Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 237/238: Diskriminierende Realitäten

Vom Argwohn gegen ‚die Armen‘: Plädoyer gegen falsche Kausa­li­täten von Diskri­mi­nie­rung und Armut und für einen neugierigen Blick auf Strategien der alltäg­li­chen Armuts­be­wäl­ti­gung

Inwiefern soziale Herkunft und Armut eigenständige Dimensionen der Diskriminierung darstellen, wird seit einigen Jahren verstärkt in den Sozialwissenschaften diskutiert. Im folgenden Beitrag plädieren die Autorinnen dafür, Armut und Diskriminierung als zwei getrennte, eigenständige soziale Phänomene zu analysieren. Ihnen geht es vor allem darum, die soziale Distanz und den Argwohn gegenüber einem alltäglichen Denken und Verhalten armer Menschen abzubauen, um deren Eigensinn und Eigenlogik anzuerkennen, die im distanzierenden Blick der Mehrheitsgesellschaft (wie auch vieler Sozialwissenschaftler*innen) ignoriert werden.

Diskriminierung und Armut werden häufig entweder nicht miteinander in Verbindung gebracht oder in einer falschen Kausalität betrachtet – so wenn behauptet wird, Armut sei Diskriminierung. Im ersten Teil argumentieren wir dafür, Armut und Diskriminierung als eigenständige, gesellschaftliche Realitäten zu kritisieren, um diskriminierende Ausschließungen verstehen zu können.i Wir regen an, Diskriminierungsforschung klassenanalytisch und in einer doppelten Herrschaftskritik zu fundierenii, da sowohl Armut als auch Diskriminierung politisch hervorgebracht werden. Im zweiten Teil stellen wir heraus, dass neben Diskriminierung auch Argwohn und ein Nicht-Verstehen-Wollen es verunmöglichen, den Alltag Armutsbetroffener in einer horizont-erweiternden Perspektive zu verstehen. Das illustrieren wir anhand von zwei Gruppendiskussionen und zeigen so unter anderem Selbstverständlichkeiten des spontanen Teilens auf.

I. Diskri­mi­nie­rung durch Armut oder Armut durch Diskri­mi­nie­rung?

Innerhalb des kapitalistischen Gesellschaftssystems ist nicht vorgesehen, dass alle Menschen reich werden, freien Zugang zu Bildung erhalten und gleichberechtigt sind. Soziale Ungleichheit, vor allem manifestiert durch Privateigentum, ist Voraussetzung der kapitalistischen Produktionsweise und zugleich ihr Ergebnis. (Vgl. Nuss 2019, 124) Nur dort, wo Menschen kaum Eigentum und kein Vermögen haben, sind sie darauf angewiesen – auch zu schlechten Konditionen – zu arbeiten. Das Interesse privilegierter Klassen ist es, diese Ordnung zu erhalten. Soziale Ausschließungen und strukturelle Hürden sind somit kein Missgeschick, sondern „Medium in der Herstellung und Gewährleistung von gesellschaftlicher »Ordnung« und »Stabilität«“ (Anhorn 2021, 6). Wir möchten zugleich darauf hinweisen, das Menschen grundsätzlich nicht aufgrund ihrer Verhaltens, weil sie zu faul oder zu wenig intelligent sind, sozio-ökonomisch arm sind bzw. werden.iii Klassenverhältnisse werden gesellschaftlich organisiert, beispielsweise durch das Lohnarbeitssystem, durch die Förderung bestimmter Besitzverhältnisse und indem Armutsbetroffenen strukturell finanzielle Ressourcen vorenthalten werden.

Wir sprechen von Ausschließungsprozessen, weil bestimmte, vermeintlich oder tatsächlich erstrebenswerte Lebensweisen verunmöglicht werden, wie die Teilnahme an Freizeitaktivitäten des gesellschaftlichen Lebens (Kino, Theater, Urlaub usw.). Materielle Armut schränkt vor allem den Handlungsspielraum ein, wenn es um lebensnotwendige Versorgung geht (Lebensmittel, Kleidung, Wohnraum, medizinische Versorgung, Bildung). Ausschließungsprozesse schätzen wir als Begriff, weil er die Aufmerksamkeit eben gerade nicht auf die Position einer einzelnen Person, sondern auf einen „ökonomischen, politischen, soziale[n] Prozess“ (Cremer-Schäfer 2008, 162) lenkt. Eine weitreichende Veränderung des Prozesses kann folglich nicht punktuell ansetzen.

Doch nicht nur ökonomische Armut ist Teil der Gesellschaft – auch Diskriminierung ist es: Wie die ökonomische Armut reproduzieren und manifestieren Diskriminierungen eigenständig Zuschreibungen und Ausschließungen.

Diskri­mi­nie­rung als Schauspiel politischer Kunst der Abstands­wah­rung

Zur Veranschaulichung von Ausschließungsprozessen auf finanzieller und auch diskursiver Ebene kann die Debatte um die „neue Unterschicht“ herangezogen werden. Insbesondere seit den 2000er Jahren wird in der Öffentlichkeit ein Schauspiel politischer Kunst der Abstandswahrung zwischen Gesellschaftsgruppen aufgeführt. Übertragen aus dem US-amerikanischen Diskurs um underclass, erstarkte eine Debatte um kulturelle Gegebenheiten armer Menschen, die sich ihre Lage aufgrund individuellen Fehlverhaltens selbst zuzuschreiben hätten. So kam es beispielsweise vom Mitinitiator des Bundesprogramms „Soziale Stadt“ zu Äußerungen um einen angeblichen „Sozialhilfeadel“ in der dritten Generation. Hier gäbe es Menschen, die „gar nicht mehr wüssten, wie es ist, morgens aufstehen, [sich] zu rasieren, vernünftig anziehen und zur Arbeit zu fahren“ (Rolf-Peter Löhr 2002, zit. nach Kessl 2005, 35).

Über die Debatte um die „neue Unterschicht“ und die hier unterstellte ‚Kultur‘ manifestierten sich abwertende Ansichten gegenüber Armutsbetroffenen. Diese diskriminierenden Abwertungen haben historisch zwar eine lange Tradition, wurden durch diese Debatte jedoch aktualisiert. Das Neue bestand in der Zuspitzung der angeblichen Selbstverschuldung: Verhalten – die ‚Kultur‘ – und ökonomische Armut werden miteinander in einen kausalen Zusammenhang gebracht.

Und das nicht ohne Grund: Wohlfahrtsstaatliche Umstrukturierungen wurden u.a. mit der Agenda 2010 begleitend durchgesetzt. Gekoppelt an Abstiegsängste der Mitte und der kulturalisierenden Verbildlichung, auch ‚so zu enden‘, erhält die diskriminierende Verachtung eine soziale Funktion. Mit Loïc Wacquant lässt sich hier von der Produktion politischer Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien sprechen, die auf eine Herbeiführung und Stabilisierung neoliberaler ökonomischer Verhältnisse zielt. Man darf dies als eine „Übung in Staatskunst“ begreifen (vgl. Wacquant 2009, 121). Parallel zur Einführung der Hartz-Gesetze, insbesondere Hartz IV, wurde über die Debatte letztlich ein Streit um die letzten Krümel des andernorts verteilten Kuchens entfacht.

Staat, Politik und Gesell­schaft verursachen Diskri­mi­nie­rung und Armut

Ausschließungsprozesse durch Diskriminierung und Armut sind in Anlehnung an die gouvernementalistischen Überlegungen Michel Foucaults jedoch nicht einzig als Kraft des Staates ‚von oben‘ zu verstehen. Am Beispiel der Klassenjustiz kann gezeigt werden, wie ausschließende Regierungsweisen gewisse gesellschaftlich-gemeinsame Überzeugungen hervorbringen. Ronen Steinke aktualisierte jüngst die Debatte, dass in Prozessen gegen Menschen, die Lebensmittel für den Eigenbedarf stehlen, immer härter entschieden wird (vgl. Steinke 2022, 12). Nichtsdestoweniger kommt es zu einem gesellschaftlichen Aufschrei, wenn sich ‚Kleinkriminelle‘ und ‚Asoziale‘ wieder falsch verhalten.

Diese in der ‚Dominanzgesellschaft‘ geteilten Überzeugungen führen dazu, „dass das Leben in der Normalität sie befugt, die Bedingungen zu diktieren, unter denen sie sich bereit erklären, den Anderen die Tür ein Stück weit zu öffnen und sie gegebenenfalls auch wieder zu schließen“ (Rommelspacher zit. nach Weinbach 2006, 19). Birgit Rommelspacher macht damit auf die Ausgrenzung und Hierarchisierung deutscher Politik und Gesellschaft aufmerksam. Sie weist auf den dynamischen Prozess des „Fremdmachens der Anderen“ hin, durch den eine stete Asymmetrie hergestellt wird. Dominanzgesellschaft und staatliche Institutionen tragen Verantwortung für Armut und Diskriminierung.

Doppelte Herrschafts­kritik als Antwort auf Diskri­mi­nie­rung!

Die bisherigen Überlegungen zeigen, dass Armut ein strukturelles Problem ist. An den strukturellen Ursachen wird gewollt wenig verändert. Damit dies gelingt, wird Diskriminierung als Ausschließungsprozess auf materiell-finanzieller wie diskursiver Ebene produziert. Das geschieht über ‚legitime‘ Formen der Abstandwahrung innerhalb der Gesellschaft. Diskriminierung ist eigenständig, weil sie die Armut nicht hervorruft und sie ist auch keine Folge von Armut. Die Antwort auf die oben aufgeworfene Frage „Diskriminierung durch Armut oder Armut durch Diskriminierung“ lautet daher: weder noch. Wir plädieren dafür, dass der Fokus auf die Strukturen bei der Betrachtung und Bearbeitung von Diskriminierung nicht verloren gehen darf. Wird Diskriminierung als Meinung oder als persönliches Fehlverhalten diskutiert und bearbeitet, suggeriert dies, eine individuelle Verhaltensänderung löse das Problem. Diskriminierung ist aber nicht einfach eine falsche individuelle Zuschreibung; Diskriminierung muss als gesellschaftliche Funktion erkannt werden.

II. Den Alltag Armuts­be­trof­fener als Horizon­t­er­wei­te­rung begreifen

Die kritische Begleitung der oben genannten Debatte zur neuen Unterschicht, wie sie unter anderem in einem Themenheft der Widersprüche (2005) nachzulesen ist, halten wir für wertvoll, weil sie eine unterstellte Lebensweise ‚der Armen‘ strikt zurückweist. Sie verdeutlicht jene strukturelle Komponente zur Erzeugung auch neuer Armutslagen. Es gibt keinerlei empirische Anhaltspunkte dafür, dass Armutsbetroffene eine allen gemeinsame, andere Lebensweise haben, die eine ‚Kultur der Armut‘ bekräftigen würde (vgl. Klein et al. 2005; Schaarschuch 1995). Armutsbetroffene besitzen keine kollektive Kultur, der sie deterministisch unterworfen sind, sie ‚vegetieren‘ nicht einfach ohnmächtig oder passiv (vgl. Rein 2017, 61ff.; Piven/Cloward 1977). Im Gegenteil bewältigen sie alltäglich ihre Armutssituation. Wir möchten behaupten, dass es an der Sichtbarmachung dieser Bewältigung kaum Interesse gibt. Wenn überhaupt, wird diese für die Argumentation genutzt, Menschen in ökonomischer Armut lebten auf eine bestimmte Art und Weise (diskriminierende Funktion) oder Armut sei nicht so gravierend (legitimierend).

Die derzeit populären autobiographischen Erzählungen von Armutsbetroffenen dokumentieren individuelle Bearbeitungsweisen. Sie verdeutlichen nicht nur die Realität der Ausschließungen und wie diese unsichtbar gemacht werden (Brodesser 2021, Mayr 2020, Aumair/Theißl 2020). Sie beschreiben damit, wie Armutsbetroffene ihren Alltag strukturieren und bieten damit die Möglichkeit, anders auf Armutsbewältigung zu blicken.

Den Standpunkt der Dominanz­ge­sell­schaft verlassen

Die Soziologin Dorothy Smith appelliert daran, den eigenen Standpunkt zur Kenntnis zu nehmen und bereit zu sein, diesen zu verlassen. Das Ziel einer Alltagsforschung ist es, den eigenen „Zugriff auf die Welt (…) zu reflektieren zu erweitern und zu vergrößern“ (Smith 1998, 40). Das bedeutet für uns, neugierig zu fragen, wie Armutsbetroffene mit den strukturellen Ausschließungen in Form von Armut und Diskriminierung umgehen. In Anlehnung an die feministisch-marxistische Soziologin illustrieren wir anhand von zwei Ausschnitten aus Gruppendiskussioneniv Situationen des Alltags und versuchen dabei nicht unseren dominanten Blick wirken zu lassen, sondern die Perspektive der Erzählenden zu verstehen.

In der Diskussion erzählen drei Frauen aus zwei unterschiedlichen foodsharing-Initiativen, wie sie Lebensmittel-Abholungen von Supermärkten und Bäckereien sowie deren Weitergabe organisieren: in der heimischen Garage, auf einem öffentlichen Platz oder, wie im hier genannten Beispiel, „auf der Straße“. Die Haupterzählerin in der Sequenz, Tina, lebt mit ihrer kleinen Tochter von Hartz IV.

Die Selbst­ver­ständ­lich­keit des Kofferraums

Tina: Quark und Sahne und Buttermilch und sowas, die hab ich auf der Straße, ich hab den Kofferraum aufgemacht und hab jeden, der vorbeikam, gefragt, ob er was haben möchte. Die Leute haben mich alle angeguckt, umsonst?

Mel: Ja

Tina: Ich muss dazu sagen, ich wohn in [Name eines Stadtteils] da ist dann auch noch so ne leichte Sprachbarriere da, aber es, ich war glaub ich in den ersten zwei Wochen, wie ich da gewohnt hab, ich bin da gerade eingezogen gewesen. Ich war in den ersten zwei Wochen die Verrückte, die aus ihrem Auto Lebensmittel verschenkt (schmunzelt hörbar)

Tina, Mel, Anna: lachen

Der gefüllte „Kofferraum“ erinnert an einen Großeinkauf. Wenn Tina die zum Wegwerfen bestimmten Lebensmittel von den Supermärkten eingesammelt hat, ist er voll. Tina (und in anderen Sequenzen auch die anderen Foodsharer*innen) erzählen, dass die Menge immer zu viel ist für eine Person alleine, zumal die Idee ist, die Lebensmittel weiter zu verteilen. Für das Verteilen öffnet Tina „auf der Straße“ den Kofferraum und fragt die Vorbeikommenden, wer etwas „haben möchte“. Die Foodsharer*innen erheben keinen Anspruch auf Eigentum, sie teilen einfach. Die drei Frauen müssen teils selbst mit ökonomischer Armut umgehen, ein Weiterverkauf der Waren kommt für sie jedoch nicht in Frage. Das Besondere ist für Tina weder die Menge noch die Praxis überhaupt. Das Besondere ist für Tina, dass die Leute erstaunt fragen, ob alles „umsonst ist“. Die Passant*innen sind in einer Situation, die sie nicht einordnen können. Tina vermutet, dass sie für die Leute die „Verrückte“ ist. Ihr ist bewusst, dass sie den Rahmen des Normalen verlässt – aber für sie ist das selbstverständlich. Sie nimmt diese vermutete Zuschreibung als „Verrückte“ mit Humor, schmunzelt hörbar und verteilt unaufgeregt weiter. Sie erzeugt eine Selbstverständlichkeit des Teilens und zerstreut damit den vorübergehenden Argwohn der Personen.

Tina baut jede räumliche Distanz und offenbar selbst „leichte Sprachbarriere“ ab, in dem sie die Lebensmittel einfach allen anbietet. Weder gibt sie lange Erklärungen noch konstruiert sie sich als Retterin, sondern äußert eine einfache und direkte Anweisung: Greift zu! Anders als es von den Tafeln und staatlichen Ämtern bekannt ist, fragt sie nicht nach, wer welchen Pass hat, wo der Wohnsitz ist, welche Sprache gesprochen wird oder ob und wie arm jemand ist. Bedürftigkeit ist für Tina keine Kategorie, die hier von Bedeutung wäre. Sie hilft sich und sie hilft anderen zugleich und zwar in einer alltäglichen, unaufgeregten Art und Weise und produziert dadurch eine neue, solidarische und vor allem öffentliche Normalität. Tina reduziert bestmöglich die Distanz durch eine direkte Kommunikation und Praxis der Enthierarchisierung. Sie etabliert eine neue Selbstverständlichkeit und erweitert so den Horizont der Leute, die sich der Situation öffnen.

Argwohn gegenüber dem (unter­stellten) Alltag Armuts­be­trof­fener

Der Argwohn, mit dem hier Leute Tinas Praxis (eventuell) begegnen, verstellt im Zweifel eine lernende Perspektive. Zuschreibungen und dominante Selbstverständlichkeiten können erst aufbrechen, wenn die Identität und das Handeln anderer zu einem Bezugspunkt werden.v Die Selbstverständlichkeiten der Dominanzgesellschaft machen neue Selbstverständlichkeiten unsichtbar, ganz unabhängig wie und ob diesen diskriminierend begegnet wird. Argwohn spiegelt vielmehr wider, wie offen oder verstellt der Horizont der Leute ist; Argwohn verhindert, nicht-bekannten Praxen neugierig zu begegnen.

Versor­gungs­a­r­beit zwischen Notwen­dig­keit und Hobby

Beim foodsharing organisieren sich Armutsbetroffene eine kostengünstige Versorgung und entwickeln Strategien, mit Armut, Diskriminierung und Argwohn umzugehen. Dafür gibt es auch andere Möglichkeiten, etwa Online-Plattformen für Kleidertausch, die Retro-Kleidung anbieten und sich selbst damit ein nachhaltiges Unternehmensimage geben.vi Die Nutzer*innen kaufen hier ein, auch weil das Geld knapp war/ist:

Tamara: Aber ich muss sagen dieser Nachhaltigkeitsgedanke kam bei mir später ich hab mir damals wirklich die App runtergeladen, weil ich Geld gebraucht hab

Mira: ja ich auch

Tamara: ist einfach so.

Oliver: mh

Tamara: Und mittlerweile muss ich’s nicht mehr aber ich ähm hab da echt Spaß dran

Mira: hm hm/ (bejahend)

Tamara: das ist so wie n Hobby

Tamara erzählt ohne Umschweife, dass sie sich die App aus finanziellen Nöten heraus heruntergeladen hat; auch an anderen Stellen im Verlauf des Gesprächs erfahren wir, dass sowohl sehr frühe Arbeitszeiten und auch der Wohnort die Möglichkeiten eines normalen Konsums für sie erschweren. Das Einkaufen auf der Plattform wird für Tamara entsprechend zu einer Alternative; es ist eben „einfach so“, dass sie das Geld „gebraucht“ hat. Wir wissen nicht, ob sie die Erfahrung gemacht hat, dass sie sich dafür schämen muss oder ob ihr nicht geglaubt wird. Deutlich wird durch die Wiederholung und die Betonung des „einfach so“, dass sie ihre Praxis verteidigt bzw. diese Tatsache unterstreichen will. Als Armutsbetroffene hat sie eine Strategie entwickelt, mit der finanziellen Not umzugehen und trotzdem Kleidung (aber auch Parfum, Accessoires o.ä.) zu erwerben. Noch eindrücklicher ist diese Sequenz, weil sich die drei Personen, Tamara, Mira und Oliver, nicht kennen. Sie treffen sich in der Gruppendiskussion das erste Mal, können jedoch sofort offen auf gemeinsame Erfahrungen zurückgreifen. Das Teilen schafft Solidarität. Die beiden Frauen lassen eine spontane Beziehung erahnen, indem sie auf ihre Erfahrungen verweisen. Ihre Beziehung besteht aus einer Zustimmung, sie stärken sich den Rücken bei der Äußerung, auf der Plattform aus finanziellen Gründen einzukaufen. Oliver hingegen, der im Verlauf der Diskussion das Gespräch dominiert, kann oder will hier nichts beitragen. Wie auch in der vorherigen Sequenz mit den Foodsharer*innen wird deutlich, dass Armutsbetroffene sich befreien aus der Zuschreibung als unfähige, arme oder abhängige Menschen. Die Befreiung beginnt dort, wo Menschen bekannter- oder unbekannterweise Gemeinschaft herstellen und gemeinsame Erfahrungen teilen.vii Im weiteren Verlauf des Gesprächs erörtern Tamara und Mira, wie sie neue Tauschpartner*innen finden, wie sie mit Problemen umgehen. Sie nutzen das Gespräch, um sich auszutauschen und ihre Alltags-Praxis vorzustellen, nicht um den Forschenden zu gefallen.

Für Tamara entwickelt sich das Einkaufen auf der Plattform erst im Laufe der Zeit zu einem „Hobby“, während es für die Dominanzgesellschaft von vornherein der Freizeit zuzuordnen ist: Günstig shoppen und dabei nachhaltig sein, ist das Gefühl, das versprochen wird. Für Tamara fällt der auch Freude machende Konsum allerdings mit notwendiger Versorgungsarbeit zusammen.

Fazit: Gegen den Argwohn

Argwohn kann die Chance verbauen, etwas Anderes kennen zu lernen und als selbstverständlich anzunehmen. Dies wird vor allem in der ersten Sequenz deutlich. Natürlich geht es nicht darum, einfach jede irritierende Praxis als etwas Neues und Positives zu bewerten. Aber ein zweifelndes, misstrauisches oder auch irritierendes Ablehnen, kurz ein Argwohn, kann den Blick auf Neues verstellen. Gerade weil Armutsbetroffene Strategien finden, Gemeinschaften bilden und teilen, scheint es ratsam, davon lernen zu wollen. Allerdings möchten wir festhalten: Es ist eben nicht nur Argwohn, sondern in der Realität oftmals Diskriminierung, die Armutsbetroffene erleben. Angesichts der Unterschichtsdebatte wären eher diskriminierende Reaktionen zu erwarten, wie zum Beispiel ‚Sozialschmarotzer verteilen verfaultes Essen‘ oder ‚Geht doch arbeiten, statt den ganzen Tag zu shoppen‘.

III. Anerkennung der Alltags­be­wäl­ti­gung

Der Forschungsansatz, Alltagshandeln zu untersuchen, stellt heraus, dass sich Bewältigungsstrategien von Armutsbetroffenen weder verallgemeinern lassen, noch sich eine angebliche Kultur der Armut feststellen lässt. Zugleich ermöglicht der Ansatz, strukturelle Diskriminierung sowie Armut nicht zu unterschlagen. Es geht nicht darum, Armut zu legitimieren oder zu belegen, dass Armutsbetroffene gar nicht so blöd sind, sondern vielmehr darum, etwas verstehbar zu machen und damit auch den eigenen kritischen Horizont zu erweitern. Dorothy Smith (1998) argumentiert in ihren Überlegungen zur Alltagsperspektive, dass jede Forschung über Frauen – wie hier jede Forschung über Armutsbetroffene – nur schlechte Ergebnisse hervorbringen kann, wenn sie versucht zu klassifizieren oder mit den eigenen bekannten Begriffen zu beschreiben. Dies lässt sich nur vermeiden, wenn Forschende ein Interesse am Alltag von Menschen haben, an Wissen und Erfahrungen, die sie selbst nicht haben können und diese lesbar machen wollen für sich und für andere.

Nicht-­Ver­stehen wollen und Argwohn

Ein solcher Alltagsblick wird verhindert, wenn Strategien und Praxen unsichtbar gemacht werdenviii oder wenn Argwohn den Blick verstellt. Die Soziologin Ellen Bareis (2020) arbeitet das Unsichtbar-Machen und Nichtverstehen-Wollen von alltäglichen Strategien heraus – was wir um den Begriff des Argwohns erweitern wollten. Bareis formuliert in Anlehnung an Nancy Fraser, dass Gesellschaft verstanden werden kann als „Raum, in dem die Konflikte“ ausgetragen werden. Sie macht deutlich, dass kritische Untersuchungen das Handeln als solches erkennen und überdies als Konfliktbearbeitung analysieren müssen. Leute, die sich beispielsweise das Recht nehmen „trotz Gentrifizierung in der Mitte des Quartiers zu bleiben, das Recht, wenn nötig, Grenzen zu überschreiten, aus dem ländlichen Raum in die Metropole zu gehen oder in ein anderes Land, auf einen anderen Kontinent, trotz fehlender sozialer Rechte eine Gesundheitsversorgung oder eine Schulbildung für die Kinder zu organisieren“ (Bareis 2020, 35) sind Beispiele für ein solches Handeln; ein Handeln, das sowohl eine eigensinnige Strategie im Umgang mit der eigenen Armut verdeutlicht als auch konflikthaft ist. Im Ergebnis entstehen neue Formen von Gemeinschaft, Ansätze der Selbstorganisation oder des solidarischen Miteinander Teilens.

Es geht nicht darum, mit dieser Perspektive Armut eine (neue) Legitimität zu verleihen (vgl. Hezel 2021, 263). Eine Einordnung in die Verhältnisse bleibt unabdingbar, um die Funktion der Armutsbetroffenen als Klassen im System in Kritik und Praxis nicht aus dem Blick zu verlieren.

Gegen einen naiven Forts­chritts­glauben an Diskri­mi­nie­rungs­in­ter­ven­tion

Für die Entwicklung konkreter Interventionen heißt das: Nicht jede strukturelle Diskriminierung wurde nur ‚noch‘ nicht behoben, manche folgen schlicht einer politischen Agenda. An dieser Stelle ist der Verweis auf die Einführung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) interessant. Die Publizistin Heike Weinbach macht darauf aufmerksam, dass das deutsche Antidiskriminierungsgesetz mit dreijähriger Verspätung 2006 und erst nach Androhung einer hohen Geldstrafe durch den Europäischen Gerichtshof verabschiedet wurde. Kurz vor der Verabschiedung wurde das von der EU geforderte Gesetz zudem in Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz umbenannt (vgl. Weinbach 2006, 29). Man könnte fast meinen, dass sich damit der Behauptung erwehrt werden sollte, in Deutschland könne es Diskriminierung geben. Hier wird kategorisch der Blick auf diskriminierende Strukturen verstellt. Gesetze können wichtige Stellschrauben in der antidiskriminierenden Intervention darstellen. Gleichzeitig darf, unter Berücksichtigung der oben aufgezeigten doppelten Herrschaftskritik, die Hoffnung nicht allein auf ihnen ruhen. In Kenntnis des politischen und dominanzgesellschaftlichen Interesses müssen Interventionen entsprechend reflexiv gedacht werden.

Hannah-Maria Eberle M.A., promoviert zu gesellschaftlicher Wohlfahrtsproduktion an der Universität Wuppertal, lehrt derzeit an der FH für Soziale Arbeit Wien, und beschäftigt sich mit Ausschließungsprozessen von Armutsbetroffenen und freiwilligem Engagement in Projekten an der Grenze zur Sozialen Arbeit. Zuletzt erschien gemeinsam mit Jana Kavermann und Philipp Schäfer der Text „Vom hölzernen Weg zur obersten Sprosse – Zu den Parallelen der Aufstiegslogik in Sozialer Arbeit und Klassismusdebatte“ im forum 4/2021, herausgegeben von BdWi sowie „Kapitalistische Strukturlogiken in der neuen Mitleidsökonomie“, in femina politica 1-2022. Kontakt: hannah-maria.eberle@uni-wuppertal.de.

Jana Kavermann M.A., Dipl.-Soz.Päd./Soz.Arb. promoviert zum Fachdiskurs um Klasse in der Sozialen Arbeit an der Universität Wuppertal. Neben Fragen zu einer klassenanalytischen, reflexiven Sozialen Arbeit, setzt sie sich derzeit mit Wissensorganisation in transitiven Strukturen auseinander und interessiert sich dabei insbesondere für umkämpfte organisationale Räume. Zuletzt erschien gemeinsam mit Hannah-Maria Eberle und Philipp Schäfer der Text „Vom hölzernen Weg zur obersten Sprosse – Zu den Parallelen der Aufstiegslogik in Sozialer Arbeit und Klassismusdebatte“ im forum 4/2021, herausgegeben von BdWi.
Kontakt: jana.kavermann@uni-wuppertal.de.

Literatur

Anhorn, Roland/Stehr, Johannes (Hrsg.) (2021): Handbuch Soziale Ausschließung und Soziale Arbeit, Perspektiven kritische Sozialer Arbeit. Wiesbaden: Springer VS.

Aumair, Betina/ Theißl, Brigitte (2020): Klassenreise: wie die soziale Herkunft unser Leben prägt, Zweite unveränderte Auflage. ed. ÖGB Verlag, Wien.

Bareis, Ellen (2020): Soziale Ausschließung und die Grenzen der repräsentativen Demokratie. Die Perspektive from below. In: Die Armutskonferenz (Hrsg.): Stimmen gegen Armut: Weil soziale Ungleichheit und Ausgrenzung die Demokratie gefährden. Norderstedt: BoD – Books on Demand,S. 27–28.

Brodesser, Daniela (2021): Armut ist keine soziale Hängematte. In: Anschläge https://anschlaege.at/armut-ist-keine-soziale-haengematte/

Cremer-Schäfer, Helga (2008): Situationen sozialer Ausschließung und ihre Bewältigung durch die Subjekte. In: Anhorn, Roland, Bettinger, Frank, Stehr, Johannes (Hrsg.): Sozialer Ausschluss und Soziale Arbeit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 161–178.

Foucault, Michel (2011): Die Regierung des Selbst und der anderen. I. Vorlesungen am Collège de France 1982/83. Berlin: Suhrkamp Verlag.

Hertel, Florian (2020): Rezension zu „Bestrafen der Armen“ von Loïc Wacquant,: https://www.pedocs.de/volltexte/2020/18653/pdf/EWR_2010_3_Hertel_Rezension_Loic_J_D_Bestrafen_der_Armen.pdf

Hezel, Lena (2021): Ist Armut Diskriminierung? – ein Diskussionsbeitrag für die Soziale Arbeit. In: Bauer/Kechaja/Engelmann/Haug (Hrsg.): Diskriminierung und Antidiskriminierung: Beiträge aus Wissenschaft und Praxis, transcript Verlag.

Kavermann, Jana, Hannah-Maria Eberle und Philipp Schäfer (2021): Vom hölzernen Weg zur obersten Sprosse. Zu den Parallelen der Aufstiegslogik in Sozialer Arbeit und Klassismusdebatte. In: Forum Wissenschaft 4 – Themenschwerpunkt »Klassismus«.

Kessl, Fabian (2005): Das wahre Elend? Zur Rede von der „neuen Unterschicht“. In: Widersprüche 98, S. 29–42.

Klein, Alex, Sandra Landhäußer und Holger Ziegler (2005): The Salient Injuries of Class: Zur Kritik der Kulturalisierung struktureller Ungleichheiten. In: Widersprüche 98, S. 45–74.

Mayr, Anna (2020): Die Elenden. München: Hanser-LiteraturVerlage

Nuss, Sabine (2019): Keine Enteignung ist auch keine Lösung. Berlin: Dietz Verlag.

Piven, Frances Fox / Cloward, Richard (1977): Aufstand der Armen, 1. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, Frankfurt am Main.

Rein, Harald (2013): Dreißig Jahre Erwerbslosenproteste. Neu-Ulm: AG SPAK

Rein, Harald (2017): Wenn arme Leute sich nicht mehr fügen..! Neu-Ulm: AG Spak.

Rommelspacher, Birgit (2002): Anerkennung und Ausgrenzung. Deutschland als multikulturelle Gesellschaft, Frankfurt/M., New York: Campus Verlag.

Schaarschuch, Andreas (1995): Spaltung der Gesellschaft und soziale Bürgerrechte. In: Widersprüche 54, S. 47–59.

Scherr, Albert (2010): Diskriminierung und soziale Ungleichheiten. In: Hormel, U., Scherr, A. (eds) Diskriminierung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Smith, Dorothy (1998): Der aktive Text. eine Soziologie für Frauen. Hamburg: Argument Verlag

Steinke, Ronen (2022): Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz. Berlin: Berlin Verlag.

Wacquant, Loïc (2009): Bestrafen der Armen. Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit. Leverkusen: Verlag Barbara Budrich.

Weinbach, Heike (2006): Social Justice statt Kultur der Kälte. Alternativen zur Diskriminierungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Manuskripte/Manuskripte_63.pdf

Anmerkungen

iIn Anlehnung an Albert Scherr (2010), der auf die Aufspaltung zwischen Diskriminierung und Ungleichheiten und deren sozialhistorische Bedingtheit aufmerksam macht.

iiIn ähnlicher Weise argumentiert Lena Hezel (2021) in ihrem Beitrag „Ist Armut Diskriminierung?“, den wir wärmstens empfehlen wollen.

iiiAusführlicher formulieren wir das Argument in unserem Beitrag „Vom hölzernen Weg zur obersten Sprosse. Zu den Parallelen der Aufstiegslogik in Sozialer Arbeit und Klassismusdebatte“ im Themen-Heft Klassismus des Forum Wissenschaft, 2021, gemeinsam mit dem Kollegen Philipp Schäfer.

ivIm Rahmen ihres Dissertationsprojekts „Gesellschaftliche Wohlfahrtsproduktion“ führte Hannah Eberle 2021 fünf Gruppendiskussionen mit Versorgungsangeboten und -projekten durch, u.a. mit einer Suppenküche, einer foodsharing-Initiative und mit Nutzer*innen von Secondhand-Online-Plattformen. Die Dissertation beinhaltet eine Analyse der kapitalistischen Strukturlogiken in den Angeboten/Projekten und befasst sich mit dem Potenzial einer anti-etatistischen, gesellschaftlichen Perspektive auf Wohlfahrt.

vDass Identität und Handeln anderer ein Bezugspunkt werden sollte, formulieren Manuela Hofer und Marc Diebäcker (2022) ganz ähnlich.

viVgl. u.a. der größte Online Second-Hand Anbieter ‚vinted‘: https://www.vinted.de/about.

viiEdward P. Thompson (1963) hat bei seinen Beobachtungen und Schlussfolgerungen zur „the making of the english working class“ darauf hingewiesen, wie unabdingbar das Teilen von Erfahrungen ist, um eine widerstandsfähige und klassenkämpferische Perspektive zu entwickeln. Neuere Forschungen zu u.a. Black Lives Matter unterstreichen diese Notwendigkeit.

viiiHarald Rein stellt die These auf, dass es auch eine „Angst vor der Selbstorganisation armer Menschen“ gibt (Rein 2017: 54), da ihre Kritik auch immer an die grundsätzliche Kritik von Lohnarbeit, von Ausbeutung und einer bestimmten normalen Lebensweise erinnern kann.

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