gesellschaftliche Ordnung und ihre Ein- und Ausschlüsse“ legitimieren (Magdlener 2018, o.S.).
Denn die Gegensätze in der Bewertung von Menschen sind bekannt: Willkürlich gesetzte Maßstäbe von Schönheit siegen über Hässlichkeit, Jugend schlägt Alter und intellektuelle Fähigkeiten stehen über Lernschwierigkeiten. Aus dieser Erkenntnis heraus folgt das Fazit, dass bei einer stillschweigenden gesellschaftlichen Übereinkunft für die angeblich berechtigte Dominanz der Kriterien diese zu Ausgrenzung führen müssen. Anders formuliert: Wenn die Inklusion gelingen soll, müssen diese Vorstellungen nachhaltig korrigiert werden. Danach sieht es nicht aus. Im Gegenteil scheint die Zurichtung, die Versuche der Optimierung der Körper grenzenlos.
Selektion zum Familienglück
Am 5. November 1976 erschien in der Tageszeitung ‚Die Welt’ unter der Überschrift „Genetische Beratungsstellen können Leid verhindern“ ein Loblied auf die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik. Das Fazit des Artikels fiel eindeutig aus: „Gar nicht hoch genug einzuschätzen wäre der soziale und menschliche Gewinn. Wenn durch geeignete genetische Beratung die Geburt eines einzigen mongoloiden Kindes verhindert werden kann, wird Unglück von einer Familie abgewendet.“ (Deich 1976) Der Zeitungsartikel dokumentiert, dass es wieder an der Zeit war, die Selektion vom behinderten Nachwuchs öffentlich als Wohltat zu deklarieren.
Die emanzipatorische Behindertenbewegung verlangte in der Auseinandersetzung mit den bedrohlichen Perspektiven der humangenetischen Praktiken in den 1980er Jahren die Schließung aller genetischen Beratungsstellen als eine moderne Variante der Selektion vom Nachwuchs mit bestimmten Besonderheiten. Eine der Begründungen: Zukünftig werden behinderte Menschen zusätzlich das Stigma tragen, nicht rechtzeitig erkannt worden zu sein. Aus gegenwärtiger Sicht ist die Prophezeiung wahr geworden, berichten doch immer häufiger Mütter mit einem behinderten Kind von der irritierten Frage von Nachbarn oder Verwandten, ob ‚das‘ denn heute noch sein muss. Die Humangenetiker dagegen können zufrieden sein und sich verbale Behindertenfreundlichkeit leisten. Denn die Perspektive aus dem Paradigmenwechsel gegen Ende der fünfziger Jahre hat sich weitgehend erfüllt, die ‚Eugenik von unten’ statt staatlicher Zwangsmaßnahmen ist im Alltag angekommen: „Stell Dir vor, es ist Inklusion und niemand ist mehr da!“ – dieser Satz ist mit Blick auf die ‚Eugenik von unten’ so unsinnig nicht: Immerhin neun von zehn Frauen entscheiden sich inzwischen bei der Diagnose ‚Trisomie 21’ nach einer Beratung zum Schwangerschaftsabbruch. Das, obwohl die Kinder mit der ‚Trisomie 21‘ so etwas wie das fröhliche Gesicht der Inklusions-Anzeigen sind. Ehrlich gesagt heißt das: Wir wollen Inklusion, aber keine behinderten Menschen.
Stimmen aus der Behindertenbewegung melden Zweifel an der Behauptung an, dass es in diesen Zusammenhängen eine objektive Beratung geben könne. Dagegen spricht allein schon die Erfahrung, regelmäßig mit abwertenden Reaktionen und Ansichten konfrontiert zu werden – trotz aller Ansätze, die Theorie und Praxis von Normalisierung und Integration versprachen.
Der andere Blick auf Behinderung
„Wenn Blicke töten könnten …“ sagt der Volksmund und meint damit, dass jemand sein Gegenüber wütend oder verächtlich anschaut. Das Angesehen-Werden hat individuell und für die Einordnung von Menschen in vorbestimmte Gruppen eine große Bedeutung. Der erste Blick auf ein Gegenüber ruft Bilder und Einschätzungen ab, die mit verborgenen, oft zementierten Kriterien verbunden sind. Nach der US-amerikanischen Autorin der Disability Studies, Rosemarie Garland-Thomson, lassen sich vier Formen der Wahrnehmung behinderter Menschen beschreiben. Demnach gibt es den verwunderten, den sentimentalen, den exotischen und den positiv beschriebenen realistischen Blick. Jede Form des Schauens kennzeichnet zugleich Distanz und Nähe zwischen Betrachter und Angeschauten. Und sie alle entlarven die fest gefügten Muster der Wahrnehmung. Entsprechend schwankt die mediale Darstellung behinderter Frauen und Männer noch immer zwischen Tragödie und Superheld.
Jahr für Jahr strömen unzählige Besucher in den Pariser Louvre, um die Schönheit der Venus von Milo zu bewundern. Der Literaturwissenschaftler Lennard Davis beschrieb die Statue realistisch: „Sie hat keine Arme und keine Hände, wenn auch der Stumpf ihres rechten Oberarms bis zu ihrer Brust geht. Ihr linker Fuß wurde durchtrennt und ihr Gesicht ist voller Narben, die Nasenspitze ist verletzt und an der Unterlippe fehlt ein Stück. Glücklicherweise wurden die Gesichtsverstümmelungen behandelt und sind kaum noch sichtbar. Nur noch einige kleinere Narben fallen bei näherem Hinsehen auf. Der große Zeh ihres rechten Fußes ist abgeschnitten und ihr Torso ist mit Narben bedeckt. Zwischen ihren Schulterblättern gibt es eine besonders große Narbe, eine andere bedeckt ihre Schulter und eine dritte findet sich auf der Spitze ihrer Brust, bei der die linke Brustwarze herausgerissen ist“ (Davis zit, nach Waldschmidt 2006, 1). Weil die Venus als Inbegriff weiblicher Schönheit gilt, sehen die Besucher eine Schönheit und keine Venus, die verletzt, verstümmelt oder körperbehindert ist. Für das vorgezeichnete Bild werden unbewusst Ersatzteile zur Perfektion in den Blick genommen, damit Vorstellung und Realität sich fügen. Bei realen behinderten Personen funktioniert das nicht, weil niemand lernt, dass Behinderung schön ist.
Seit der Antike sind die Versuche bekannt, den (politischen) Gegner der Lächerlichkeit preiszugeben, indem er überzeichnet abgebildet wird. Dabei fließen in unterschiedlichen Epochen das Komische, Lächerliche, Hässliche und Behinderung immer wieder ineinander. Die „Karikatur orientiert sich an moralischen und körperlichen Auffälligkeiten, wobei körperliche Missbildungen und auffällige Proportionen übertrieben dargestellt werden“ (Gottwald 2013, 118). Spätestens im 18.Jahrhundert tat sich eine neue Variante der Karikatur auf: Krüppel, Gichtkranke oder Bucklige galten auch ohne Überzeichnung ihrer Besonderheit als Karikatur, nämlich als leibhaftige Karikatur der Natur. Physische und psychische Auffälligkeiten wurden fortan mit Wertmaßstäben von Ästhetik und Moral vermengt. Behinderung wird mit Attributen wie Ekel und Abscheu verbunden, hässlich und lächerlich fügen sich in der Wahrnehmung zusammen. Dieser Zusammenhang von Hässlichkeit und Behinderung hat bis in die 1980er Jahre Geltung, die „Verbrüderung von Schönheit und Moral“ ist noch heute aktuell (ebd., 130). Eine behinderte Person beschreibt die verletzende Wirkung mit den folgenden Worten: „Mich unterschätzen sie viel, die Leute, durch mein Aussehen und so. So: Da, Tschopperl“. Das bedeutet so viel wie armes, kleines Dummerchen. „Da unterschätzt man mich jetzt, jetzt passiert’s mir auch, teils. Aber, ja, viel unterschätzt. Und ja, und Gott sei Dank hab ich das trotzdem durchgesessen. Aber Unterschätzung und Nicht-Schätzen der Behinderten, das tut schon weh, wenn man das mitkriegt. Ich hab so viel, bin so viel unterdrückt worden“ (Kremsner 2017, 176).
Als integriert gilt, wer sich so verhalten kann, wie es vorgezeichnet und erwartet wird. Damit übt der unreflektierte Integrationswille mit seinen Werten und Normen der Leistung, des Verhaltens oder des Aussehens einen enormen Anpassungsdruck aus. Sich dem zu beugen, setzt für behinderte Menschen die Verleugnung von Teilen ihrer Identität voraus. Das hat mit gleichberechtigten Möglichkeiten und selbstbewussten Handeln nichts zu tun. Dagegen steht die umfassende Definition von Selbstbestimmung, die ursprünglich aus der us-amerikanischen Independent-Living-Bewegung kommt: „Selbstbestimmt Leben heißt, Kontrolle über das eigene Leben zu haben, auf der Grundlage von Wahlmöglichkeiten zwischen akzeptablen Alternativen, die die Abhängigkeit von den Entscheidungen Anderer im Alltag minimieren. Das schließt das Recht ein, seine eigenen Angelegenheiten selbst regeln zu können, an dem öffentlichen Leben der Kommune teilzuhaben, verschiedene soziale Rollen wahrnehmen und Entscheidungen fällen zu können, ohne dadurch in die psychologische oder körperliche Abhängigkeit Anderer zu geraten. Unabhängigkeit ist ein relatives Konzept, das jeder persönlich für sich selbst bestimmen muss“ (Frehe 2008, 9). Bis zum Erreichen dieses Zieles ist es allerdings noch ein weiter Weg.
Udo Sierck Jg. 1956, Dipl.-Bibliothekar, seit Ende der 1970er Jahre ein Protagonist der emanzipatorisch-politischen Behindertenbewegung, Dozent an der Ev. Hochschule Darmstadt und der Kath. Hochschule Münster; Autor zahlreicher Bücher, aktuelle Publikation: Bösewicht – Sorgenkind – Alltagsheld. 120 Jahre Behindertenbilder in der Kinder- und Jugendliteratur (2021). www.udosierck.com
Literatur
Ärztekammer Nordrhein (2018): Häusliche Gewalt und Kindeswohl: Mehr Rechtssicherheit für behandelnde Ärzte. Pressemitteilung vom 16. November 2018.
Clausen, Jens (2013): Inklusion – einfach machen (?!?), Vortrag in Gotha am 14. März 2013.
Decker, Oliver/Brähler, Elmar (Hg.)(2018): Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft, Gießen 2018.
Deich,Friedrich (1976): Genetische Beratungsstellen können Leid verhindern. In: Die Welt v. 05.11.1976.
Finzen, Asmus (2014): Nehmen Vorurteile zu? In: Dr.med. Mabuse – Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe, Nr. 207, Januar/Februar 2014.
Frehe, Horst (2008): Was helfen bedeutet – eine kritische Auseinandersetzung mit der Helferrolle. Vortrag, Zentrum für Disability Studies, Universität Hamburg.
Glammeier, Sandra (2018): Machtmissbrauch in Institutionen für Kinder und Erwachsene mit Behinderungen. In: Gemeinsam leben. Zeitschrift für Inklusion, Nr. 1/2018.
Goffman, Erving (2014): Stigma – Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, 22. Aufl., Frankfurt a.M.
Gottwald, Claudia (2013): Behinderung in der Karikatur. Zum Verhältnis von Hässlichkeit, Komik und Behinderung in der Geschichte der Karikatur. In: Ochsner, Beate/Grebe, Anna (Hg.), Andere Bilder, Bielefeld.
Grimm, Imre (2020): Kein Besuch, kein Garten, keine Sonne. In: Frankfurter Rundschau vom 27. April 2020.
Heitmeyer, Wilhelm (Hg.)(2012): Deutsche Zustände. Folge 10, Berlin.
Kampagne ‚Kein Raum für Missbrauch‘ (2018). Flyer, Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Berlin.
Kremsner, Gertraud (2017): Vom Einschluss der Ausgeschlossenen zum Ausschluss der Eingeschlossenen. Biographische Erfahrungen von so genannten Menschen mit Lernschwierigkeiten, Bad Heilbronn.
Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland (2012): Eine repräsentative Untersuchung im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Kurzfassung der Ergebnisse, Bielefeld.
Magdlener, Elisabeth (2018): Über Körper, kulturelle Normierung und die Anforderung einer „Kultur für alle“ im Kontext von Dis_ability. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten #09, https://www.p-art-icipate.net/ueber-koerper-kulturelle-normierung-und-die-anforderung-einer-kultur-fuer-alle-im-kontext-von-dis_ability (Abruf: 22.09.2018)
Rommelspacher, Birgit (2011): Zwischen Irritation, Fürsorge und Aggression. Zum Umgang mit behinderten Menschen. Vortrag, Zentrum für Disability Studies, Universität Hamburg.
Szent-Ivanyi, Timot (2012): Unterernährt, wundgelegen, festgeschnallt. In: Frankfurter Rundschau v. 25.04.2012.
Vates, Daniela (2018): „Die AfD-Anfrage erinnert an Nationalsozialismus.“ Interview mit dem Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes. In: Frankfurter Rundschau vom 23. April 2018.
Waldschmidt, Anne (2006): Körper – Macht – Differenz: Anschlüsse an Foucault in den Disability Studies. Vortrag, Zentrum für Disability Studies, Universität Hamburg.
Waldschmidt, Anne (2007): Die Macht der Normalität. Mit Foucault (Nicht)-Behinderung neu denken. In: Anhorn, Johannes/Bettinger, Frank/Stehr, Johannes (Hg.): Foucaults Machtanalytik und Soziale Arbeit. Eine kritische Einführung und Bestandsaufnahme. Wiesbaden.
Waldschmidt, Anne (2009): Disability Studies. In: Dederich, Markus/Jantzen, Wolfgang (Hg.): Behinderung und Anerkennung, Bd. 2, Stuttgart.