Racial Profiling als Menschenrechtsproblem
Racial Profiling ist ein Thema, das die zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit und auch den Bundestag in letzter Zeit intensiv beschäftigt hat und auch in Zukunft beschäftigen wird. Ende September noch bemängelte die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI)i, dass Deutschland der früheren Kommissionsempfehlung, eine Studie zu Racial Profiling in den Landes- und Bundespolizeibehörden durchzuführen, bis heute nicht nachgekommen ist. Nun liegt eine richtungweisende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gegen Deutschland vor: Basu v. Deutschland.ii In seinem Urteil stellt der EGMR eine Verletzung des Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK fest, weil die deutschen Gerichte in einem indizstarken Vorfall des Racial Profiling nicht wirksam ermittelt haben, und es dabei an einer geeigneten unabhängigen Ermittlungsstelle für polizeiliches Fehlverhalten fehlte.
Der Beitrag stellt zunächst die relevanten völkerrechtlichen Vorschriften, insbesondere die Antirassismuskonvention (ICERD) sowie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), dar. Im Anschluss daran wird das Urteil Basu v. Deutschland u.a. im Hinblick auf die strategische Prozessführung, die dem Urteil zugrunde liegt, als auch die Argumentation des Gerichts diskutiert, um es dann in den Kontext der deutschen Rechtsprechungspraxis zu Racial Profiling einzuordnen.
I. Das rechtliche Gerüst rund um Racial Profiling auf internationaler Ebene – ein Überblick
Polizeiliche Handlungen sind als staatliche Eingriffe in die Grund- und Menschenrechte rechtfertigungsbedürftig. Identitätskontrollen gehören zu diesen rechtfertigungsbedürftigen Eingriffen. Finden diese sogenannten verdachtsunabhängigen Polizeikontrollen, die in der Regeliii nicht-weiße Personen betreffen, aus rassistischen Beweggründen statt, so handelt es sich um sogenanntes Racial Profiling. Racial Profiling kann dabei als Teil des institutionellen Rassismus innerhalb der Polizei eingeordnet werden.
Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse ist im Völkerrecht allgegenwärtig. Im Rahmen einer völkerrechtsfreundlichen und -konformen Auslegung wirkt es sich unmittelbar in der Anwendung des nationalen Rechts aus. Für Deutschland ergibt sich daraus die rechtliche Verpflichtungen, Racial Profiling zu unterbinden.
1. Antirassismuskonvention (ICERD)
Das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von rassischer Diskriminierung vom 21. Dezember 1965 (International Convention on the Elimination of Racial Discrimination, ICERD)iv gilt seit der Ratifikation Deutschlands als Bestandteil des bundesdeutschen Rechts und erzeugt damit unmittelbare Wirkung.v Es richtet sich gegen jede Art rassischer Diskriminierung inklusive solcher, die von staatlichen Institutionen wie der Polizei ausgeht.
Gemäß Art. 1 Abs. 1 ICERD ist unter rassischer Diskriminierung
„jede auf der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, der nationalen oder ethnischen Herkunft beruhende Unterscheidung, Ausschließung, Beschränkung oder Bevorzugung zu verstehen, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass dadurch ein gleichberechtigtes Anerkennen, Genießen oder Ausüben von Menschenrechten und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder in jedem sonstigen Bereich des öffentlichen Lebens vereitelt oder beeinträchtigt wird“.
Art. 1 Abs. 1 ICERD legt also ein differenziertes Verständnis von Diskriminierung zugrunde; insbesondere verdeutlicht er, dass Rassismus kein Problem individueller Vorurteile darstellt, sondern institutionell und strukturell in der Gesellschaft verankert ist, einschließlich in staatlichen Einrichtungen wie der Polizei.
Art. 2 Abs. 1 ICERD normiert staatliche Verpflichtungen in Bezug auf die Bekämpfung von rassischer Diskriminierung und ist damit charakteristisch für ein Menschenrechtsregelwerk. Im Rahmen von rassistischer Polizeiarbeit normiert Art. 2 Abs. 1 lit. c ICERD die Verpflichtung, staatliche Politiken im Hinblick auf Rassendiskriminierung zu überprüfen.vi In diesem Kontext kann auch die Forderung nach unabhängigen Ermittlungsstellen in Bezug auf das Handeln der Polizei sowie eine Beweislastumkehr in Bezug auf die Frage, ob eine rassische Diskriminierung vorliegt, gesehen werden.
2. UN-Ausschuss gegen Rassendiskriminierung (CERD)
Der UN-Ausschuss für die Beseitigung rassischer Diskriminierung (Committee on the Elimination on Racial Discrimination, CERD) ist ein Kontrollgremium, das die Umsetzung und Einhaltung der Antirassismuskonvention durch die Vertragsstaaten überwacht und Empfehlungen abgeben kann.
Im Hinblick auf polizeiliche Praktiken liegen mittlerweile einige Allgemeine Empfehlungen vor, die regelmäßig auf die Dringlichkeit und Notwendigkeit einer rassismuskritischen und menschenrechtsgeleiteten polizeilichen Arbeit hinweisen.vii In Bezug auf die Praxis des Racial Profiling ist insbesondere die Allgemeine Empfehlung Nr. 36 zur Prävention und Bekämpfung von Rassismus durch Justizbeamt*innen von besonderer Bedeutung. In ihr hebt der Ausschuss hervor, dass diskriminierende Kontrollen der Polizei basierend auf „Rasse, Hautfarbe, Abstammung, nationaler oder ethnischer Herkunft“ in den Anwendungsbereich des allgemeinen Diskriminierungsverbotes (Art. 2 ICERD), sowie des Grundsatzes der Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 5 ICERD) fallen, und somit strengstens verboten sind.viii Staaten müssten gegen Racial Profiling vorgehen, indem sie u.a. folgende Maßnahmen ergreifen: Entwicklung von exakten Leitlinien für Personenkontrollen, Menschenrechtsbildung und Sensibilisierung von Polizeibeamt*innen, auch im Hinblick auf intersektionale Diskriminierung sowie die Einführung einer vom Justizapparat unabhängigen Beschwerdestelle.ix
Nicht unbedeutend ist schließlich der Verweis des UN-Ausschusses auf die negativen Folgen von Racial Profiling für Betroffene, der auch für die Argumentation innerhalb von Gerichtsverfahren von besonderer Bedeutung ist: 1) Bestimmte Kategorien von Personen werden durch Racial Profiling überkriminalisiert, 2) Stereotypisierungen und Assoziationen zwischen Straffälligkeit und ethnischer Zugehörigkeit werden verstärkt 3) die Inhaftierungsraten für rassialisierte Gruppen steigen durch Racial Profiling, 4) Angehörige rassialisierter Gruppen sind stärker der Gefahr des Gewalt- oder Amtsmissbrauchs durch die Polizei ausgesetzt, 5) rassische Diskriminierung und Hassstraftaten werden seltener angezeigt und 6) Gerichte verhängen härtere Strafen gegen Angehörige der betroffenen Bevölkerungsgruppen.x
Neben dem CERD ist auf die Arbeit des UN-Menschenrechtsausschussesxi hinzuweisen, der von Staaten regelmäßig verlangt, dass rassistisch motivierte Polizeigewalt durch die Polizei oder andere Staatsorgane unabhängig untersucht und sanktioniert wird.xii
3. Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)
Um das Urteil Basu v. Deutschland des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs einordnen zu können, ist ein Blick auf die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK)xiii unerlässlich. Sie ist das wichtigste regionale Regelungswerk zu Menschenrechten in Europa.xiv Im Hinblick auf institutionellen Rassismus ist insbesondere das Diskriminierungsverbot in Art. 14 EMRK von Bedeutung, das auch in den neuesten Urteilen des Europäischen Gerichtshofs thematisiert wird.
Art. 14 EMRK besagt, dass
„der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten […] ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauungen, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten“ ist.
Aus dem Wortlaut des Art. 14 EMRK geht hervor, dass das Diskriminierungsverbot akzessorischen Charakter im Hinblick auf die in der Konvention anerkannten Rechte und Grundfreiheiten hat. Das heißt, das Diskriminierungsverbot kann zunächst nur in Verbindung mit einem oder mehreren Konventionsrechten gerügt werden, auch wenn die Anforderungen daran im Sinne einer effektivitätsorientierten Auslegung abgeschwächt werden können.xv Deshalb prüft der EGMR in seinem aktuellen Urteil auch Art. 8 in Verbindung mit Art. 14 EMRK.
Grundlegend für die Prüfung einer möglichen Verletzung von Art. 14 EMRK (und auch sonstiger Konventionsrechte) ist die Unterteilung in die Prüfung einer prozeduralen und einer materiellrechtlichen Verletzung. So prüft der Gerichtshof z.B. in Nachova u.a. ./.Bulgarien in einem ersten Schritt hinsichtlich einer möglichen prozeduralen Verletzung von Art. 14 EMRK, inwiefern zuständige Behörden ihrer Pflicht nachgekommen sind, alle möglichen Schritte zu unternehmen, um zu ermitteln, ob und inwiefern rassistische Beweggründe bei der polizeilichen Handlung eine Rolle gespielt haben.xvi In einem zweiten Schritt kann die verfahrensrechtliche Verletzung als Grundlage für die Annahme einer materiellen Verletzung nach Art. 14 EMRK dienen, wobei der Beweisregel beyond reasonable doubt eine zentrale Bedeutung zukommt.xvii Von dieser Regel machte der EGMR in seinem neuen Urteil jedoch keinen Gebrauch und ging nach der Bejahung einer prozeduralen Verletzung von Art. 14 EMRK nicht auf die Frage einer materiellrechtlichen Verletzung ein.
4. Sonstige Vorschriften
Neben den oben dargestellten völkerrechtlichen Verpflichtungen sind auch unionsrechtliche Vorschriften sowie nationale antidiskriminierungsrechtliche Vorschriften im Bereich des Racial Profilings von Bedeutung.
II. Basu ./. Deutschland
Um im Anschluss an die Darstellung der menschenrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands die Tragweite und Bedeutung des Falles Basu ./. Deutschland aus einer Perspektive der strategischen Prozessführung angemessen zu erfassen, ist es unerlässlich, sich zunächst die Umstände des Verfahrens anzuschauen.
Der Kläger Biplab Basu (67 Jahre) ist ein allseits bekannter community worker und ein bekannter Aktivist gegen institutionellen Rassismus. Seit mehr als dreißig Jahren kämpft er gegen strukturelle Diskriminierung. Er berät und begleitet Opfer von rassistischer (Polizei-)Gewalt vor Behörden – auch durch die Gründung der Beratungsstelle Reach Out sowie der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt Berlinxviii (KOP Berlin). Die Kampagne verfolgt das unterstützenswerte Ziel, „auf verschiedenen Ebenen institutionellem Rassismus entgegenzutreten und damit den rassistischen Normalzustand zu durchbrechen“. Dabei geht es sowohl um Racial Profiling als auch die Dokumentation und Aufklärung rassistischer Polizeiangriffe und -übergriffe. So möchte KOP Berlin Opfer von rassistischer Polizeigewalt stärken, Öffentlichkeit generieren, rechtswidrige polizeiliche Praktiken offenlegen ganz allgemein die Polizei in die Verantwortung nehmen. Wer sich mit strategischer Prozessführung auseinandersetzt, kann ein Lied davon singen, wie viel Geduld, Expertise und Durchhaltevermögen (nicht selten länger als 10 Jahre) ein solch langes Verfahren kostet.
1. Der Sachverhalt
Zusammen mit seiner Tochter wurde Biplab Basu 2012 auf der Heimfahrt kurz nach dem Überqueren der tschechisch-deutschen Grenze von zwei Polizeibeamten nach § 23 Abs. 1 Nr. 3 Bundespolizeigesetz (BPolG), der mittlerweile durch den Gerichtshof der Europäischen Unionxix (EuGH) für unionsrechtswidrig erklärt wurde, kontrolliert. Ein Jahr später legte Basu beim Verwaltungsgericht Dresden eine Fortsetzungsfeststellungsklage ein, um die Rechts- bzw. Verfassungswidrigkeit der Identitätsfeststellung im Zug feststellen zu lassen. Er trug vor, in dem Zug seien nur seine Tochter und er kontrolliert worden, und zwar aufgrund ihrer Hautfarbe. Die Polizei bestritt dies und gab an, dass auch andere Fahrgäste kontrolliert worden seien.xx
2. Innerstaatlicher Rechtsweg
Zunächst wies das VG Dresden 2015 die Klage von Biplab Basu als unzulässig ab.xxi Basu hatte auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Identitätskontrolle geklagt. Laut VG Dresden habe dem Kläger bereits ein berechtigtes Feststellungsinteresse für seine Klage gefehlt (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO).xxii Sechs Monate später lehnte das Sächsische Oberverwaltungsgericht den Antrag auf Zulassung der Berufung aus den gleichen Gründen ab.xxiii Das Berufungsgericht merkte in seiner Begründung an, eine solche Kontrolle habe keine stigmatisierende Wirkung, die ein Rehabilitationsinteresse begründen würde, da keine weiteren Anschlussmaßnahmen erfolgt seien und die Identitätskontrolle keine Öffentlichkeitswirksamkeit gehabt hätte. Schließlich ergäben sich aus den Polizeiakten keine Hinweise auf diskriminierendes Verhalten, auch sei die Kontrolle von keinen weiteren Fahrgästen registriert worden. Vor dem Hintergrund der öffentlich gewordenen Fälle von Racial Profilingxxiv und trotz des Hinweises des Klägers, dass er solche Kontrollen nicht zum ersten Mal erlebt habe und dadurch eine Wiederholungsgefahr bestünde, verneinte das OVG in Bautzen sowohl ein Rehabilitations- wie ein rechtliches Feststellungsinteresse. Mit dem Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts war der Weg aufgrund der innerstaatlichen Rechtswegerschöpfung nach Straßburg eröffnet.xxv
3. Das Urteil des EGMR
Der EGMR prüft in seinem Urteil eine mögliche Verletzung von Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK. Nach einer ausführlichen Zulässigkeitsprüfung stellt der Gerichtshof fest, dass eine Identitätskontrolle wohl in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK falle, jedoch nicht jede Kontrolle von Personen, die einer ethnischen Minderheit angehören, auch einen ungerechtfertigten Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK begründen muss. Die Eingriffsschwelle werde allerdings dann erreicht, wenn die kontrollierte Person starke Indizien für eine rassische Diskriminierung vortragen kann.xxvi Der Gerichtshof lehnt sich hier an seine seit der Timishev-Entscheidung etablierte Rechtsprechung an, in der er die Notwendigkeit der äußersten Wachsamkeit gegenüber rassischer Diskriminierung insbesondere im Hinblick auf Studien zu institutionellem Rassismus auch in der Polizei hervorhob.xxvii Eine solche Indizwirkung liege hier vor, weil der Kläger glaubhaft gemacht habe, dass es keinen anderen Grund für die Kontrolle gab als seine Hautfarbe. Auch das Fehlen weiterer objektiver Auswahlgründe in den polizeilichen Akten stütze diesen Verdacht. Schließlich betont das Gericht – im Gegensatz zu den deutschen Instanzgerichten – auch die nachteilige Wirkung der öffentlichen Kontrollen, etwa für das Ansehen und die Selbstachtung des Betroffenen.xxviii
Die eigentliche Begründung des Gerichtshofs fällt relativ kurz aus, nicht zuletzt, weil er sich auf die prozeduralen Aspekte des Diskriminierungsverbots beschränkt. Zum einen hätten es die deutschen Polizeibehörden versäumt, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um zu ermitteln, ob im Falle von Herrn Basu eine diskriminierende Identitätskontrolle stattgefunden hatte oder nicht. Auch die internen behördlichen Ermittlungen zum Kontrollverhalten des handelnden Bundespolizeibeamten konnten den Gerichtshof nicht überzeugen, denn die Unabhängigkeit dieser Ermittlungen sei durch die hierarchische Verwaltungsstrukturen innerhalb der Polizeibehörden in der Praxis nicht gegeben.xxix Zudem warf der Gerichtshof der deutschen Justiz vor, sie habe es trotz des Vorwurfes des Klägers, dass er Opfer von Racial Profiling gewesen sei, versäumt, die erforderlichen Beweise zu erheben und insbesondere die Zeug*innen zu hören, die bei der Identitätskontrolle anwesend waren.xxx
Die Frage nach einer materiellrechtlichen Verletzung des Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK, also ob bei der Identitätsfeststellung von Biplab Basu tatsächlich Racial Profiling stattgefunden hat, ließ der Gerichtshof explizit offen, sehr zum Unverständnis des albanischen Richters Pavli, der ein teilabweichendes Votum abgab. Er wirft der Mehrheitsmeinung in seinem sehr lesenswerten Votum vor, einen prozeduralen Minimalismus zu betreiben. Pavli wendet ein, hier hätte der Gerichtshof durchaus eine materielle Verletzung prüfen und diese auch annehmen können. Erstaunt stellt er die Frage, warum der Gerichtshof die Beweislastumkehr am Anfang einbringt, aber diese für eine materielle Streitentscheidung nicht zur Anwendung kommt. In diesem Fall hätte der Gerichtshof einfach nach Rechtfertigungsgründen für die unmittelbare Ungleichbehandlung von Basu fragen können, wozu die Bundesregierung nichts Substantielles hatte vorbringen können.
4. Die Bedeutung des Urteils für die deutsche Rechtspraxis
Während dieses klarstellende Urteil sicherlich als Erfolg im Kampf gegen Racial Profiling eingeordnet werden kann, ist es angesichts der mittlerweile etablierten Verwaltungsrechtsprechung zu Racial Profiling dennoch ein wenig zu kontextualisieren. Seit dem ersten Koblenzer Beschluss von 2012xxxi bis zum letzten Beschluss des OVG Hamburgxxxii von diesem Jahr liegen mehrere Entscheidungen der deutschen Justiz vor, die aufzeigen, dass auch diese zumindest in Teilen inzwischen eine diskriminierungssensible Entscheidungspraxis entwickelt hat. Hier ist besonders der Beschluss des OVG Nordrhein-Westfalen von 2018 hervorzuheben, in dem das Berufungsgericht eine Diskriminierung auch dann annimmt, wenn eine Maßnahme an die Hautfarbe als einem mitursächlichen – also nicht allein ausschlaggebenden – Kriterium anknüpft.xxxiii Auch der Beschluss des VGH Mannheim von 2018, mit dem die Unionsrechtswidrigkeit des § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG im Anschluss an das EuGH-Urteilxxxiv attestiert wurde, bleibt eine judikative Errungenschaft, die von engagierten Betroffenen und Anwält*innen hart erkämpft wurden.xxxv
Selbst das VG Dresden, das die Klage von Basu 2012 noch als unzulässig abgewiesen hatte, befand 2016 in einem ähnlich gelagerten Fall die Rechtswidrigkeit von Racial Profiling.xxxvi Eine durchaus empfehlenswerte Lektüre, wie das Verwaltungsgericht hier die ganz offensichtlich vom erwünschten Ergebnis her beeinflusste Erinnerung der Erfurter Polizeibeamten auseinandernimmt. In diesem Beschluss stellte das VG Dresden in Anlehnung an das OVG Rheinland-Pfalzxxxvii fest, dass bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine mitursächlichen Anknüpfung an Rasse im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG die Behörde die Darlegungs- und Beweislast dafür trägt, dass keine diskriminierende Auswahlentscheidung getroffen wurde. Diese Rechtsprechung ist inzwischen sogar gesetzlich verankert, wenn auch bisher lediglich auf Länderebene. So schreibt etwa (der von Politik und Polizeigewerkschaften gefürchtete) § 7 Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) Berlin vor, dass die Beweislast bei der Behörde liegt, wenn Tatsachen glaubhaft gemacht werden, die das Vorliegen einer Diskriminierung „überwiegend wahrscheinlich machen“.
In Bezug auf Fortsetzungsfeststellungsklagen, deren Ziel es u.a. ist, die Rechtswidrigkeit einer polizeilichen Maßnahme durch ein Gericht feststellen zu lassen, sendet Straßburg ein eindeutiges Zeichen an die deutschen Gerichte: Bei Verdachtsfällen von Racial Profiling ist stets ein Feststellungsinteresse anzunehmen. Dies kann einerseits mit zahlreichen Studien bezüglich genereller rassistischer Strukturen in der Gesellschaft als auch der Stigmatisierung Betroffener im Sinne einer Wiederholungsgefahr und des Rehabilitationsinteresses als jeweilige Feststellungsinteressen im Sinne des § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO begründet werden. Das steht auch im Einklang mit der oben dargestellten Allgemeine Empfehlung Nr. 36 des Antirassismusausschusses, die die Auswirkungen wie z.B. die Kriminalisierung rassialisierter Gruppen auf den Punkt bringt.xxxviii
Nach alledem bleibt der Hinweis aus Straßburg an Deutschland, dass es an unabhängigen Ermittlungsstellen für polizeiliches Vergehen fehle, aus völkerrechtlicher Sicht die wichtigste uneingelöste Verpflichtung. Laut EGMR genügt dabei eine formale Unabhängigkeit nicht, Ermittlungen müssten darüber hinaus auch tatsächlich unabhängig verlaufen.
5. Muhammed v. Spain
So begrüßenswert die Basu-Entscheidung für die deutsche Praxis erscheint, so enttäuschend wirkt das am gleichen Tag in einem ähnlich gelagerten Fall veröffentlichte Urteil Muhammad./.Spanien, bei dem mit einer knappen Mehrheit von vier gegen drei Stimmen keine Verletzung von Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK festgestellt wurde.xxxix Der pakistanische Kläger mit spanischem Aufenthaltstitel wurde in Barcelona polizeilich kontrolliert. Als er die Polizeibeamten nach dem Grund der Kontrolle fragte, antworteten diese nach seinen Angaben: „Ja, wegen deiner Hautfarbe, und nichts mehr. Ich werde keinen deutschen Bürger anhalten“xl. Nach Angaben der Polizei hingegen wurde der Kläger erst nach provokativen und herablassenden Aussagen einer polizeilichen Kontrolle unterzogen. Es steht Aussage gegen Aussage. Der Kläger durchläuft mit Unterstützung lokaler antirassistischer Organisationen vergeblich alle Behördeninstanzen und bleibt trotz der großzügigen Unterstützung der sehr erfahrenen Open Society Justice Initiative bis zum EGMR erfolglos. Dementsprechend fallen die zwei separaten Sondervoten der Richter Zünd (Schweiz) und Krenc (Belgien) im Ton harsch aus. Beide frisch gekürten Richter wollen vor dem Hintergrund zahlreicher Unregelmäßigkeiten bei den Ermittlungen schlicht nicht nachvollziehen, wie die Mehrheitsmeinung zu dem Ergebnis gelangen kann, dass die Ermittlungen der spanischen Behörden und Gerichte nicht zu beanstanden seien.
III. Alles nur heiße Luft?
Dass die Praxis des Racial Profilings u.a. von Gerichten und Ausschüssen auf nationaler und internationaler Ebene immer wieder als rechtswidrig eingestuft wird, ist nur folgerichtig, stellt sie doch eine besonders intensive Benachteiligung aufgrund der Rasse dar. Folgerichtig ist auch, dass die Anforderungen an das polizeiliche Handeln höher sind, weil die Polizei als Teil der Staatsgewalt das Gewaltmonopol hat.
Als erster Schritt zur wirksamen Bekämpfung von Racial Profiling wäre in Anlehnung an die Formulierung des LADG Berlin eine bundesgesetzliche Grundlage, die die Rechtswidrigkeit des Racial Profilings sowie die Entstehung von Schadensersatzansprüchen für Betroffene auf einfachrechtlicher Ebene normiert, auch um Rechtssicherheit insbesondere für die Betroffenen zu schaffen. Die Einführung eines Verbandsklagerechts für Antidiskriminierungsstellen könnte Betroffene in der Hinsicht entlasten, mehrere Jahre einen Prozess führen zu müssen. Die Einführung unabhängiger Beschwerdestellen ist absolut notwendig, um dem strukturellen Problem des Racial Profilings effektiv entgegenzutreten. Eine Unabhängigkeit kann nur dann gewährleistet werden, wenn auch die personelle und finanzielle Unabhängigkeit sowie eigenständige Ermittlungskompetenzen gegeben sind.xli
Der Fall Muhammad v. Spanien zeigt zudem in Kongruenz mit völkerrechtlichen Pflichten Deutschlands, dass eine Beweislastumkehr in gerichtlichen Verfahren allein nicht ausreicht, da die Polizei sich allzu schnell auf untereinander abgesprochene Schutzbehauptungen verständigen kann. Vielmehr müssen auch solche Behauptungen auf ihre Plausibilität hin überprüft werden, da sich Polizeibeamt*innen sonst allzu schnell aus der Verantwortung ziehen können.
Schließlich ist zu betonen, dass aus polizeilicher Perspektive Menschenrechte nicht als Bedrohung oder Einschränkung hoheitlicher Handlungen betrachtet werden dürfen, sondern als einer der Grundpfeiler der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gesehen werden müssen. Das Urteil sendet dafür – trotz der genannten Kritikpunkte – ein wichtiges Signal für den Kampf gegen Racial Profiling.
Prof. Dr. Cengiz Barskanmaz LL.M., hat eine Professur für Recht der Sozialen Arbeit an der Hochschule Fulda – University of Applied Sciences inne. Er leitet das Projekt „Inklusive Verwaltung“, Teil der InRa Studie „Institutionen und Rassismus“ am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt.
Anmerkungen:
ihttps://www.coe.int/en/web/european-commission-against-racism-and-intolerance/-/council-of-europe-s-anti-racism-commission-assessed-implementation-of-its-priority-recommendations-by-albania-austria-belgium-germany-and-switzerland.
iiEGMR, Urt. v. 18.10.2022 – 215/19, Basu/Deutschland.
iiiEine Ausnahme kann sein, wenn weiße fälschlicherweise für „nicht-deutsch“ oder „nicht-weiß“ gehalten werden.
ivBGBl. 1969 II, S. 961, in der Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten am 15. Juni 1969.
vVgl. dazu ausführlich: Barskanmaz 2019, S. 183–249.
viBarskanmaz 2020, Art. 2 Rn. 5. In Bezug auf die Ausbildung im Menschenrechtsschutz für die Polizei ist insbesondere CERD, Allgemeine Empfehlung Nr. 13 v. 16.03.1993 zu erwähnen.
viiVgl. z.B.: CERD, General Recommendation No. 30 v. 12.03.2004 sowie CERD, General Recommendation No. 31 v. 19.08.2005.
viiiCERD, General Recommendation No. 36 v. 24.11.2020, Rn. 23.
ixCERD, General Recommendation No. 36 v. 24.11.2020, Rn. 39, 41 ff., 46 f., 52 ff., 58 ff.
xCERD, General Recommendation No. 36 v. 24.11.2020, Rn. 30
xiDer UN-Menschenrechtsausschuss, auch bekannt als Ausschuss für bürgerliche und politische Rechte, ist ein Kontrollorgan, welches die Umsetzung und Einhaltung des UN-Zivilpaktes überwacht.
xiiAußerdem fordert der Ausschuss, dass unabhängige Beschwerdestellen eingerichtet werden, damit rassistische Hintergründe eines Falls konsequent von Amts wegen ermittelt werden. Schließlich sollen nach dem Menschenrechtsausschuss Polizist*innen rassismuskritisch geschult werden.
xiiiBGBl. 1952 II, S. 688, 953.
xivSiehe dazu ausführlich: Barskanmaz 2019, S. 251 ff. Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) arbeitet dem EGMR unterstützend zu.
xvSiehe z.B. EGMR, Urt. v. 23.07.1968 – 1474/62, Belgischer Sprachenfall, Rn. 9; zuletzt EGMR, Urt. v. 14.02.2012 – 36571/06, B./Vereinigtes Königreich, Rn. 33 f. So in EGMR, Urt. v. 27.10.1975 – 4464/70, Nationale Belgische Polizeigewerkschaft/Belgien, Rn. 44 f.
xviEGMR, Urt. v. 26.02.2004, Nr. 43577/98 – Nachova u. a./Bulgarien, Rn. 158 f. In dem Verfahren ging es um zwei Rom*nja, auf welche die Militärpolizei unter Verwendung rassistischer Aussagen schoss.
xviiEbd., Rn. 164 – 175.
xixEuGH, Urt. v. 21.06.2017 – C-9/16 – A./Staatsanwaltschaft Offenburg.
xxEbd., Rn. 6.
xxiVG Dresden, Urt. v. 20.05.2015 – 6 K 961/13.
xxiiEin Feststellungsinteresse kann in Fällen von Racial Profiling in Gestalt des Rehabilitationsinteresses und der Wiederholungsgefahr vorliegen (vgl. z.B. VG Hamburg, Urt. v. 10.11.2020 – 20 K 1515/17, Rn. 26).
xxiiiOVG Sachsen, Urt. v. 17.11.2015 – 3 A 440/15.
xxivVgl. z.B. Deutsches Institut für Menschenrechte (DIM): „Racial Profling“ – Menschenrechtswidrige Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1a BPolG, 2013, aufrufbar unter: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/Redaktion/Publikationen/Racial_Profiling_Menschenrechtswidrige _Personenkontrollen_nach_Bundespolizeigesetz.pdf; DeZIM: Rassistische Realitäten. Wie setzt sich Deutschland mit Rassismus auseinander?, 2022, aufrufbar unter: https://www.rassismusmonitor. de/fileadmin/user_upload/NaDiRa/CATI_Studie_Rassistische_Realit%C3%A4ten/DeZIM-Rassismusmonitor-Studie_Rassistische-Realit%C3%A4ten_Wie-setzt-sich-Deutschland-mit-Rassismus-auseinander.pdf.
xxvBVerfG, Nichtannahmebeschluss, 2018, 1 BvR 3196/15.
xxviEbd., Rn. 25.
xxviiEGMR, Urt. v. 13.12.2005 – 55762/00, Timishev et al./Russland.
xxviiiEGMR, Urt. v. 18.10.2022 – 215/19, Basu/Deutschland, Rn. 34.
xxixEbd., Rn. 36.
xxxEbd., Rn. 37.
xxxiOVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 29.10.2012 – 7 A 10 532/12.
xxxiiOVG Hamburg, Urt. v. 31.01.2022 – 4 Bf 10/21.
xxxiiiOVG Münster, Urt. v. 7.08.2018 – 5 A 294/16, BeckRS 2018, 17945.
xxxivEuGH, Urt. v. 21.06.2017 – C-9/16 -.
xxxvVGH Baden-Württemberg, Beschluss v. 13.02.2018 – 1 S 1469/17, openJur 2019, 39752.
xxxviVG Dresden, Urt. v. 02.11.2016 – Az.: 6 K 3364/14.
xxxviiOVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 21.4.2016, NJW 2016, 2820-2830; Rn. 119.
xxxviiiCERD, General Recommendation No. 36 v. 24.11.2020, Rn. 30.
xxxixEGMR, Urt. v. 18.10.2022 – 34085/17, Muhammad/Spanien.
xlEbd., Rn. 6.
xliSiegel, Ohne Beweislastumkehr doch kein Knaller für Racial-Profiling Prozesse: Welchen Reformdruck die Entscheidung Basu v. Deutschland dennoch auslöst, VerfBlog, 2022/10/24, https://verfassungsblog.de/basu-2/, DOI: 10.17176/20221024-230058-0.